ALVA NOË DU BIST NICHT DEIN GEHIRN
DU BIST NICHT DEIN GEHIRN Eine radikale Philosophie des Bewusstseins Aus dem Amerikanischen von Christiane Wagler
Piper München Zürich
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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Out of Our Heads« bei Hill and Wang/Farrar, Straus and Giroux, New York.
ISBN 978-3-492-05349-5
2. Auflage 2010 © Piper Verlag GmbH, München 2010 Redaktion: Constanze Huther Satz: psb, Berlin Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Printed in Scan & OCR von Shiva2012
In Memoriam Susan L. Hurley
Nicht länger mehr schrieb oder las ich dies Buch, welches mein Selbst ist ... Delmore Schwartz
INHALT
Vorwort
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1 Eine erstaunliche Hypothese
17
2 Bewusste Wesen
41
3 Die Dynamik des Bewusstseins
65
4 Weiter Geist
86
5 Gewohnheiten
118
6 Die grandiose Illusion
152
7 Entdeckungsreisen
172
8 Ein Nichts, das für alles reserviert ist
195
Epilog: Wir sind zu Hause
207
Dank
211
Anmerkungen
213
Sach- und Personen
234
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VORWORT
Wir leben in einer Zeit der zunehmenden Begeisterung für das Gehirn. Nur der Entschlüsselung der Gene bringt man das gleiche positive Interesse wie neurowissenschaftlichen Themen entgegen. Wahrnehmung, Gedächtnis, unsere Vorlieben und Abneigungen, Intelligenz, Moral, was immer es auch sei - das Gehirn soll das Organ sein, das für all dies verantwortlich zeichnet. Gemeinhin glaubt man, dass sich sogar das Bewusst sein, dieser Heilige Gral der Wissenschaft und Philosophie, bald mithilfe der Hirnaktivitäten erklären lassen wird. Im Zeitalter kostspieliger und beeindruckender neuer bildgeben der Verfahren (wie der Magnetresonanztomografie und der Positronenemissionstomografie) vergeht kaum ein Tag, ohne dass die Wissenschaftsseiten der führenden Zeitungen und Zeitschriften über bahnbrechende Erkenntnisse und neue Entdeckungen berichten. Nach Jahrzehnten der vereinten Anstrengung von Neuro wissenschaftlern, Psychologen und Philosophen bleibt zur Frage, wie das Gehirn uns Bewusstsein verleiht, wie es Emp findungen, Gefühle und Subjektivität entstehen lässt, aber nur eines weiterhin gewiss : Wir haben keine Ahnung. Selbst enthusiastische Befürworter einer neuen neurowissenschaft -lichen Erforschung des Bewusstseins räumen ein, dass derzeit niemand eine plausible Erklärung dafür hat, wie die Erfah rung - etwa unser Rotempfinden beim Sehen von Rot - durch die Vorgänge im Gehirn hervorgerufen wird. Ungeachtet aller Technik und Tierversuche sind wir dem Verständnis der neu ronalen Basis der Erfahrung in den letzten hundert Jahren nicht nähergekommen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben
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wir nicht einmal eine ungefähre Vorstellung davon, was das Verhalten einzelner Zellen zum Bewusstsein beiträgt. Das ist an und für sich noch keine Schande. Eine Schande wäre es aller dings, wenn durch den Medienrummel verschleiert würde, dass wir im Dunkeln tappen. Manche vertreten die Auffassung, dass die neurowissen -schaftliche Erforschung des Bewusstseins noch in den Kinder schuhen steckt. Aber das ist nicht ganz richtig, denn damit wird suggeriert, dass sich der Fortschritt von allein einstellen wird und einfach nur eine Frage der Zeit sowie eines nor malen Reifungsprozesses ist. Eine besser geeignete Metapher könnte die eines unerfahrenen Wanderers sein, der nicht ge nau weiß, wo er sich befindet: Er hat sich verlaufen und ist sich dessen nicht einmal bewusst! Ich habe dieses Buch ge schrieben, um zu erklären, wo wir stehen, und damit es uns den Weg nach vorn weist. Unser Problem besteht in gewisser Hinsicht darin, dass das Be wusstsein nicht dort war, wo wir nach ihm gesucht haben, und wir es nun dort suchen müssen, wo es ist. Das Bewusstsein ist nämlich nicht etwas, das in uns geschieht, sondern etwas, das wir schaffen. Oder besser gesagt: Es ist etwas, das wir leis ten. Das Bewusstsein gleicht eher dem Tanzen als der Ver dauung. Davon soll Sie dieses Buch überzeugen. Es soll auch zeigen, dass eine wirklich biologische Sicht auf den Geist und die menschliche Natur uns genau dies lehrt. Die Vorstellung, dass eine naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins geistige Vorgänge mit Ereignissen im Nervensystem gleich -setzen muss, ist Teil eines überholten Reduktionismus. Sie ist vergleichbar mit der Auffassung, dass Depressionen eine Hirn erkrankung sind. Einerseits stimmt das natürlich. Es gibt neu -ronale Merkmale der Depression. Und eine direkte Einwirkung auf das Gehirn durch Medikamente kann eine Depression beeinflussen. Aber andererseits stimmt es ganz offensichtlich auch wieder nicht. Es ist schlichtweg unmöglich, allein auf 12
neuronaler Ebene zu verstehen, warum Menschen von Depres sionen befallen werden oder warum ein Mensch hier und jetzt an einer Depression leidet. Depressionen überkommen Menschen mit einer realen Vergangenheit und in realen Le bensumständen, und das nicht nur vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Geschichte, sondern auch vor dem Hintergrund der phylogenetischen Geschichte ihrer Spezies. Das Dogma, dass es sich bei einer Depression um eine Erkrankung des Ge hirns handelt, dient zweifelsohne den Interessen der Pharma industrie; natürlich nimmt es der Depression auch ein wenig von ihrem Stigma, was an sich eine gute Sache ist. Aber trotz dem ist es ein falsches Dogma. Um das Bewusstsein besser zu verstehen, müssen wir Ab stand nehmen von dem nach innen gerichteten, neuronalen Mikrofokus (wie Susan Hurley und ich es einmal formuliert haben). Das Bewusstsein ist in den dynamischen Lebensprozes sen des gesamten, in eine Umwelt eingebetteten Lebewesens angesiedelt. Und nur wenn wir diese ganzheitliche Sicht auf die Lebensaktivitäten eines Menschen oder Tieres einnehmen, können wir allmählich verstehen, was das Gehirn zu unserem bewussten Erleben beiträgt. Dies ist ein positives Buch. Die menschliche Erfahrung ist ein Tanz, der sich in der Welt und mit anderen entfaltet. Wir sind nicht unser Gehirn. Wir sind nicht im Gefängnis unserer Vorstellungen und Empfindungen gefangen. Das Phänomen des Bewusstseins ist ebenso wie das des Lebens ein mit der Welt verwobener, dynamischer Prozess. Wir sind zu Hause in der Welt, die uns umgibt. Wir stecken nicht in unserem Kopf. Ich habe dieses Buch für eine bestimmte Leserschaft geschrie ben. Vermutlich sind meine Leser naturwissenschaftlich inte ressiert und fasziniert von der Frage nach dem Geist, dem Be wusstsein und der Herausforderung, diese Phänomene zu verstehen und zu erklären. Ich hoffe, dass sich Kognitionswis senschaftler und Philosophen, die sich mit der Bewusstseins thematik beschäftigen, diesem Buch zuwenden und meiner 13
Argumentation Beachtung schenken. Aber an sie richtet sich dieses Buch nicht. Mein Untersuchungsgegenstand ist das, worauf Neurowissenschaft und Psychologie aufbauen; das, was Philosophen die »Grundlagen der Kognitionswissenschaft« nennen. Ich möchte, dass wir die Ausgangsthesen, die die Na turwissenschaft als gegeben annimmt, noch einmal neu über denken. Deshalb habe ich versucht, in diesem Buch den Fach jargon, den Sprach- und Argumentationsstil zu vermeiden, den man nur versteht, wenn man bereits zum Club der Kogni tionswissenschaftler gehört. Ich habe an sich nichts gegen Fachwissen und Fachsprache. Wissenschaft und Philosophie kann man sich wie Unterhal tungen vorstellen, die schon sehr lange andauern. Natürlich wird es für einen Außenstehenden schwierig sein, sich mit an den Tisch zu setzen und dem Gespräch gleich folgen zu kön nen. Und warum sollten Wissenschaftler jeden Tag von vorn anfangen - nur damit auch Laien noch verstehen, worum es geht? Es sieht jedoch ganz anders aus, wenn die Unterhaltung, nun ja, festgefahren ist. Und meiner Ansicht nach trifft dies auf die gegenwärtige Kognitionswissenschaft zu. Eine kleine Unterbrechung täte der Wissenschaft des Geistes gut. Wir sollten zusammenrücken und intelligente Nachzügler in un seren Kreis einladen. In der Kognitionswissenschaft stehen Fachsprache und technische Feinheiten dem klaren, aufrech ten Denken zu oft im Weg. Daher ist dieses Buch in gewissem Sinne wohl auch poli tisch. Ich schreibe dieses Buch, um die Welt zu verändern. Zu mindest möchte ich die etablierte Kognitionswissenschaft wachrütteln. Ich bin mir bewusst, dass ich mir damit ein hohes Ziel gesteckt habe und dass schon der bloße Versuch unter Umständen anmaßend wirken wird. Mein Buch ist auch aus einem anderen Grund politisch. Ein Bruch zieht sich durch das amerikanische wie das euro päische Geistesleben. Geisteswissenschaftler - und damit mei ne ich nicht nur Universitätsprofessoren, sondern vielmehr 14
jeden, dessen erste Liebe der Literatur und Kunst gilt - haben ein gespaltenes Verhältnis zur Naturwissenschaft. Für viele Geisteswissenschaftler ist die Naturwissenschaft eine andere Welt. Einige von ihnen nehmen naturwissenschaftliche Er kenntnisse kritiklos und gleichgültig hin. Andere verabscheuen die Naturwissenschaft: Sie kann uns, so glauben manche, nichts über die Dinge sagen, auf die es wirklich ankommt also Wahrheit, Schönheit, Kunst, Bedeutung, Erfahrung. Die Naturwissenschaftler haben ihrerseits ein nicht weniger pro blematisches Verhältnis zu den Künsten und Geisteswissen schaften. Viele von ihnen begegnen der Forschung außer halb der Naturwissenschaften mit Geringschätzung. Und diejenigen unter ihnen, die sich selbst für Kunst und Litera tur interessieren, fühlen sich häufig bemüßigt, eine plausible Erklärung für diese Phänomene zu liefern - indem sie bei spielsweise die neuronale Basis untersuchen, auf der die äs thetische Erfahrung beruht. (Dieser Konflikt nimmt merk würdige und beunruhigende Formen an, wenn die Religion ins Spiel kommt. Auf der einen Seite vertreten einige Reli gionswissenschaftler die Auffassung, dass die Religion über jegliche Kritik seitens der Naturwissenschaft erhaben ist, wo hingegen andere religiöse Doktrinen so verkünden, als wären es Naturgesetze. Auf der anderen Seite verhalten sich die Na turwissenschaftler oder zumindest die Vertreter einer natur wissenschaftlichen Weltanschauung so, als lägen gläubige Menschen schlicht falsch - als hätten sie nicht bemerkt, dass es für ihre Glaubensmaximen keine empirische Grundlage gibt.) In diesem Buch versuche ich mit gutem Beispiel voran zugehen und zu zeigen, dass naturwissenschaftliche und geis teswissenschaftliche Denkansätze sich gegenseitig befruchten sollten. Die Physik wurde früher als Naturphilosophie bezeich net (etwa bei Newton). In Deutschland nennt man das Stu dium der Literatur Literaturwissenschaft. Die Vorstellung, dass Naturwissenschaft und Philosophie (oder allgemeiner, die Geisteswissenschaften) getrennte Sphären mit eigenen Nor 15
men und Kriterien sind, ist für sich genommen eine etwas fragwürdige Ideologie, ein Relikt des Enthusiasmus aus einem früheren Abschnitt der Moderne. Die Naturwissenschaft steht nicht für sich, sie ist nicht wertneutral und nicht losgelöst von umfassenderen menschlichen Belangen. Ebenso wenig ist die Philosophie eine bloße Rangelei der Meinungen. Philoso phie und Naturwissenschaft haben ein gemeinsames Ziel: zu verstehen. Und Naturwissenschaft und Philosophie müssen auf dem Weg zu diesem Verstehen Zusammenarbeiten. Das gilt umso mehr, als es sich bei unserem Untersuchungsgegen stand um das Bewusstsein, oder grundlegender, um unsere Natur handelt. Die derzeitige Erforschung des Bewusstseins, oder zumindest die Art, wie sie zu großen Teilen geschieht, ruht auf einem wackligen philosophischen Fundament. Das führt zu einem entfremdeten, verzerrten Verständnis mensch lichen Lebens - und zu schlechter Naturwissenschaft. In diesem Buch argumentiere ich, dass die Wissenschaft des Geistes - wie auch die Biologie insgesamt - dem Lebewesen in seiner Gesamtheit einen besonderen Stellenwert zugestehen muss. Ich überlasse dem Leser die Einschätzung, ob ich damit Erfolg habe. Eine Bemerkung zum Textaufbau: Auf Fußnoten oder Quellenangaben im Text habe ich verzichtet. Stattdessen fin den sich Quellenangaben und Anmerkungen am Ende des Bu ches. Jedes Kapitel beginnt mit einem kurzen Abschnitt, der das Ziel und das Thema des Kapitels umreißt, und endet mit einer kurzen Zusammenfassung.
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1 EINE ERSTAUNLICHE HYPOTHESE Der menschliche Körper ist das beste Bild der mensch lichen Seele.
Ludwig Wittgenstein
Die derzeitige neurowissenschaftliche Erforschung des Be wusstseins steht auf einem nicht hinterfragten, aber höchst fragwürdigen Fundament. Die menschliche Natur ist heute nicht weniger geheimnisvoll als noch vor einhundert Jahren. Wenn wir unsere Natur verstehen wollen, müssen wir mit einem völlig neuen Ansatz an sie herangehen. In diesem ersten Kapitel werde ich verdeutlichen, vor welcher Herausforderung wir stehen.
Bewusstsein ist wie Geld Überlegen Sie sich einmal Folgendes: Wir können an die Exis tenz eines Bewusstseins glauben - also an die Tatsache, dass wir fühlen, denken und die Welt sich uns zeigt -, ohne des halb anzunehmen, dass es einen Ort oder einen Zeitpunkt gibt, an dem oder zu dem sich das Bewusstsein ereignet oder in unserem Inneren entsteht. Nehmen wir als Vergleich dazu einmal dieses Stück Papier in meiner Hand. Für sich betrachtet, gibt es nichts, was diesen Schein zu einer Dollarnote macht. Es wäre absurd, nach den physischen oder molekularen Korre laten seines Geldwertes zu suchen. Schließlich steckt der Geldwert nicht im Papier, sondern richtet sich nach bestimm ten Praktiken, Konventionen und Institutionen. Die Mark stücke, Francs, Peseten oder Lire in unserem Geldbeutel ha17
ben sich physisch nicht verändert, als sie von einem Tag auf den anderen kein gesetzliches Zahlungsmittel mehr waren. Die Währungsumstellung war ganz und gar real, aber das Geld an sich hat sich physisch nicht verändert. Vielleicht ist Bewusstsein wie Geld. Das könnte man sich so vorstellen: Mein derzeitiger Bewusstseinszustand hängt mit all seinen Besonderheiten für mich nicht nur von den Vorgängen in meinem Gehirn, sondern auch von meiner Ver gangenheit sowie meiner derzeitigen Stellung in und meiner Interaktion mit einem breiteren Umfeld ab. Es ist bemerkens wert, dass die Mehrzahl der Wissenschaftler, die sich mit dem Bewusstsein auseinandersetzen, diese theoretische Möglich keit vollkommen übersehen. In der Regel nehmen sie an, dass sich das Bewusstsein, unabhängig davon, wie man es letztend lich erklärt, an einem bestimmten Ort und zu einem be stimmten Zeitpunkt im menschlichen Gehirn ereignet, so wie eben die Verdauung im Magen stattfindet. Der heutigen Standardauffassung zufolge wird unser Be wusstsein - also die Tatsache, dass wir denken, fühlen und eine Welt sich uns zeigt - durch die Vorgänge in unserem Ge hirn hervorgerufen. Das Gehirn erzeugt Abbilder von der Um welt und verarbeitet diese anschließend in einem Prozess, den man Denken nennt. Es rechnet, zieht Schlüsse und pro duziert schließlich neuronale Befehle, die uns handeln las sen. Im Grunde genommen sind wir unser Gehirn, und unser Körper ist bestenfalls ein roboterartiges Werkzeug, dessen sich das Gehirn bedient. Das Gehirn ist alleiniger Urheber einer grandiosen Illusion, nämlich der, dass wir eine detail reiche und bedeutungstragende Welt bewohnen und dass wir die Geschöpfe sind, für die wir uns halten. Was also sind wir? In Wirklichkeit sind wir Gehirne im Tank, die an einem Lebenserhaltungssystem hängen. Unser Schädel ist der Tank und unser Körper das Lebenserhaltungssystem, das uns in Gang hält. So oder so ähnlich will es uns die Mehrzahl der Neuro wissenschaftler und Science-Fiction-Autoren jedenfalls weis 18
machen. Ist mein Körper ein Roboter, der von meinem Gehirn bewohnt wird? Ist die Welt eine grandiose Illusion? Ist das wirklich eine plausible Vorstellung von unserem Selbst?
Sind wir unser Gehirn? Die neurowissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins geht häufig davon aus, dass das Bewusstsein ein, nun ja, neurowis senschaftliches Phänomen ist, das sich in unserem Inneren, und zwar im Gehirn, manifestiert. Nun beruhen alle wissenschaftlichen Theorien auf Annah men - aber es ist wichtig, dass diese auch wahr sind. In die sem Buch werde ich versuchen. Sie davon zu überzeugen, dass diese Grundthese der Bewusstseinsforschung gänzlich ver fehlt ist. Das Bewusstsein entsteht nicht im Gehirn. Und da ran liegt es auch, dass bis jetzt niemand eine überzeugende Erklärung seiner neuronalen Grundlagen liefern konnte. In seinem Buch An Astonishing Hypothesis (dt.: Was die Seele wirklich ist) erklärt Francis Crick, Nobelpreisträger und einer der Entdecker der Struktur des DNA-Moleküls, dass »Sie, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre Identität und [Ihre] Willensfreiheit... in Wirklichkeit nur... das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nerven zellen und dazugehörigen Molekülen [sind)«. Schwungvoll fährt er fort: »Diese Hypothese ist so weit von den Vorstellun gen der meisten Menschen entfernt, dass man sie wahrlich als erstaunlich bezeichnen kann.« Das Erstaunlichste an Cricks Hypothese ist jedoch, dass sie ganz und gar nicht erstaunlich ist. Die Erklärung, dass es in uns etwas gibt, das denkt, fühlt, will und entscheidet, kommt nicht sonderlich überraschend. Diese Auffassung vertrat der Philosoph René Descartes bereits im siebzehnten Jahrhundert. Er ging davon aus, dass jeder von uns mit einem inneren Etwas identisch ist, dessen Essenz das Bewusstsein ist; jeder von uns ist im Grunde genommen eine innere res cogitans, ein denken 19
des Ding. Und diese Doktrin wird auch von vielen Religionen verkündet. Natürlich lehrten die Religionen und Descartes uns nicht, dieses Ding in unserem Inneren, das da denkt und fühlt, sei Teil unseres Körpers, ein Stück Fleisch wie das Ge hirn. Sie hielten es vielmehr für etwas Immaterielles oder Spi rituelles und daher gewissermaßen für etwas Unnatürliches. Wie könnte reine Materie, wie könnte bloßes Fleisch die Macht haben, zu denken und zu fühlen? Das wäre vollkom men unvorstellbar. Und genau hier und nur hier bricht die moderne Neurowissenschaft tatsächlich mit der Tradition. So schreibt die bekannte Neurophilosophin Patricia Churchland: »Unzählige Beweise lassen heute darauf schließen, dass es das Gehirn ist, das fühlt, denkt und entscheidet, und nicht irgend ein nichtphysikalischer Stoff.« Wir dürfen aber nicht außer Acht lassen, dass die Neuro wissenschaftler, indem sie die traditionelle Sicht auf uns Menschen auf diese Weise neu definieren, eigentlich nur ein Rätsel durch ein anderes ersetzen. Zum gegenwärtigen Zeit punkt können wir ebenso wenig erklären, wie »eine riesige Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Mole külen« ein Bewusstsein entstehen lässt, wie wir erklären kön nen, wie übernatürliches Seelenzeugs dieses Kunststück voll bracht haben soll. Also ist die Theorie, der zufolge wir unser Gehirn sind, keine plausible Hypothese, sondern eher ein Lückenbüßer in Ermangelung einer solchen. Neurowissenschaftlichen Bewusstseinsforschern gefällt die Vorstellung, dass sie die Philosophie überwunden, ihr den Rücken gekehrt und sich auf den Pfad der Wissenschaft be geben haben. Crick formuliert es so: »Wir müssen keine Zeit mehr darauf verschwenden (...), die zermürbenden Dispute von Philosophen zu ertragen, die sich ständig widersprechen. Das Bewusstsein ist nun größtenteils ein naturwissenschaft liches Problem.« Dass das Bewusstsein heute ein Problem für die Naturwis senschaften ist, hat Crick völlig richtig erkannt. Aber das be deutet nicht, dass sich die Philosophie nicht mehr damit be 20
schäftigt. Zum einen unterscheidet sich das Anliegen der Philosophie nicht von dem der Wissenschaft: Es geht darum, wichtige Menschheitsprobleme zu verstehen. Aber das ist nur der Anfang - es wäre ein Irrtum zu glauben, die moderne neurowissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins hätte mit der Philosophie gebrochen oder diese gar überwunden. Wie wir gerade festgestellt haben, sind Crick und andere Neurowissenschaftler einfach derart von einer bestimmten philosophischen Denkrichtung eingenommen, dass ihnen nicht einmal mehr auffällt, wie sehr sie auf ihre Richtigkeit vertrauen. Doch dieses Vertrauen wird immer wieder offen bar. Sein versteckter Einfluss zeigt sich beispielsweise in der scheinbar unumstößlichen Vorstellung vom Bewusstsein als einer Art »Magensaft«, der Vorstellung also, dass Bewusstseins vorgänge im Kopf ablaufen, so wie die Verdauung im Magen stattfindet. Wie ich bereits dargelegt habe, können wir nicht einmal mit gutem Willen behaupten, dass die moderne neuro wissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins noch in den Kinderschuhen steckt. Ihr Entwicklungsstadium gleicht eher dem eines Teenagers. Denn wie ein Teenager ist die Neurowissenschaft fasziniert von der Technik, neigt zur Selbstüber schätzung und vergisst darüber völlig die Geschichte dieses Forschungsgegenstandes, der doch so neu und aufregend er scheint.
Eine wirklich erstaunliche Hypothese Wirklich erstaunlich wäre die Erkenntnis, dass wir nicht unser Gehirn sind. Noch verblüffender wäre die Information, dass das Gehirn nicht das Ding in unserem Inneren ist, das für das Bewusstsein verantwortlich ist - ja, dass es in unserem Inne ren eigentlich gar nichts gibt, was diesen Zweck erfüllt. Damit würde sich heraussteilen, dass sich die moderne Neurowissenschaft in den Fängen einer fälschen Dichotomie befindet: Als wäre die einzige Alternative zu der Vorstellung, dass dieses 21
denkende und fühlende Ding in unserem Inneren immate riell und übernatürlich ist, die Vorstellung, dass es Teil unse res Körpers ist. Erstaunlich wäre die Erkenntnis, dass wir uns das Bewusstsein ganz falsch vorgestellt haben - als etwas, das wie die Verdauung in unserem Inneren vor sich geht. Stattdessen sollten wir es als etwas sehen, was wir tun, als etwas, das wir aktiv betreiben. In diesem Buch stelle ich die folgende, wirklich erstaun liche Hypothese auf: Damit wir das Bewusstsein von Mensch und Tier verstehen können, dürfen wir den Blick nicht in die stillen Winkel unseres Inneren richten, sondern müssen un tersuchen, wie jeder Einzelne von uns als ganzheitliches Lebe wesen das Leben in der Welt, mit der Welt und als Reaktion auf die ihn umgebende Welt lebt. Das erlebende Subjekt ist nicht ein Stück Fleisch unseres Körpers. Wir sind nicht unser Gehirn. Das Gehirn ist vielmehr ein Teil dessen, was uns aus macht.
Begriffsklärung und Neuformulierung der These Mit dem Begriff »Bewusstsein« meine ich in diesem Buch, ganz allgemein gesagt, »Erfahrung«. Und Erfahrung umfasst für mich im weiteren Sinne Denken, Fühlen und die Tatsache, dass sich uns die Welt in der Wahrnehmung zeigt. Viele Auto ren haben versucht, diese Begriffe enger einzugrenzen. Zwei felsohne gibt es wichtige Unterscheidungen, die man treffen kann und für bestimmte Zwecke wohl auch treffen sollte. Häu fig unterscheidet man etwa zwischen dem Denken oder der Kognition auf der einen Seite sowie dem Empfinden und dem Gefühl, beziehungsweise der phänomenalen Erfahrung, auf der anderen Seite. So wird dem Planen einer Handlung bei spielsweise die Erfahrung, Lakritze zu schmecken, gegenüber gestellt. Diese Unterscheidung trifft man üblicherweise des halb, weil man glaubt, dass das Denken sich leichter als die Beschaffenheit unserer bewussten Episoden erklären lässt. So 22
gehen viele Theoretiker davon aus, dass das Denken eine Art Rechenvorgang ist und sich die Denkprozesse des Gehirns am besten erklären lassen, indem man es mit einem Computer vergleicht. Wie ich im siebenten Kapitel darlegen werde, kön nen Computer ganz sicher nicht denken; ja, ich gehe dort so gar noch einen Schritt weiter und argumentiere, dass auch Gehirne nicht denken können, und zwar aus dem gleichen Grund wie Computer. Denn ich behaupte, dass sinnvolle Ge danken nur da entstehen, wo das ganzheitliche Lebewesen dynamisch mit seiner Umwelt interagiert. Und das Gleiche gilt auch für die Beschaffenheit unserer bewussten Episoden. Das Lakritzeschmecken iert nicht im Gehirn, obwohl wir die Lakritze zum Essen natürlich in den Mund schieben. Bewusstseinszustände sind normalerweise Zustände, die ich beschreiben kann, die mein Handeln beeinflussen; und daher sind sie Zustände, die ich in mein Planen einbeziehen kann. So bestimmt die Tatsache, dass ich den Geschmack von Lakritze nicht mag, meine kognitiven Prozesse und mein Ver halten, unter anderem beim Einkäufen. Denken und Sprache können auf einen solchen Zustand zugreifen. Manche sagen, dass dieser Zustand eine bestimmte Art Bewusstsein beschreibt, die der Philosoph Ned Block als »Zugriffsbewusstsein« bezeich net. Doch meine zugriffsbewusste Einstellung gegenüber La kritze ist die eine Sache, das Erfahren von Lakritze eine andere. Letzteres ist nämlich ein Vorgang dessen, was Block »phäno menales Bewusstsein« nennt, und allem Anschein nach gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen der Frage, ob eine Episode phänomenal bewusst oder zugriffsbewusst ist. Mit der Frage, ob ein Vorgang phänomenal bewusst ist, fragen wir mit den Worten des Philosophen Thomas Nagel danach, ob es »irgendwie ist«, in diesem Zustand zu sein. Mit der Frage je doch, ob ein Vorgang zugriffsbewusst ist, fragen wir danach, ob dieser Zustand unser Sagen, Handeln, Wollen, Planen usw. beeinflusst. Und es gibt noch zahlreiche weitere Unterscheidungen. Be wusst zu sein heißt, wach, rege und aufmerksam zu sein, und 23
ist das Gegenteil von nicht bewusst zu sein, also zu schlafen oder bewusstlos zu sein. In der Alltagssprache ist das Selbst bewusstsein eine Art Selbstaufmerksamkeit, die dem ent gegensteht, wie andere einen wahrnehmen. ln der Philosophie und Kognitionswissenschaft bedeutet Selbstbewusstsein etwas anderes. Selbstbewusstsein ist dort die Eigenschaft der Erfah rung, durch die Erfahrungen zu unseren werden. Erfahrung hat eine »Kleinigkeit«, die sie unverwechselbar zu unsriger macht; das behaupten zumindest einige Philosophen. Von Freud stammt die berühmte Hypothese, dass unbewusste Be gierden und Wünsche eine wichtige Rolle bei der Erklärung der menschlichen Psyche spielen. Unterscheidungen sind je nach Anliegen mehr oder weni ger sinnvoll. Für mein Vorhaben spielen sie keine besondere Rolle. Falls das doch einmal der Fall sein sollte, werde ich mich so präzise wie möglich ausdrücken. Das Problem des Be wusstseins verstehe ich hier als die Frage nach unserer Natur als Lebewesen, die denken, fühlen und denen sich die Welt zeigt. Eine weitere Begriffsklärung erfordern die Worte »Geist« und »Gehirn«. Letzteres bezieht sich auf ein im Kopf befind liches Körperteil, welches in ein größeres Ganzes eingebunden ist, nämlich in das Nervensystem. Gemeinhin wird angenom men, dass dem Gehirn und Nervensystem bei der Erklärung unserer geistigen Fähigkeiten - also dem Denken, dem Ge dächtnis, der Wahrnehmung, der Emotion usw. - eine beson dere Stellung zukommt. Ja, manche Wissenschaftler und Phi losophen sind sogar der Ansicht, dass der Geist das Gehirn ist. Aber trotzdem behauptet niemand, dass unser Begriff vom Gehirn und unser Begriff vom Geist identisch sind. Einen Geist zu haben bedeutet für mich, ein Bewusstsein zu haben, also erleben, denken, fühlen und planen zu können. Ein Ge hirn zu haben bedeutet hingegen, ein bestimmtes Körper organ zu besitzen. In der Alltagssprache werden diese Begriffe häufig durcheinandergebracht, also müssen wir sorgfältig mit ihnen umgehen. Wenn jemand intelligent ist, heißt es bei spielsweise, dass er etwas im Hirn hat. 24
Die Grundthese meines Buches ist, dass wir zur Erklärung des Bewusstseins - also der Tatsache, dass wir denken, fühlen und sich uns eine Welt zeigt - ein größeres System unter suchen müssen, von dem das Gehirn lediglich ein Teil ist. Das Bewusstsein ist nicht etwas, das unser Gehirn allein hervor bringt, sondern es erfordert die Zusammenarbeit von Gehirn, Körper und Welt. Es wird von einem ganzheitlichen Lebe wesen im Kontext seiner Umwelt hervorgebracht. Kurzum, ich streite ab, dass wir unser Gehirn sind. Aber ich leugne nicht, dass wir ein Gehirn haben. Und ganz gewiss bezweifle ich nicht, dass wir einen Geist haben. Doch braucht es mehr als ein Gehirn, um einen Geist zu haben. Gehirne haben keinen Geist, Menschen (und Tiere) hingegen schon.
Der Mann mit zwei Gehirnen Ich war schon immer ein Fan von Carl Reiners fabelhafter Komödie Der Mann mit zwei Gehirnen. Steve Martin spielt darin die Hauptrolle, einen Hirnchirurgen namens Dr. Hfuhruhurr, der sich in ein für eine Transplantation vorgesehenes, körper loses Gehirn verliebt, genauer gesagt, in das seiner Traumfrau. Nun braucht er - nun braucht sie - nur noch einen Körper! Dr. Hfuhruhurr heckt einen niederträchtigen Plan aus, um an den Körper der schönen und anmutigen Dolores Benedict (ge spielt von Kathleen Turner) zu kommen. Leider weiß er nicht, dass das Selbst, dessen Gehirn er liebt, eine Essstörung hat. Nach überstandener Hirntransplantation wird Dolores des halb ungeheuer fett. (Er liebt sie aber trotzdem!) Das ist der Stoff, aus dem Science-Fiction gemacht ist, und natürlich ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Dass wir die Story trotzdem verständlich, ja sogar spannend finden, zeigt, dass die »erstaunliche Hypothese« des renommierten Neurowissenschaftlers heute zu einer gängigen Auffassung unseres Kulturkreises geworden ist. Wir glauben - oder zie hen diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung -, dass wir auf 25
eine ganz besondere Art auf unser Gehirn angewiesen sind, die sich sehr von der Art unterscheidet, wie wir beispielsweise auf unser Herz angewiesen sind. Man muss ein Herz haben, ja. Doch sind es das Gehirn und das unverkennbare Knacken, Knistern und Knallen der Nervenzellen, von denen unser Leben abhängt. Wir wohnen unserem Gehirn inne. Wir wer den zu dem, was wir sind - also zu Lebewesen, die fühlen, ar gumentieren, denken und sehen können -, durch das Gehirn in unserem Inneren. Ich frage noch einmal: Ist das eine plausible Vorstellung? Reiners Film wirft ein interessantes Licht auf diese Frage: Die Figur des Martin und sein angebetetes Gehirn im Keksglas müssen miteinander kommunizieren. Aber wie soll das vonstattengehen? Wie soll man beispielsweise verständlich ma chen, dass die liebliche Frauenstimme, die Martin hört und die der Zuschauer als Voice-over wahrnimmt, eigentlich die Stimme der Person des Gehirns im Keksglas ist? Beim Film bedient man sich normalerweise des Bauchrednereffektes. Uns scheint es, als käme eine Stimme aus einem Mund, weil wir sehen, wie der Mund sich synchron zu den Worten be wegt. Unser Sehen erfasst und bestimmt, was wir hören. Das ist sogar ein wichtiger Teil der normalen Sprachwahrnehmung. Nur leider hat ein sprechendes Gehirn keinen Mund. Wie sollen wir dann das Gehörte mit dem Gehirn in Zusam menhang bringen? Wie werden die Worte zu den Worten des Gehirns? Der Film wartet mit einer albernen, aber lustigen Lö sung auf. Das Gehirn leuchtet und pulsiert. Das Interessante, doch eben auch Alberne daran ist, dass hier gemogelt wird. Gehirne pulsieren oder ändern ihre Farbe nicht, und durch diesen Effekt gibt man dem Gehirn de facto einen Körper oder - wichtiger noch - ein Gesicht (was wir bei einem Gehirn ja nicht vermuten). Und vielleicht ist das nicht nur ein etwas un ausgegorener Filmtrick, sondern vielmehr eine begriffliche Notwendigkeit. Wir können uns kaum ein Bewusstsein ohne ein Gesicht dazu vorstellen. Deshalb fällt es tragischerweise sogar den Freunden und Angehörigen von Parkinsonpatien26
ten schwer, sich in die Menschen hinter den zu Masken er starrten Gesichtern einzufühlen. Und genau aus diesem Grund wickelt die von Steve Martin gespielte Figur in Der Mann mit zwei Gehirnen in einer Liebesszene einen Schal um den Boden des Keksglases, setzt einen Hut darauf und malt auf die Vor derseite knallrote Lippen. Wittgenstein schrieb, dass wir nur von einem lebenden Menschen und was ihm ähnlich sei und sich ähnlich benehme, sagen, es sehe, denke und fühle. Zu dumm nur, dass ein Gehirn nicht wie eine Person aussieht und sich auch nicht so benimmt.
Bewusstsein in der Petrischale? Wenn der neue Kanon in der Neurowissenschaft seine Berech tigung hat, dann müsste es zumindest grundsätzlich möglich sein, Bewusstsein in einer Petrischale zu erzeugen. Dazu wäre es lediglich notwendig, die Zellen miteinander zu verdrahten und entsprechend zu stimulieren. Meiner Ansicht nach ist die Annahme absurd, dass man be wusste Zellen in einer Laborschale züchten oder ein bewusstes Gehirn in einem Tank aufbewahren könnte. Wenn unsere Grundannahmen zum Bewusstsein uns zu solchen Schlüssen führen, ist es an der Zeit, diese noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Zunächst einmal könnten der Tank oder die Petrischale ja nicht aus einer einfachen Schale oder einem Eimer bestehen. Das haben Evan Thompson und Diego Cosmelli in einem Auf satz erörtert. Das Gefäß müsste Energie in Form einer Nähr lösung bereitstellen, um den Stoffwechsel der Zellen aufrechtzuerhalten, und es müsste in der Lage sein, Ausscheidungen abzutransportieren. Der Behälter müsste einen hochkompli zierten, spezialisierten Mechanismus haben, der die auf das Gehirn ausgeübten Reize derart steuert, dass sie den Reizen gleichen, die ein in einer Umwelt verorteter Körper normaler weise auf das Gehirn ausübt. Wenn wir dieses Gedanken27
experiment einmal bis zum Ende durchspielen - was Wissen schaftler und Philosophen, die von der Vorstellung eines Gehirns im Tank fasziniert sind, in der Regel nicht tun -, dann wird klar: Das Gefäß müsste letztendlich einem leben den Organismus ähneln. Damit scheint uns das Gedanken experiment aber etwas zu lehren, was wir schon wussten, nämlich dass wir nicht unsere Gehirne sind, sondern dass Le bewesen wie wir, nun ja, eben ein Bewusstsein haben können. Vermutlich ist es eine empirische Frage, wie viele Zellen für Bewusstseinsaktivitäten erforderlich sind. Soweit wir wissen, könnte es sich durchaus heraussteilen, dass ein Bewusstsein im Tank nur mit einem kompletten, entsprechend stimulier ten, gesunden Gehirn erzeugt werden kann. Aktuelle Ergeb nisse aus der Erforschung der neuronalen Basis des visuellen Bewusstseins lassen vermuten, dass für das visuelle Bewusst sein umfangreiche und beständige Wechselwirkungen zwi schen weit entfernt liegenden Hirnarealen notwendig sind. Nun stellt sich uns folgende Frage: Können wir im Vorgriff auf unser frankensteinsches Experiment denn wirklich davon ausgehen, dass ein komplettes Gehirn alles ist, was wir für die Erzeugung eines Bewusstseins in der Petrischale brauchen werden? Wenn wir uns schon nicht auf einzelne Hirnareale beschränken können, wie können wir uns dann sicher sein, dass es mit einem Gehirn getan ist? Vielleicht hängt das Be wusstsein ja auch von einer beständigen Wechselwirkung zwischen den Vorgängen im Gehirn und den Vorgängen in an deren Teilen des Körpers ab. Es könnte sich sogar heraussteilen, dass es von Wechselwirkungen zwischen Gehirn, Körper und Teilen der umgebenden Umwelt abhängt. Um in der Petri schale ein Bewusstsein zu erzeugen, brauchen wir also viel leicht nicht nur ein Gehirn und einen Körper darin, sondern auch eine brauchbare Reproduktion der Umwelt. Nun wird klar, worauf ich mit meiner Argumentation hi nauswill. Die Philosophen und Neurowissenschaftler haben mit ihren Träumereien von Gehirnen im Tank übersehen, dass sie mit ihren Phantasien zu einer doch eigentlich noch gänz28
lich unbeantworteten empirischen Frage Stellung beziehen, nämlich der nach den Mindestanforderungen für Bewusstsein in einer Petrischale.
Das Problem ernst nehmen Das sind schwierige Fragen, und sie sind nicht nur rein aka demisch. Sehen wir uns einmal den Fall einer 39-jährigen Bel gierin an, die nach einem Gehirnschlag ins Koma fiel. Laura Spinney berichtete am 15. April 2004 im Guardian: »Die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass sie wahrschein lich das Bewusstsein nicht wiedererlangen werde, und diagnostizierten ihren Zustand nach einer Weile als Wachkoma. Ihre Diagnose stützte sich unter anderem darauf, dass die Patientin nicht zwinkern oder einen sich bewegenden Gegenstand mit den Augen verfolgen konnte. Erst als man herausfand, dass ein durch den Schlaganfall beschädigter Hirnnerv die Patientin daran hinderte, die Augen zu öffnen, bemerkten die Ärzte ihren Irrtum. Wenn man der Patientin die Augenlider hochzog, folgte sie den Anweisungen der Ärzte. Bald nach dem Schlaganfall erlangte die Patientin das Be wusstsein wieder und berichtete, dass sie alle Auseinan dersetzungen an ihrem Bett, ob es sinnvoll sei, sie am Leben zu erhalten, mitverfolgt habe. Zu keinem Zeit punkt habe sie sterben wollen.« Die Fehldiagnose eines Wachkomas ist erschreckend, aber nachvollziehbar. Unter normalen Umständen ist es nicht schwierig herauszufinden, ob sich jemand unwohl fühlt oder Schmerzen hat, denn normalerweise spiegelt sich unser Be finden in unserem Gesichtsausdruck und unseren Bewegungen wider. Diese Regungen von Gesicht, Stimme und Körper sind nicht nur ein Zeichen für andere und Mittel einer effektiven 29
zwischenmenschlichen Kommunikation. Wir sind nicht erst froh und setzen dann andere mit einem Lächeln über unsere Freude in Kenntnis; ebenso wenig empfinden wir zuerst Schmerz und verziehen dann als Information für unsere Mit menschen das Gesicht. Wie William James als Erster feststellte, gehören das schmerzverzerrte Gesicht und das Lächeln zu un serem Bewusstseinszustand. Sie sind weniger ein Anzeichen dafür, was in unserem Inneren vor sich geht, als die Darstel lung unseres Zustandes. Sie sind dessen natürlicher Ausdruck. Und dafür gibt es wahrscheinlich gute, in der Evolution ver wurzelte Gründe. Die Angst eines Mitmenschen (oder Affen oder Schimpansen oder was auch immer) vor einem heran nahenden Angreifer ist für mich ebenso wichtig wie für ihn, und der Zusammenhalt einer Gruppe hängt gewiss davon ab, ob wir die Bewusstseinszustände der anderen deuten können. Doch sind die Umstände im Krankheitsfall eben nicht nor mal. Ganz offensichtlich können wir nicht davon ausgehen, dass sich ausschließlich aufgrund fehlender Verhaltensanzei chen eines Bewusstseins darauf schließen lässt, dass kein Be wusstsein vorhanden ist. Aber was bleibt uns anderes übrig, als die Äußerungen, die Handlungen und das Erscheinungs bild der Person zu beobachten? Die belgische Schlaganfall patientin hatte gleich doppeltes Glück. Zum einem entdeckte man, dass sie geistig noch aktiv war. Zum Zweiten genas sie schnell. Anderen Patienten, die schwer gelähmt waren und nicht mehr sprechen konnten, erging es nicht so gut. So ver brachte die 32-jährige Julia Tavalaro sechs Jahre in einem New Yorker Krankenhaus für chronisch Kranke. Dort schien sie nur dahinzuvegetieren, bis ein Angehöriger Anzeichen für ein Bewusstsein entdeckte. Eigentlich war sie jedoch die ganze Zeit über bei vollem Bewusstsein. Sie konnte sich einfach nur nicht mitteilen. Julia Tavalaro war sechs Jahre lang in einem reglosen Körper gefangen gewesen und nicht in der Lage, sich der Außenwelt mitzuteilen. Schließlich durfte sie wieder nach Hause und starb mit 68 Jahren. Dieser Zustand ist heute als Locked-in-Syndrom bekannt. Er wird durch eine meistens auf 30
einen Schlaganfall zurückzuführende Verletzung des Hirn stamms verursacht. Aufgrund der Anatomie des Hirnstamms sind Patienten mit einem »klassischen« Locked-in-Syndrom normalerweise dazu in der Lage, die Augen zu bewegen so wie mit komplexen Zwinkerbewegungen und verschiedenen Blicken zu kommunizieren. Einige dieser Patienten haben Bücher geschrieben. Ich habe ein Video eines Mannes mit Locked-in-Syndrom gesehen. Auf den ersten Aufnahmen blickt man in das teilnahms- und regungslose Gesicht eines Mannes, der reflexartig zu zwinkern scheint. Dann fährt die Kamera langsam zurück, und man bemerkt, dass der Mann eigentlich auf einen Computermonitor schaut. Durch das Zwinkern steuert er einen Cursor über den Bildschirm und verwaltet eine Online-Datenbank von Leidensgenossen in Frankreich! Doch es sind auch Fälle vom Locked-in-Syndrom mit voll ständiger Lähmung bekannt. Das Locked-in-Syndrom mit voll ständiger Lähmung ist, wie das häufiger anzutreffende Lockedin-Syndrom mit erhaltener Augenbeweglichkeit, sehr schwer zu diagnostizieren. Bezeichnenderweise kommen Familien mitglieder oder Pflegepersonen eher zu dieser Diagnose als Ärzte. Und leider können wir wohl mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass bis vor Kurzem alle Patienten mit Locked-inSyndrom fälschlicherweise als Wachkomapatienten eingestuft wurden. Man nahm an, dass sie kein Empfindungsvermögen mehr haben, und daher waren sie einem langsamen und qual vollen Hungertod ausgeliefert. Es gibt nur sehr wenige doku mentierte Fälle des Locked-in-Syndroms mit vollständiger Läh mung. Das ist an sich schon eine beängstigende Tatsache. Wir müssen nicht einmal auf extreme Hirnschädigungen wie das Locked-in-Syndrom verweisen, um die praktische Be deutung des hier beschriebenen Problems zu erkennen. Mein vierjähriger Sohn August musste wegen einer Leistenbruch operation ins Krankenhaus. Bevor mein Sohn in den OP ge bracht wurde, fragte ich den Anästhesisten, ob er mir ver sichern könne, dass August während der Operation keine Schmerzen leiden oder Unannehmlichkeiten haben werde. 31
Der Arzt antwortete, ich solle mir keine Sorgen machen. Er werde persönlich Augusts Herzfrequenz überwachen und das Gesicht meines Sohnes genau beobachten, ob es Anzeichen von Beschwerden gebe. Man versicherte mir, dass der Arzt auf en werde. Aber ich fragte mich natürlich trotzdem, ob das Fehlen dieser primitiven Verhaltensmerkmale und Kör persignale ein zuverlässiger Beweis dafür war, dass mein Sohn nicht mitbekam, was mit ihm geschah. Das Locked-in-Syndrom und die Narkose rufen uns deut lich in Erinnerung, dass sich Ärzte nicht nur auf die äußeren Verhaltensanzeichen eines geistigen Zustandes verlassen kön nen. Das Wachkoma erinnert uns wiederum an das Gegenteil. Von einem Wachkomapatienten glaubt man, dass er wach, doch ohne Bewusstsein ist. Und trotzdem geschieht es nicht selten, dass diese Patienten auf Geräusche reagieren, sich auf setzen, die Augen bewegen, aufschreien, das Gesicht verzie hen, lachen, lächeln oder weinen. Stellen Sie sich einmal vor, dass es einer Ihrer Lieben ist, der dort liegt, der aufschreckt, wenn er eine Tür schlagen hört, wild die Augen rollt, schein bar vor Wut schreit oder augenscheinlich behaglich schnurrt. Was würde Sie dann davon überzeugen, dass Ihr Angehöriger nichts fühlt, weggetreten, ein Wachkomapatient ist? Im Fall eines Locked-in-Syndroms fallt es uns schwer zu glauben, dass hinter dem maskenhaften Gesicht ein lebendiger Verstand am Werk ist. Bei einem Wachkomapatienten hingegen kön nen wir uns kaum vorstellen, dass hinter diesem ausdrucks starken Gesicht kein Gefühl und keine Subjektivität stehen.
Ein Blick in den Kopf Nun wenden wir uns vielleicht hirntomografischen Unter suchungen zu, in der Hoffnung, damit in ein lebendes Gehirn schauen zu können und herauszufinden, was darin vor sich geht. Die Tatsache, dass die bildgebende Diagnostik - also die Positronenemissionstomografie (PET), die funktionelle Magnet 32
resonanztomografie (fMRT) sowie die Elektroenzephalografie (EEG) - bei Patienten mit Locked-in-Syndrom in der Regel eine normale kortikale Aktivität zeigt, kann als Bestätigung dafür gesehen werden, dass Patienten mit dieser Krankheit im Be sitz ihrer mentalen Fähigkeiten sind. Bei Patienten im Wach koma ist der Fall schon schwieriger. Hier werden wir weniger mit direkten Beweisen für ein fehlendes Bewusstsein konfron tiert, sondern vielmehr mit Befunden, die keine normale Hirnaktivität zeigen. Doch lässt sich auf dieser Grundlage eine Entscheidung treffen, ob Wachkomapatienten empfindungs fähig sind oder nicht? Würde die bei einer tomografischen Untersuchung festgestellte reine Abwesenheit von Anzeichen normaler Hirnaktivität Sie schon davon überzeugen, dass einer Ihrer Lieben nur noch dahinvegetiert? Eigentlich liegen die Dinge noch viel komplizierter. Patien ten im Wachkoma zeigen zwar eine deutlich verringerte glo bale Stoffwechselaktivität im Gehirn, doch trifft das auch auf Menschen im Slow-Wave-Schlaf und unter Vollnarkose zu. Aber Schlafende und operierte Patienten wachen auf und er langen ihr normales Bewusstsein wieder, was bei Patienten im Wachkoma selten der Fall ist. Bemerkenswerterweise hat man bei den wenigen Patienten, die aus dem Koma erwach ten, das Bewusstsein wiedererlangten und hirntomografisch untersucht wurden, auch nach vollständiger Genesung eine verringerte globale Stoffwechselaktivität im Gehirn festgestellt. Außerdem nahm die durch äußere Reize wie Geräusche oder Nadelstiche hervorgerufene neuronale Aktivität in den pri mären sensorischen Kortizes deutlich zu. Interessante neue Forschungsergebnisse von Steven Laureys und seinen Kolle gen in Belgien belegen, dass bei Komapatienten die funktio nalen Verbindungen zwischen entfernten Kortexarealen und zwischen Kortex- und Subkortexarealen auffallend stark be einträchtigt sind. Diese Studien zeigen auch, dass in Fällen, in denen der Patient das Bewusstsein wiedererlangt, die funktio nalen Verbindungen zwischen den verschiedenen Hirnarea len wieder aufgebaut werden, selbst wenn die Stoffwechsel 33
aktivität im Gehirn verringert bleibt. Diese Erkenntnisse sind wichtig und ermöglichen es, die Vorgänge im Gehirn eines Wachkomapatienten besser zu verstehen. Doch sind wir trotzdem weit davon entfernt, mit bild gebenden Verfahren in den Kopf schauen und herausfinden zu können, ob dort das Bewusstsein angesiedelt ist oder nicht. Stellen wir uns einmal folgende einfache Fragen: Nimmt ein Patient im Wachkoma physischen Schmerz wahr, spürt er bei spielsweise Durst, Hunger oder Nadelstiche? Hört er, wenn eine Tür zugeschlagen wird? Wir wissen, dass der Patient als Reak tion auf derartige Geräusche den Kopf dreht und die Hand vor den Nadelstichen zurückzieht. Ebenfalls bekannt ist, dass durch solche Reize eine merkliche neuronale Aktivität in den primären sensorischen Kortizes hervorgerufen wird. Ist ein Patient im Wachkoma ein Roboter, der reflexartig auf Reize reagiert, ohne dabei eigentlich etwas zu fühlen? Und, ent scheidender noch, können diese Fragen je durch hirntomografische Untersuchungen geklärt werden? Wir wissen die Antwort nicht. Beunruhigenderweise gibt es zum heutigen Zeitpunkt keine theoretisch befriedigenden oder praktisch verlässlichen Kriterien, anhand deren sich he rausfinden ließe, ob ein Patient mit einer Hirnverletzung bei Bewusstsein ist oder nicht. Momentan müssen Ärzte und Ver wandte ohne gesicherte wissenschaftliche oder medizinische Erkenntnisse mit diesem Problem fertig werden. Die Medien stellten den viel diskutierten Fall Terri Schiavo als Kampf dar zwischen einer mit den nackten Tatsachen über Schiavos Hirntrauma bewaffneten Wissenschaft und der Familie, die von der Liebe zu ihrer Tochter ebenso wie von religiösem Fundamentalismus geblendet schien. Aber leider hat die Wissen schaft keinen Zugang zu den nackten Tatsachen.
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Die neue Phrenologie? Der wichtigste Grund, weshalb man an der Überzeugung vom Gehirn als Grundlage des Bewusstseins so nachdrücklich fest hält, ist zweifellos der technische Fortschritt auf dem Gebiet der Hirntomografie in den letzten Jahren. Noch bis vor Kur zem war eine Autopsie praktisch der einzige Weg, die Gehirne von Menschen zu untersuchen, die nachweislich an neuro logischen Defiziten gelitten hatten. Ethische Bedenken verbie ten es Wissenschaftlern, an Menschen die gleichen Eingriffe wie an Tieren vorzunehmen. Deshalb blieb das Gehirn für die Wissenschaft nach wie vor eine Blackbox. Rückschlüsse auf den Aufbau und die Funktionalität dieses Organs ließen sich höchstens aufgrund der Äußerungen und Handlungen von Lebewesen mit Gehirn ziehen. Jetzt liegen die Dinge anders; zumindest glauben das viele. Durch die Entwicklung bild gebender Verfahren wie PET und fMRT können wir nun in die Blackbox schauen und erhalten farbige Darstellungen des Ge hirns, die zeigen, welche Bereiche bei verschiedenen Prozes sen aktiviert werden. Angesichts der immensen privaten und institutioneilen In vestitionen in die hirntomografische Technik ist es nur allzu verständlich, was für ein Rummel um das Potenzial bildgeben der Verfahren gemacht wird. Auch lässt sich schwerlich ab streiten, dass wir mithilfe dieser Verfahren der Entschlüsse lung des Bewusstseins einen Schritt näher kommen. Das ist jedoch erst recht ein Grund, einmal kurz innezuhalten und die Tatsachen nüchtern zu betrachten, denn bildgebende Ver fahren werfen wichtige und immer noch ungeklärte metho dologische Fragen auf. PET und fMRT liefern mehrfarbige Bilder. Die Farben sollen dem Grad der neuronalen Aktivität entsprechen. Die Farbver teilung lässt die Hirnareale erkennen, die vermutlich gerade aktiviert werden: helle Farben deuten auf eine erhöhte Hirn aktivität hin. Dabei übersieht man leicht, dass die durch fMRT und PET erzeugten Bilder nicht wirklich das Gehirn in Aktion 35
zeigen. Die von Wissenschaftlern mithilfe eines Tomografen gewonnenen Bilder entsprechen weniger Fotografien oder Röntgenbildern als vielmehr einem Phantombild, das anhand von Aussagen verschiedener Augenzeugen angefertigt wird. Solche Zeichnungen liefern sicherlich wichtige Anhaltspunkte über den Verdächtigen, aber sie sind keine direkten Abbilder seines Gesichtes. Vielmehr handelt es sich um computergene rierte Bilder, die auf der Grundlage vielleicht auch wider sprüchlicher Zeugenaussagen erstellt werden. Eine solche Skizze ist eher eine Mutmaßung oder Hypothese als eine tat sächliche Aufnahme des Täters. Durch dieses Verfahren lässt sich nicht einmal mit Sicherheit feststellen, ob es nur einen Täter gibt, geschweige denn, ob das Bild ihm wirklich ähnlich sieht. Und ebenso wenig lassen sich mit PET- und fMRT-Bildern die Anzeichen psychischer oder geistiger Phänomene direkt nachweisen. Auch hier handelt es sich eher um eine Mutmaßung oder Hypothese darüber, was im Gehirn der Versuchsperson wohl gerade vor sich geht. Um dies zu verstehen, müssen wir uns zunächst einmal das Ausgangsproblem vor Augen führen: Wie entscheiden wir, welche neuronale Aktivität für das geis tige Phänomen relevant ist, das wir gerade entschlüsseln wol len? Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass jeder geis tigen Aufgabe - wie beispielsweise dem Urteil darüber, dass sich zwei Wörter reimen - ein neuronaler Prozess zuzuord nen ist. Wie aber lässt sich feststellen, welche der vielen neu ronalen Aktivitäten, die im Moment der Reimerkennung in einem vorgehen, zu diesem geistigen Akt gehören? Dafür müs sen wir wissen, wie sich das Gehirn ohne Reimerkennung ver halten hätte. Das heißt, wir brauchen einen Grundzustand, anhand dessen wir entscheiden können, ob die Abweichung von diesem Grundzustand mit dem entsprechenden geistigen Akt einhergeht. Das können wir beispielsweise, indem wir das Bild eines Gehirns im Ruhezustand mit dem Bild des Gehirns bei der Reimerkennung vergleichen. Vermutlich hängt die Reimerkennung mit der neuronalen Aktivität zusammen, die 36
den Unterschied zwischen den beiden Bildern ausmacht. Aber woher wissen wir, wie ein Gehirn im Ruhezustand aussieht? Schließlich befindet sich das Gehirn nie im Ruhezustand. So gibt es beispielsweise Schlafphasen, in denen das Gehirn ak tiver als zu den meisten Tageszeiten ist! Zur Identifikation der Hirnareale, die für eine kognitive Leistung zuständig sind, steht uns die Vergleichsmethode zur Verfügung. Nehmen wir einmal an, wir sollen eine Reihe PETBilder von Versuchspersonen erstellen, die eine Sprachauf nahme hören und dabei entscheiden müssen, ob sich ein Wort paar reimt. Um diejenige Aktivierung im Hirn herauszufiltern, die für die Reimerkennung verantwortlich ist, und von der zu unterscheiden, die für die Sprachwahrnehmung verantwort lich ist, vergleicht man üblicherweise diese Bildreihe mit einer zweiten Bildreihe von Versuchspersonen, die eine Sprachauf nahme hören, aber keinen Reim erkennen müssen. Die Hirn areale, die in der ersten, jedoch nicht in der zweiten Bildreihe aktiv sind, kommen dann als Orte infrage, an denen die Reim erkennung im Gehirn stattfindet. Diese Vergleichsmethode ist plausibel und vielversprechend. Und doch stützt sie sich auf Annahmen, die nicht gänzlich unproblematisch sind, wie Guy C. Van Orden und Kenneth R. Paap überzeugend erörtert haben. Bleiben wir einmal bei unserem Beispiel: Zum einen geht diese Vergleichsmethode davon aus, dass es im Gehirn keine Rückkopplung zwischen Reimerkennungs- und Sprachwahrnehmungsvorgängen gibt. Wenn es aber eine Rückkopplung gibt, dann folgt daraus, dass überlappende Aktivitätsareale nicht zwingenderweise auf einen gemeinsamen, isolierbaren neuronalen Faktor zurück zuführen sind. Und in der Tat ist es höchst wahrscheinlich, dass eine Rückkopplung stattfindet. Denn die neuronale Aktivität im Gehirn läuft bei der Wahrnehmung nicht nur in eine Rich tung, sondern in beide Richtungen oder in Schleifen. Es gibt Nervenbahnen, die von den Sinnesorganen zurück ins Gehirn führen - doch gibt es noch viel mehr Nervenbahnen, die wie 37
der nach außen gehen. Diese Erkenntnis sollte nicht über raschen. Denken Sie nur einmal daran, wie viel leichter es ist, ein Geräusch zu hören, das wir erwarten, als eines, das unvor bereitet kommt. Die Annahme, dass es keine Rückkopplungen im neuronalen Erregungskreis gibt, ist die Kehrseite einer an deren Annahme, nämlich der, dass wir den kognitiven Pro zess in Einzelmodule von Sprachwahrnehmung und Reim erkennung aufteilen können. Das jedoch ist eine substanzielle empirische Behauptung über Beschaffenheit und Aufbau kog nitiver Prozesse, die man ganz sicher nicht einfach als gege ben annehmen kann. Ich verwende die Reimerkennung als ein Anschauungs beispiel und will damit nicht sagen, dass die Vergleichsmethode falsch ist. Ich möchte lediglich verdeutlichen, dass hirntomografische Untersuchungen uns nicht einfach zeigen, was im Gehirn vor sich geht, wenn wir etwas hören und beurteilen. Meine Ausführungen zu den Rückkopplungen im Gehirn und der Beschaffenheit kognitiver Prozesse sind eigentlich nur die Spitze des Eisberges. PET und fMRT haben nur eine geringe räumliche und zeitliche Auflösung. Wenn wir damit Vorgänge im Gehirn lokalisieren wollen, orten wir diese in einem Areal von zwei bis fünf Millimetern - doch in diesen Arealen be finden sich Hunderttausende Nervenzellen. Eventuelle Spezia lisierungen und Unterschiede zwischen den Zellen sind auf den Bildern nicht erkennbar. Aus dem gleichen Grund können wir nicht mit Sicherheit feststellen, wann neuronale Prozesse stattfinden. Die Prozesse in den Zellen laufen in Tausendstel sekunden ab, aber um die Signale für die Bilder zu erkennen und zu verarbeiten, brauchen wir viel mehr Zeit (fast eine Mi nute). Deshalb haben Wissenschaftler eine Methode zur Nor mierung der Daten entwickelt, bei der üblicherweise die Daten verschiedener Versuchspersonen gemittelt werden. Doch durch die Mittelwertbildung gehen wertvolle Informationen verloren. Schließlich unterscheiden sich Gehirne ebenso wie Gesichter und Fingerabdrücke voneinander, und so wie der durchschnitt liche Steuerzahler keine Standardgröße und kein Standard 38
gewicht hat, gibt es auch keinen Standardort im Gehirn, an dem eine durchschnittliche neuronale Aktivität stattfindet. Deshalb übertragen die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse auf ein idea lisiertes Modellgehirn. Also zeigen die Bilder in den Wissen schaftszeitschriften nicht das Gehirn eines bestimmten Men schen in Aktion. Abschließend will ich noch einmal klarstellen, dass PEToder fMRT-Bilder in keinerlei Hinsicht direkte Informationen über Bewusstsein oder Kognition liefern. Sie sind nicht ein mal direkte Abbilder einer neuronalen Aktivität. Bildgebende Verfahren wie PET und fMRT konstruieren Bilder auf der Grundlage gemessener physikalischer Größen wie Radio- oder Lichtwellen, von denen wir glauben, dass wir sie zuverlässig einem Stoffwechselvorgang zuordnen können. So wird bei spielsweise bei der PET ein Positronen emittierendes Isotop ins Blut gespritzt. Die PET misst die durch den Zusammen stoß von Positronen und Elektronen hervorgerufene Emission von Gammastrahlen. Diese physikalische Größe messen wir und schließen davon auf Stoffwechselaktivitäten im Gehirn. Diese wiederum lassen vermutlich Rückschlüsse auf die neu ronale Aktivität zu. Das ist eine recht plausible Annahme: Neuronale Prozesse erfordern Sauerstoff, und daher benötigen sie Blut. Die neuronale Aktivität - so nimmt man weiterhin an - korreliert ihrerseits mit einer signifikanten mentalen Aktivität. Die hirntomografische Aufnahme zeigt geistige Vor gänge also über drei Ecken: Sie bildet die physikalische Größe ab, die mit dem Blutstrom korreliert, der Blutstrom korreliert wiederum mit der neuronalen Aktivität, und die korreliert wiederum mutmaßlich mit einer mentalen Aktivität. Treffen all diese Vermutungen zu, lassen sich mit hirntomografischen Untersuchungen durchaus wichtige Erkenntnisse über die neuronale Aktivität im Zusammenhang mit einem kognitiven Prozess gewinnen. Doch dürfen wir uns von dem bildhaften Charakter dieser Aufnahmen nicht täuschen lassen. Hirn tomografische Untersuchungen liefern keine Bilder kognitiver Prozesse in einem Gehirn in Aktion. 39
FAZIT: Wir sind nicht unser Gehirn Die empirische Forschung zum Bewusstsein und zur mensch lichen Natur nimmt es als erwiesen an, dass die Wissenschaft entschlüsseln muss, wie Bewusstsein im Gehirn entsteht. Dass das Bewusstsein überhaupt im Gehirn entsteht, wird dabei nicht hinterfragt. Bei der Suche nach einem Verständnis un seres Selbst kommen wir derweil trotz aller Anstrengungen keinen Schritt weiter, ln diesem Kapitel habe ich die Frage aufgeworfen, ob vielleicht ebenjene nicht hinterfragten An nahmen schuld an unserem Unvermögen sind, Bewusstsein und Geist zu erklären. Im Folgenden versuche ich aufzu zeigen, dass das Gehirn nicht der Ort in unserem Inneren ist, an dem sich das Bewusstsein ereignet, denn es ereignet sich nicht in unserem Inneren. Es geht nicht in unserem Inneren vor sich, sondern ist etwas, das wir aktiv durch unsere dyna mische Interaktion mit unserer Umwelt entstehen lassen. Das Gehirn ist ein besonderes Körperorgan und sicherlich wichtig für das Verständnis unserer Funktionsweise. Das will ich gar nicht abstreiten. Aber wenn wir herausfinden wollen, welchen Beitrag das Gehirn zum Bewusstsein leistet, müssen wir un tersuchen, wie das Gehirn mit den anderen Körperteilen und unserer Umwelt zusammenspielt. Ich spreche mich nach drücklich dafür aus, dass eine gute neue Wissenschaft und Philosophie uns zu einem körper- und weltbezogenen Ver ständnis unseres Selbst führen sollten.
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2 BEWUSSTE WESEN Meine Einstellung zu ihm ist eine Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, daß er eine Seele hat.
Ludwig Wittgenstein
Ich beginne mit dem scheinbar schwierigsten Problem im Zu sammenhang mit dem Bewusstsein, das in der Philosophie als das »Problem des Fremdpsychischen« bezeichnet wird. Ist es möglich, die geistigen Zustände anderer zu kennen? Wie ent scheiden wir, ob andere Menschen ein Bewusstsein haben? Und was ist mit dem Bewusstsein anderer Spezies? Das Pro blem des Fremdpsychischen erscheint dann unlösbar, wenn wir es für ein theoretisches halten: Wie können wir auf der Grundlage von Äußerungen, Handlungen oder neuronalen Signaturen etwas über den Geist eines anderen in Erfahrung bringen? Doch diese Frage stellt sich uns gar nicht. Wir ge stehen anderen aus praktischen Gründen einen Geist zu. Wir können die Möglichkeit, dass andere keinen Geist haben, gar nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Dazu müssten wir un sere Mitmenschen aus einer theoretischen, distanzierten Hal tung betrachten, die sich nicht mit dem Leben in Einklang bringen lässt, das wir bereits mit ihnen führen. Das alles weist auf ein Paradoxon in der Wissenschaft des Bewusstseins hin: Wissenschaft erfordert Distanz, aber der Geist wird nur ver ständlich, wenn wir uns ihm mit einer grundlegend anderen, eingebundenen und beteiligten Haltung nähern. Ist eine Wissenschaft des Bewusstseins also unmöglich? Nein. Es gibt einen Ausweg. Die Lösung besteht in der Erkenntnis, dass es eine streng empirische Alternative zu mechanistischer Dis 41
tanz auf der einen und rein persönlicher Vertrautheit auf der anderen Seite gibt. Und das ist der Ansatz der Biologie.
Fremdes Bewusstsein Wer oder was hat ein Bewusstsein? Wie können wir das ent scheiden? Wo finden wir Bewusstsein in der Natur? Man könnte meinen, dass die Frage nach fremdem Bewusstsein die schwierigste dieses ganzen Fachgebiets ist. Ich habe ein Be wusstsein. Sie auch. Wir denken, wir fühlen, die Welt zeigt sich uns. Aber was ist mit einer Ameise oder einer Schnecke oder einem Pantoffeltierchen? Was mit einem hoch entwickel ten Roboter? Könnte der ein Bewusstsein haben? Lässt sich das mit Sicherheit feststellen? Fast jede Überlegung zu dieser Frage beginnt mit der Vor stellung, dass unser Wissen über die Gedanken und Gefühle anderer - ja, unser Wissen, dass andere überhaupt denken und fühlen und nicht bloß Automaten sind - darauf beruht, was wir sehen, hören und messen können. Wir beobachten das Verhalten oder messen beispielsweise bei Patienten im Wachkoma oder mit Locked-in-Syndrom die neuronale Akti vität. So scheint es, dass wir uns dem Geist anderer auf theo retisch fundierte Weise am ehesten aufgrund der Annahme nähern können, dass Verhalten und neuronale Aktivität zu verlässige Hinweise über den psychischen Zustand einer Per son liefern. Damit geben wir jedoch zu, dass wir eigentlich nichts über den Geist anderer wissen; zumindest nicht in einem wissen schaftlich soliden Sinn. Denn Verhaltensbeobachtung (was sa gen und wie handeln Menschen) und die Messung neuronaler Aktivität verschaffen uns eben kein Wissen über den Geist anderer. Das ist sicherlich eine wichtige Erkenntnis aus der Erforschung von Wachkoma und Locked-in-Syndrom. Unser Erleben muss sich nicht in unseren Äußerungen und Hand lungen niederschlagen. Das Verhalten allein ist bestenfalls ein 42
vager Anhaltspunkt dafür, wie eine Person eine Situation empfindet. Außerdem verstehen wir ja nicht einmal, wie neuro nale Aktivität und Erfahrung Zusammenhängen. Wie ich be reits im ersten Kapitel hervorgehoben habe, bleibt offen, ob die Ergebnisse einer Hirntomografie uns je davon überzeugen könnten oder sollten, dass unser Kind nicht mehr am Leben ist; besonders wenn es weiterhin auf Geräusche und Berüh rungen zu reagieren scheint. Wenn aber die Äußerungen und Handlungen von Menschen oder die Messung ihrer Hirn aktivität tatsächlich die brauchbarsten Anhaltspunkte liefern, dann könnte man meinen, dass unser Bekenntnis zum Geist anderer philosophisch haltlos und ein reiner Glaubensakt ist. Vielleicht haben wir uns einfach nur dazu entwickelt, Geist und Bewusstsein in unserer Umwelt wahrzunehmen, auch wenn sie nicht da sind. Tatsächlich haben Menschen einen er staunlichen Hang dazu. Mechanisches und Lebloses zu perso nifizieren und zu beleben. Die Psychologen Fritz Heider und Marianne Simmel lieferten dafür in den Vierzigerjahren ein erstaunliches Beispiel; Sie erstellten einen Zeichentrickfilm, in dem sich einfache geometrische Figuren - ein kleiner Kreis sowie ein größeres und ein kleineres Dreieck - über eine Bild fläche bewegten. Heider und Simmel fanden heraus, dass die zum Film be fragten Versuchspersonen dazu neigten, die Formen zu ver menschlichen - das heißt, sie wiesen ihnen ein Geschlecht und, wichtiger noch, Ziele, Absichten und mentale Zustände wie Angst zu. Die Versuchspersonen interpretierten die Be wegungen der Formen als eine Geschichte, in der beispiels weise ein bedrohliches Dreieck einen Kreis jagte, während ein kleines Dreieck dem Kreis zu Hilfe eilte. Heider und Simmel zeigten, dass die meisten Versuchspersonen diesen bedeu tungsfreien Zeichentrickfilm als Handlungen von Lebewesen, meistens sogar als Handlungen von Personen interpretierten. Oder nehmen wir einmal Kismet, eine von Cynthia Breazeal und ihren Kollegen in Rodney Brooks’ Labor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte Roboterdame. 43
Breazeal will Roboter bauen, die einfach zu bedienen sind und mit Menschen in einen normalen »sozialen Austausch« treten können. Zu diesem Zweck wird der Roboter so gestal tet, dass er bestimmte Objekte (Gesichter oder Spielzeug figuren) erkennen und eine Reihe von Einstellungen und Emotionen (wie Freude, Trauer, Überraschung, Behagen, Lange weile, Wut, Gelassenheit, Unbehagen, Angst und Interesse) »ausdrücken« kann, je nachdem, was er »wahrnimmt«. Kismet ist außerdem mit einem Sprachgenerator ausgestattet. Ob wohl sie nichts verstehen kann, reagiert sie in Gesprächen mit den enden Geräuschen und Lauten, jedoch nicht mit Worten. Nun wissen wir ja alle, wie leicht es ist, Gefühle auf Pup pen, Haustiere und unbelebte Gegenstände wie beispielsweise »Tamagotchis« zu projizieren, an die sich einige von uns be stimmt noch erinnern. Aber dennoch ist es erstaunlich, wie weit die Beschäftigung mit Kismet an die Freuden echter Interaktion mit Menschen heranreicht. Die scheinbare Auf merksamkeit, Anteilnahme und Präsenz von Kismet wirken so überzeugend, dass sie immer wieder Studenten in ihren Bann zieht und zu ausführlichen Gesprächen animiert. Na türlich sagt Kismet nichts, sie fühlt nichts und weiß nichts. Sie soll uns auch nichts vorgaukeln, doch ist sie so konstru iert, dass wir nicht allzu viele Gedanken daran verschwenden, ob wir gerade hinters Licht geführt werden. Nichts belegt eindrücklicher, dass wir Menschen quasi den Willen dazu haben, Bewusstsein wahrzunehmen - ob es nun da ist oder nicht. Für unsere Eigenschaft, Objekten allzu eilfertig geistige Attribute zuzuschreiben, lässt sich leicht eine evolutionäre Begründung finden: lieber aus einer irrigen Überzeugung he raus Puppen und Formen vorschnell ein Bewusstsein zuge stehen, als im vorzeitlichen Urwald auf dem falschen Fuß er wischt zu werden. Interessant wird es jedoch bei folgender Frage: Ist meine Überzeugung, dass Sie Gedanken und Gefühle haben, besser begründet als meine Annahme, dass es sich bei Kismet so verhält? Unsere Gründe dafür, anderen Personen 44
geistige Attribute zuzuschreiben, sind dürftig. Unsere ein zigen Anhaltspunkte sind eigentlich ihre physiologischen Charakteristika und das, was sie sagen und tun. Angesichts dieser dünnen Faktenlage sieht es wohl so aus, als ob nicht nur unser Wissen über das Fremdpsychische, sondern vielmehr unsere ganze unbegründete Vorstellung davon, überhaupt wissen zu können, was ein anderer denkt oder fühlt oder will, oder dass ein anderer überhaupt etwas denkt oder fühlt oder will, einer Erklärung bedürfte.
Die Theory of Mind Stellen wir uns einmal vor, ich nehme die Schokolade aus der Schublade, in der Sie sie normalerweise aufbewahren, und lege sie woanders hin. Wo werden Sie nach der Schokolade suchen, wenn Sie nach Hause kommen? Ein Kind, das jünger als vier oder fünf Jahre ist, beantwortet diese Frage selten richtig. Es sagt fälschlicherweise, dass Sie dort nach der Scho kolade suchen werden, wo ich sie deponiert habe. Es erkennt nicht, dass Ihr Handeln von der Fehlannahme geleitet wird, dass die Schokolade an ihrem angestammten Platz ist. Stattdessen glaubt es, dass Ihr Handeln von der Schokolade ge leitet wird, obwohl das natürlich unmöglich ist. Das Kind hat, so sagt man, den False-Belief-Test (dt. Fehlannahme-Test) nicht bestanden, und dieses Scheitern wiederum gilt als Beweis da für, dass es Fremdpsychisches noch nicht versteht. Es nimmt zwar ein Verhalten wahr, hält andere jedoch nicht für eigen ständige Subjekte mit abgegrenzter, eigener Sichtweise. Es heißt, dass Kinder etwa ab dem Alter von fünf Jahren an fangen, andere als bewusste Wesen zu betrachten. Diese Ver änderung geschieht, wenn Kinder sich eine sogenannte Theory of Mind (dt. Theorie des Geistes) aneignen, also eine Vorstel lung vom Geist als einer im Verborgenen liegenden Sphäre von Kräften, deren Auswirkungen in menschlichen Handlungen und Äußerungen deutlich werden. Forscher aus diesem Ar 45
beitsbereich vergleichen Kleinkinder manchmal mit Wissen schaftlern, die versuchen, den Vorgängen in ihrem Umfeld einen Sinn beizumessen. Der entscheidende Meilenstein in der Entwicklung des Kindes ist der Zeitpunkt, an dem es er kennt, dass es die Handlungen anderer Vorhersagen und er klären kann. Handlungen sind von Überzeugungen und Wün schen bestimmte Vektoren. Einigen Wissenschaftlern zufolge ist die Theory of Mind eine ausschließlich dem Menschen vor behaltene kognitive Fähigkeit. Andere Primaten - selbst Schimpansen - können sie sich nicht aneignen. Sie treffen zwar Voraussagen über die Handlungen eines anderen Schim pansen, jedoch nicht, weil sie einschätzen könnten, was der andere Schimpanse sieht, glaubt und will. Wie Kleinkinder sind Schimpansen Behavioristen: Ihr Verständnis anderer be schränkt sich vollständig darauf, was sie beobachten können. Und auch nicht alle Menschenkinder erwerben eine Theory of Mind. Eine einflussreiche Hypothese zur Ursache von kind lichem Autismus besagt, dass diesen Kindern schlicht die Fä higkeit fehlt, andere Menschen als fühlende, denkende, wol lende und aus psychischen Motiven heraus handelnde Wesen zu begreifen. Die Auffassung, dass unsere Sicht auf den Geist anderer eine Strategie oder Haltung ist, mit der wir die Äußerungen und Handlungen in unserem Umfeld Vorhersagen und erklä ren, könnte man als skeptische Lösung für das Problem des Fremdpsychischen bezeichnen. Dabei gehen wir von vorn herein davon aus, dass wir lediglich das Verhalten der ande ren wahrnehmen können, der Geist jedoch verborgen und privat ist. Das Fremdpsychische ist für uns nur ein theore tisches Werkzeug, das uns dabei hilft, mit anderen Menschen umzugehen. So wie man die Existenz eines unsichtbaren Pla neten postuliert, um damit Abweichungen in der Umlauf bahn eines sichtbaren Planeten zu begründen, so erklären wir mit dieser Theorie, warum der Körper auf dem von ihm ein geschlagenen Weg durch Raum und Zeit reist - nämlich in dem wir uns auf nicht wahrgenommene, rein hypothetische 46
Ursachen berufen. Anders ausgedrückt: Sie öffnen die Schub lade, weil Sie Schokolade wollen und aufgrund Ihrer Fehl annahme, dass sie sich dort befindet.
Emotionale Nähe Nun gibt es aber zahlreiche Belege dafür, dass Kleinkinder sehr empfindlich auf die Gefühle, Haltungen, Interessen und Ziele anderer reagieren, schon lange bevor sie False-Belief-Aufgaben meistern. Diese Erkenntnis dürfte niemanden überraschen, der schon einmal Zeit mit Kleinkindern verbracht hat. Klein kinder stehen aktiv und zielgerichtet in einer sehr feinfühligen kommunikativen Beziehung zu ihren Müttern und anderen Bezugspersonen. Säuglinge reagieren auf den Gesichtsaus druck, das Lächeln, die Stimme und Berührung ihrer Bezugs personen. Und sie fühlen sich unwohl, wenn ihnen die Zuwendung entzogen wird. Um dies nachzuweisen, haben Psychologen das sogenannte Still-Face-Paradigma entwickelt, das Paradigma des »Neutralgesichts«. Dabei beobachtet man, welche Wirkung es auf das Kind hat, wenn das Gesicht der Mutter unbewegt oder teilnahmslos wird. Die Untersuchun gen zeigen, dass ein solcher sichtbarer Rückzug der Mutter das Kind verstört. Es unternimmt Anstrengungen, um die Auf merksamkeit der Mutter wiederzuerlangen und ihr eine Reak tion zu entlocken. Wenn keine Reaktion erfolgt, wendet sich das Kind sichtlich bekümmert ab. Das ist ein aussagekräftiger Beweis dafür, dass Kinder sich für ihre Mütter interessieren und sich aktiv am emotionalen Austausch beteiligen. Allerdings ist das wohl nicht ganz unumstritten. Einige vertreten die Auffassung, dass Kinder nur so tun, als könnten sie die Gedanken und Gefühle anderer einschätzen, dass sie natürliche Roboter und »Kismet« gar nicht so unähnlich sind. Diese Eigenschaft dient der Erhaltung der Art, wird weiter argumentiert. Kinder verhalten sich so, als ob sie auf ihre Be zugsperson reagieren würden, und diese werden dadurch 47
ihrerseits dazu angeregt, sich um die Kinder zu kümmern und ihnen eine kognitive Entwicklung zu ermöglichen, die wie nach einer inneren Uhr abläuft. Das ist jedoch nicht über zeugend. Viel plausibler ist ein anderes Szenario, wonach die soziale Dynamik zwischen Mutter und Kind die Hauptgrund lage für die mentale Entwicklung des Kindes ist. Kinder sind nicht distanziert, sie sind keine Beobachter. Sie sind abhängig von den beruhigenden oder warnenden Lauten, dem Augen kontakt, den Gesten und der Berührung der Mutter. Die Mut ter ist buchstäblich ein Teil der Bausubstanz, aus der sich die psychische Landschaft eines Kindes zusammensetzt. Aus dieser Perspektive betrachtet, befindet sich das Kind von Anfang an in einem Kontext, in dem gemeinsames Füh len und gegenseitige Ansprache selbstverständlich sind. Die Beziehung des Säuglings zum anderen entfaltet sich in einem emotionalen Rahmen. Der Säugling muss sich zu keiner Zeit die Frage stellen, ob seine Mutter ein Lebewesen ist. Ein Kind ist niemals lediglich Gesten oder Verhalten ausgesetzt und deshalb gezwungen, Gefühle oder ein Bewusstsein hinter die ser äußeren Leinwand zu postulieren. Und all das ist mit der Tatsache vereinbar, dass ein dreijähriges Kind False-Belief-Aufgaben nicht lösen kann. Vielleicht gehen Kleinkinder davon aus, dass sie die gleiche Welt wie andere Menschen teilen und deshalb auch die gleichen Interessen haben. Darum kommen sie auch nicht dahinter, dass die Anziehungskraft der Schoko lade auf andere nicht genauso wirkt wie auf sie. Aber das be weist noch lange nicht, dass sie keine Vorstellung vom Geist anderer haben - sondern nur, dass sie den Geist anderer nicht als privat und unsichtbar begreifen. Und in gewisser Hinsicht haben sie damit recht.
Unbegründetes akzeptieren Im Puzzle unseres Wissens über das Fremdpsychische fehlt noch ein Stück: Kein vernünftiger Mensch kann ernsthaft da 48
von ausgehen, dass unser Wissen um das Denken und Fühlen anderer rein hypothetisch ist. Wie dürftig die Beweise für das Bewusstsein anderer auch sein mögen, es wäre einfach un geheuerlich, sich aus diesem Grund nicht mehr zum Geist an derer zu bekennen. Um infrage zu stellen, dass meine Frau, Kinder und Eltern denkende, fühlende Wesen sind, dass sich ihnen eine Welt zeigt und sie nicht bloß Automaten sind, müsste ich verrückt geworden sein. Die Menschen, mit denen wir Zusammenleben, haben ebenso wie wir ein Bewusstsein. Aber dass wir dies als moralisches Faktum anerkennen, be darf einer Erklärung. Wir können diese Tatsache einfach als weiteren Beweis da für werten, dass unser Bekenntnis zum Geist anderer nicht gerechtfertigt ist. Damit lägen wir gar nicht so daneben. Tat sächlich zeigt sich hier, dass unser Bekenntnis zum Geist an derer nicht auf Beweisen beruht. Also ist es in gewisser Weise richtig, dass unser Bekenntnis zum Bewusstsein anderer un begründet ist. Aber trotzdem ist es nicht ungerechtfertigt oder falsch. Und zwar deshalb, weil meiner Meinung nach un ser Bekenntnis zum Geist anderer keineswegs ein theore tisches Bekenntnis ist. Wir lernen nicht nach und nach, dass andere - ebenso wie wir - denken und fühlen, so wie wir bei spielsweise mit der Zeit zu der Erkenntnis gelangen, dass man der Werbung nicht trauen kann. Unser Bekenntnis zum Be wusstsein anderer ist vielmehr eine Voraussetzung für unser Zusammenleben. So gesehen, ist das Kleinkind mit seinem Verhältnis zur Be zugsperson das Musterbeispiel. Wie ich erläutert habe, hat das Kind keine theoretische Distanz zu seiner Bezugsperson. Das Kind fragt sich nicht, ob seine Mama ein Lebewesen ist. Das lebendige Bewusstsein seiner Mama ist für das Kind ein fach ebenso da wie die Wärme der Mutter oder die Luft, es ist ein Teil von dem, was die Beziehung zwischen beiden mit Leben erfüllt. Die geistige Welt von Mama und Baby entwickelt sich innerhalb ihrer liebevollen, aufeinander ausgerichteten Beziehung. Wollen wir hier von einem Bekenntnis zum leben 49
digen Bewusstsein anderer sprechen, sollten wir nicht von einem kognitiven, sondern vielmehr von einem praktischen Bekenntnis sprechen. Und ebenso wie Säugling und Mutter stehen auch wir in Beziehungen zueinander. Es ist diese enge Gemeinschaft, die dafür sorgt, dass wir füreinander lebendig und einander bewusst sind, dass wir Zusammenleben und Zu sammenarbeiten. Daraus erklärt sich auch, warum kein vernünftiger Mensch den Geist anderer ernsthaft hinterfragen kann. Aus Sicht un serer gemeinschaftlichen Beziehungen stellt sich die Frage nach dem Bewusstsein anderer nicht. Natürlich gibt es einen distanzierten, theoretischen Standpunkt, der solche Zweifel zulässt. Aber entscheidend ist, dass wir diesen Standpunkt nicht einnehmen können und wollen, zumindest nicht, ohne unser Zusammenleben zu gefährden. Besonders dieser letzte Punkt scheint offensichtlich. Als Louis Armstrong einmal ge fragt wurde, was Jazz sei, antwortete er mit den berühmten Worten: »Wenn du erst fragen musst, wirst du es nie verstehen.« Nähe und Bindung lassen manchmal einfach keinen Platz für theoretische Überlegungen. Man kann nicht jemandem ver trauen und ihn lieben und sich gleichzeitig fragen, ob dieser Mensch eigentlich Gedanken und Gefühle hat - genauso wie das Tanzen nicht recht gelingen wird, wenn man dabei die Schritte zählt und an die nächste Figur denkt. Unsere gegen seitigen Bindungen sind ab einem gewissen Punkt nicht mehr mit einer theoretischen, distanzierten Haltung vereinbar. Noch einmal: Damit will ich nicht sagen, dass das Bekennt nis zum Bewusstsein eines Mitmenschen über rationale Kri tik erhaben ist. Wir haben anhand des Wachkomas und des Locked-in-Syndroms bereits erörtert, dass es leidvolle Situa tionen gibt, in denen wir am Bewusstsein eines anderen zwei feln. Entscheidend ist, dass wir diese Zweifel nicht deshalb hegen, weil wir keine Beweise mehr hätten, die uns von einem theoretischen, distanzierten Standpunkt aus gesehen davon überzeugen würden, dass der andere ein aktives Bewusstsein besitzt. Wenn ich recht habe, dann nehmen wir diesen Stand 50
punkt niemals ein, wenn es um den Geist anderer geht (oder nur sehr selten und unter ganz besonderen Umständen). Wor um es in solchen Fällen also wirklich geht, ist die Frage, wie sich unsere Beziehung zum anderen gestalten sollte. Das ist eine praktische oder vielmehr moralische Frage. Deshalb ist das Wachkoma ebenso ein moralisches wie ein wissenschaft liches Problem. Wenn die Angehörigen eines »dahinvegetie renden« Komapatienten ihn nicht aufgeben wollen, wenn sie sich weigern, den Stecker oder die Nahrungssonde zu ziehen, dann sagen sie damit: Die Liebe und Bindung, die sie für ihre Tochter, ihre Mutter, ihren Vater oder ihren Partner empfin den, ist einfach nicht mit einer Kosten-Nutzen-Analyse verein bar, die für lebensbeendende Maßnahmen sprechen würde. Manche kommen natürlich zu ganz anderen Schlüssen. Die Frage, ob ein anderer Mensch ein Bewusstsein hat, ist also in erster Linie eine moralische Frage und keine Frage da nach, ob der Glaube an das Bewusstsein anderer gerechtfer tigt ist (selbst wenn Letzteres auch der Fall sein sollte). Sobald wir uns fragen, ob ein Mensch oder ein Ding einen Geist hat, stellen wir damit auch die Beziehung, die wir ihnen gegen über einnehmen, auf den Prüfstand. Und das ist das Entschei dende. Für die meisten von uns lassen unsere Beziehungen zueinander einfach keinen Raum für derlei Überlegungen. Denn wir können sie nur aus einer distanzierten Haltung an stellen, die sich nicht mit der eher persönlichen, emotionalen Haltung verträgt, die wir anderen gegenüber tatsächlich ein nehmen. Genau dieser Zusammenhang zwischen Moral auf der einen und Skepsis gegenüber dem Fremdpsychischen auf der ande ren Seite ist das zentrale Thema von Ridley Scotts Film Blade Runner. Der Film spielt in einer trostlosen Zukunft, in der »Re plikanten« (serienproduzierte Roboter) als Sklavenvolk gehal ten werden. Der vorherrschenden Ideologie zufolge sind die Replikanten lediglich Maschinen, haben keinen inneren Wert, sind nicht durch Gesetze geschützt und werden je nach Gut dünken ihrer menschlichen Besitzer gebaut oder zerstört. Es 51
kommt zu einem Konflikt, weil einige Replikanten zu rebel lieren beginnen und man durch normale Interaktion mit ihnen nicht herausfinden kann, ob es sich um einen Repli kanten oder einen waschechten Menschen handelt. Vor allem - und das ist der Clou - kann man nicht einmal durch Intro spektion feststellen, ob man selbst ein Replikant ist oder nicht. Deckard, ein Polizist auf der Jagd nach aufständischen Replikanten, weigert sich, die Rebellen als bewusst Handeln de anzuerkennen. Indem er ihnen das Menschsein abspricht, setzt er die eigene Menschlichkeit aufs Spiel, denn er verhält sich grausam und unmenschlich. Deckards distanziertes Ur teil, dass es sich bei den Replikanten um geistlose Wesen han delt, steht in tiefem Widerspruch zu der Beziehung, die er weiterhin zu einer Replikantin unterhält. Dass Deckard viel leicht selbst ein Replikant ist, ohne es zu wissen, zeigt ganz deutlich, dass es hier nicht um Menschlichkeit im Sinne einer biologischen Essenz geht. Was auf dem Spiel steht, sind viel mehr der menschliche Anstand und damit letztendlich die Menschlichkeit selbst.
Der beste Freund des Menschen Im Europa des Mittelalters geschah es nicht selten, dass Haus tiere wie beispielsweise Schweine und Esel wegen Mordes oder Ehebruchs vor Gericht standen. Bei einem urkundlich belegten Fall wurde eine Sau für schuldig befunden, den Sohn des Schweinehirten zu Tode getrampelt zu haben. Trotz der allergrößten Bemühungen ihres Verteidigers wurde die Sau zum Tode durch den Strang verurteilt. Als Motiv wurde der Wunsch angenommen, ein anderes Schwein vor der Schlach tung zu retten. Einigen Schweinen wurde nachgewiesen, wäh rend des mit der Tat einhergehenden Tumultes gequiekt zu haben. Sie erhielten wegen Beihilfe ähnliche Strafen. Heute können wir nicht einmal mehr ansatzweise nach vollziehen, was in diesen Menschen im Mittelalter wohl vor 52
gegangen sein mag. Hat man wirklich geglaubt, dass Schweine zu einer kriminellen Handlung fähig seien? Oder handelte es sich um eine perfide, indirekte Art, den Eigentümer des Schweins zu bestrafen? Vielleicht wollte man das Schwein auch zum Sündenbock, pardon, Sündenschwein machen. Aber eines steht fest: Dieses Beispiel illustriert auf hübsche, wenn auch aus heutiger Sicht übertriebene Weise, dass Haus tiere eine seltsam komplizierte Stellung im Leben des Men schen einnehmen. Sie gehören gewissermaßen ins Reich des Menschen. So finden wir es beispielsweise ganz normal, Hun den, Katzen und Pferden komplizierte Gedanken, Gefühle und einen Verstand zuzutrauen. Wir haben uns bereits mit dem Gedanken befasst, dass unser Wissen um den Geist ande rer vielleicht lieber als eine Art moralisches Bekenntnis zum Geist anderer verstanden werden sollte. Praktisch bedeutet das, dass wir durch unsere Beziehungen zu und Zusammen arbeit mit Tieren nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen können, ihnen ein Bewusstsein abzusprechen. Sehen wir uns den Fall der Hunde einmal etwas genauer an. Hunde leben nahezu seit Menschengedenken in unseren Siedlungen. Es ist natürlich kein bloßer Zufall, dass Hunde gut mit dem Menschen auskommen; vielmehr wurden sie ge nau dafür gezüchtet. Wären wilde Hunde für menschliche Einstellungen und Interessen nicht ganz besonders empfäng lich gewesen, dann wären sie nie in die Gesellschaft des Men schen aufgenommen worden. Sie hätten keine Zuneigung her vorgerufen und nicht zum Gefährten getaugt. So reagieren Hunde beispielsweise sehr empfindlich auf Blicke. Aufgrund der Blickrichtung ihrer menschlichen Begleiter können Hunde einschätzen, wo etwas geschieht, und viele Hunde schauen dem Menschen nicht direkt in die Augen. Ganz allgemein ist bewiesen, dass Haustiere viel stärker auf die Blicke und Gesten des Menschen reagieren als ihre wilden Artgenossen, stärker sogar als Primaten. Hunde sind heiß geliebte Haustiere. Aber Hunde sind und waren zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten 53
auch geschätzte Mitarbeiter. Der Schäferhund des Schäfers, der Führhund des Blinden, der Spürhund des Polizisten und der Jagdhund des Jägers gehen eine sensible partnerschaft liche Zusammenarbeit mit ihren menschlichen Gefährten ein. Dabei wird leicht übersehen, dass diese Beziehung zwar auf Hierarchie und Ausbeutung beruht, doch reich an Werten und moralischer Bedeutung ist. Der Blinde sieht den Führ hund nicht als mechanisches Frühwarnsystem, das Hinder nisse, Straßen, Schäden im Fußweg oder andere Gefahren an zeigt. Der Blinde verlässt sich darauf, dass der Hund ihn leitet. Das ist ein Verhältnis, das auf Vertrauen und Zusammenarbeit beruht und bei dem Hund und Mensch sich gemeinsamer Kommunikations- und Austauschregeln bedienen. Wie die Dichterin, Essayistin und professionelle Hunde- und Pferde trainerin Vicki Hearne aufzeigte, kann sich die Ausbildung eines Hundes zum Rettungshund oder Wachhund nie nur in reinem Reiz-Reaktions-Training erschöpfen. Die Art der Zu sammenarbeit, zu der man das Tier bewegen will, ist nicht da mit vereinbar, das Tier lediglich als ein auf Reize konditio niertes Wesen anzusehen. Einen Hund auszubilden heißt in Wirklichkeit, ihn zu erziehen, und das erfordert wiederum, dass Mensch und Hund ihre Verantwortung dem anderen ge genüber ernst nehmen. Natürlich können wir einen Hund auch genauso gut als rein mechanistischen Ort konditionierter Reaktionen behan deln. Durch Belohnung und Bestrafung lassen sich Verhal tensweisen formen. Und Belohnung und Bestrafung spielen wohl tatsächlich eine Rolle in einer sinnvollen Beziehung zwi schen Tier und Mensch. Aber wenn wir eine auf Zusammen arbeit und Kameradschaft beruhende Beziehung eingehen wollen, wie sie für unser gegenwärtiges Verhältnis zu Hunden kennzeichnend ist, müssen wir uns vom mechanistischen Standpunkt verabschieden und den Hund stattdessen als, nun ja, denkendes Wesen betrachten. Dieser Ansatz gilt umso mehr für unser Verhältnis zu an deren Menschen. Natürlich können wir andere Menschen als 54
bloße Objekte sehen, die man nach Gutdünken benutzen und manipulieren darf. Die außerordentlichen Gräueltaten im Deutschland der Dreißiger- und Vierzigerjahre lassen sich teilweise mit der Bereitschaft erklären, anderen Menschen ge genüber genau diese objektivierende, mechanistische Haltung einzunehmen - als wäre ein menschliches Wesen nur ein Ge genstand, der eingeschmolzen und zur Ausbeutung der in ihm steckenden Energie ausgeschlachtet werden kann. Wenn wir jedoch Menschen aus einer distanzierten, mechanistischen Sicht beurteilen, dann können wir sie nicht mehr als Freunde oder Feinde, ja, dann können wir sie nicht einmal mehr als erlebende Subjekte betrachten. Sobald wir uns auf eine be stimmte Art des Zusammenlebens mit anderen einlassen - so bald wir mit ihnen eine Freundschaft, Ehe, Zusammenarbeit usw. eingehen -, können wir unmöglich ihr Bewusstsein an zweifeln. Das ist also die Erklärung für die erstaunliche Tatsache, dass wir den Geist anderer nicht ernsthaft infrage stellen kön nen, obwohl wir in gewisser Hinsicht wohl guten Grund dazu hätten: Wir nehmen Menschen, Hunden und Katzen gegen über bereits eine nichtmechanistische, eingebundene Ein stellung ein. Zweifel sind nur angebracht und überfallen uns bloß dann, wenn wir eine normale Beziehung nicht aufrecht erhalten können. Eine Entfremdung tritt lediglich in Fällen ein, in denen sich nahestehende Menschen durch eine schlim me Verletzung verändern oder wenn es um unsere Beziehung zu wild lebenden Tieren geht. Doch sobald wir in die distan zierte Perspektive wechseln, verspielen wir die Chance, unser Gegenüber zu verstehen. Das soll nicht heißen, dass ein Hund oder ein Mensch nur dann einen Geist hat, wenn wir ihn so behandeln, als hätte er einen - dass wir also einen Geist auf Dinge projizieren, die eigentlich kein Bewusstsein haben. Deckards Verbrechen ge gen die Replikanten bestand - genau wie das der Nationalsozia listen gegen die Juden - darin, ihnen das Menschsein ab zusprechen. Doch es bleibt dabei: Es gibt zwei grundsätzlich 55
verschiedene Sichtweisen auf Dinge oder zwei grundlegend verschiedene Haltungen, die wir Dingen gegenüber einneh men können. Vom einen Standpunkt aus können wir den Geist anderer unmöglich infrage stellen. Vom anderen Stand punkt aus können wir ihn unmöglich anerkennen.
Das Paradoxon von Geist und Wissenschaft Hier stoßen wir also auf ein Paradoxon. Die Wissenschaft be trachtet den Untersuchungsgegenstand kühl, leidenschafts los, rational und nimmt den Dingen gegenüber eine distan zierte Haltung ein. Aber wie sich herausstellt, gibt sich der Geist anderer von einem distanzierten Standpunkt aus nicht einmal zu erkennen. Von diesem distanzierten Standpunkt aus existieren nur Verhalten und Physiologie, einen Geist gibt es nicht. Daher könnte man meinen, dass es eine Wissen schaft des Geistes gar nicht geben kann. Der Geist scheint ein Paradoxon in sich zu tragen: Er ist ein Teil unserer Natur, und doch eignet er sich nicht zum Gegenstand der Naturwissen schaft. Tatsächlich ist die Perspektive, die wir brauchen - die Per spektive, aus der sich der bedeutungstragende, nichtmecha nische Charakter bewussten Lebens überhaupt erst zeigt -, kei ne andere als die der Biologie. Kein Lebewesen ist ein reiner Mechanismus, obwohl wir jedes biologische System als rein physikalisches und in mancherlei Hinsicht auch als rein me chanisches System betrachten können. Nehmen wir beispiels weise eine Bakterie. Sie hat eine Größe, ein Gewicht und un terliegt physikalischen Kräften und chemischen Prozessen. So mag sich eine bestimmte Bakterie vielleicht aufgrund einer direkten biochemischen Verbindung zwischen ihren zucker empfindlichen Rezeptormolekülen und ihren Flagellen ge zielt in Richtung einer Zuckerkonzentration bewegen und dabei maschinenartig mit ihrer Umwelt verzahnt erscheinen. Indem wir die Bakterie derart beschreiben, sehen wir sie aber 56
eigentlich schon nicht mehr als rein mechanisches und rein physikalisches Wesen, sondern als Einheit, deren Handlungen tatsächlich als Handlungen gewertet werden können, die wie derum die Frage nach dem »Weshalb?« aufwerfen. Die Bak terie bewegt sich nicht nur deshalb durch ihr Umfeld, weil die Anwesenheit von Zucker einen bakterienförmigen Atomhaufen dazu bringt, sich in Richtung der größten Zuckerkonzentra tion zu begeben. Das Zusammenspiel zwischen Bakterie und Umfeld funktioniert anders. Die Bakterie braucht Zucker zum Leben, hat sich an ihre Umgebung anget, und deshalb wird sie von der Zuckerkonzentration angezogen. Die Bakterie ist nicht nur ein Prozess, sondern ein Handlungsträger, wenn auch ein sehr einfacher. Sie hat Interessen: Sie will und braucht Zu cker. Natürlich ist die Bazille nicht schlau; davon ist sie weit entfernt. Sie versteht ihre eigenen Beweggründe nicht, von einem Verstand kann keine Rede sein, und auch den Ausdruck ihrer Bedürfnisse vermag sie kaum zu kontrollieren. Aber das sind technische Feinheiten. Fakt ist, dass die Biologie sich der Bakterie als einem Organismus, einem Lebewesen nur nähern kann, wenn sie die Bakterie als eigenständigen, von Interes sen und Bedürfnissen geleiteten Handlungsträger anerkennt. Die Bakterie ist ein Subjekt in einer Umgebung, ein Organis mus in einer Welt. Entscheidend ist, dass dieses Wesen eine Welt hat, das heißt, dass es zu seiner Umgebung in einer Be ziehung steht. Die Stärke der Theorie der Evolution durch natürliche Aus lese liegt in ihrem Vermögen, ebenjene Tatsachen als Phäno mene der Natur zu betrachten und zu erklären. Um ein Tier zu verstehen, müssen wir dessen Leben sowohl aus einer narra tiv-historischen als auch aus einer ökologischen Perspektive betrachten. Wir können danach fragen, warum ein Organis mus über eine bestimmte Eigenschaft verfügt, und meistens lautet die Antwort, dass es Individuen mit dieser Eigenschaft besser erging, also sie sich mit größerer Wahrscheinlichkeit fortpflanzten als die, denen diese Eigenschaft fehlte. Laut Ge setz wird die Häufigkeit eines solchen vorteilhaften Merkmals 57
in einer Population dann stetig ansteigen. Diese Sicht auf die Natur der Lebewesen erfordert oder ermöglicht das Zugeständ nis, dass die Natur kein reiner Mechanismus ist. Die Funktion einer Eigenschaft - also ihre grundlegende Bedeutung, ihr Zweck - ist Teil der Erklärung, warum diese Eigenschaft über haupt existiert. Aber damit die ganze Geschichte einen Sinn ergibt, müssen wir das Lebewesen, den Träger der Eigen schaft, genauer unter die Lupe nehmen. Das Lebewesen ist elementar, nicht seine Merkmale. Auch Richard Dawkins’ Vor schlag, die Gene als elementar zu verstehen, sollten wir uns nicht anschließen. Die Übertragung genetischer Informatio nen auf die Nachkommen ist zwar der Mechanismus, mit dem Eigenschaften weitergegeben werden. Wenn wir aber wissen wollen, warum bestimmte Gene in einer Population weit ver breitet sind, müssen wir der Geschichte Beachtung schenken, auf die es ankommt - nämlich der umweltgebundenen Le bensgeschichte eines Organismus. Die Physik beschäftigt sich nicht mit der Existenz von Or ganismen und ihren Umgebungen. Für die Physik gibt es nur Atome und subatomar ablaufende Prozesse. Aus der Physik heraus kann man keine Biologie betreiben. Dafür müssen wir dem Organismus gegenüber eine nichtmechanistische Hal tung einnehmen und ihn als eine in eine Umgebung ein gebettete Einheit wahrnehmen. Wenn uns das gelingt - und nun kommen wir zu meiner entscheidenden Behauptung -, gestehen wir dem Organismus gleichzeitig einen (zumindest) primitiven Geist zu. Die Frage nach dem Geist ist die Frage nach dem Leben. Die Biologie rückt das Lebewesen ins Blick feld, doch überall dort, wo sich Leben entdecken lässt, kön nen wir auch einen Geist ausmachen. Meine Argumentation ist einfach. Wir können nicht beide Ansätze verfolgen. Wir können nicht sowohl die Existenz eines Organismus anerkennen und ihn gleichzeitig lediglich als Ort betrachten, an dem Prozesse oder physikalisch-chemische Mechanismen ablaufen. Und sobald wir den Organismus als Einheit betrachten, als mehr als einen reinen Prozess, erkennen 58
wir ihn damit schon als Träger primitiver Handlungskompe tenz, als Träger von Interessen, Bedürfnissen und Sichtweisen an. Das heißt, wir gestehen ihm ein zumindest rudimentäres Bewusstsein zu. Die Frage nach dem Bewusstsein ist demnach die Frage nach dem Leben. Nun müssen wir verstehen, wie Leben in der Natur entsteht.
Geist ist Leben Zu Beginn dieses Kapitels habe ich gesagt, dass die schwierigste Frage wohl die nach dem Bewusstsein anderer sei. Nun möchte ich mich von dieser Aussage distanzieren: Es erscheint uns nur so, weil wir das Bewusstsein als etwas betrachten, das im In neren des Organismus geschieht, als etwas, das sich im Ver borgenen abspielt. Wir glauben, dass uns lediglich Verhaltens anzeichen zur Verfügung stehen und wir an die Vorgänge im Inneren nie herankommen werden. In diesem Buch argumentiere ich dafür, dass wir das Be wusstsein nicht als einen Vorgang in unserem Inneren sehen sollten. Der Geist einer Bakterie besteht nicht darin, wie es in ihrem Inneren aussieht. Er ist vielmehr Teil dessen, wie die Bakterie aktiv in ihre Umgebung eingreift und darauf rea giert. Es gibt zwar innere Korrelate des Bewusstseins: Nur Lebewesen mit einem entsprechenden Gehirn können be stimmte Erlebnisse haben, und zweifelsohne haben Bewusst seinsvorgänge neuronale Entsprechungen. Es gibt jedoch auch äußere Korrelate des Bewusstseins. Bewusste Wesen haben Welten, und zwar in dem Sinne, dass sich ihnen die Welt als etwas Wertgeladenes zeigt: Zucker! Licht! Sex! Verwandte! Der Geist einer Bakterie, soweit vorhanden, zeigt sich in der Art, wie sie auf ihre Umgebung reagiert und darin eingreift. Der Geist der Bakterie ist ihr Leben. Aber das Leben einer Bakterie liegt nicht in ihrem Inneren verborgen. Das Leben der Bakterie ist ein Kräftespiel, an dem 59
die in eine Umgebung eingebettete Bakterie selbst teilnimmt. Und das Gleiche gilt auch für das Bewusstsein in einem weite ren Sinne. Wollen wir den Geist der Tiere erforschen, dann dürfen wir also nicht nur über das Gehirn nachdenken. Um es mit den Worten des Neurowissenschaftlers Francisco Varela und des Philosophen Evan Thompson auszudrücken: Wir müssen uns fragen, wie Gehirn, Körper und Welt gemeinsam lebendiges Bewusstsein aufrechterhalten.
Ein anderer Geist, eine andere Welt Geist ist Leben. Wenn wir den Geist eines Lebewesens ver stehen wollen, sollten wir uns nicht auf sein Innenleben be schränken, also auf physiologische und neurologische Cha rakteristika. Wir müssen auch seiner Lebensweise und seiner Einbettung in die Umwelt Beachtung schenken. Zwar mag es so erscheinen, als ob wir die Unterschiede im geistigen Ver mögen von Lebewesen nur erklären könnten, indem wir ihre inneren neurologischen Unterschiede untersuchen. Schließ lich bewohnen doch alle Lebewesen eine gemeinsame Außen welt. Aber eigentlich stimmt das gar nicht. Zwar teilen sie aus Sicht der Physik eine physikalische Welt, wenn man davon ausgeht, dass es nur eine physikalische Welt gibt. Aber jeder Art ist eine entsprechende Umwelt, ein entsprechender Lebens raum Vorbehalten. Alle Lebewesen bewohnen strukturierte Welten. Affen und Menschenaffen leben beispielsweise in stark strukturierten Gemeinschaften; sie bewohnen soziale Welten. Alle Tiere sind darauf angewiesen, sich Nahrungsquellen zu erschließen, Ruheplätze und Gelegenheiten für die Paarung zu finden sowie Gefahren und Angreifer zu meiden. Für das Gruppenleben der Affen sind bestimmte soziale Faktoren ent scheidend. Dazu gehören Alter, Verwandtschaft und soziale Stellung oder Dominanz ebenso wie Bündnis- und Koopera tionsmuster. Wie bei anderen Primaten nehmen Verwandte 60
bei den Meerkatzen eine besondere Stellung ein. Die Töchter helfen ihren Müttern, sich um den Nachwuchs zu kümmern, und entwickeln so eine Beziehung zu ihren Geschwistern. Diese Beziehung spielt wiederum eine wichtige Rolle in Bünd nissen und Kooperationen. Meerkatzen sind beispielsweise eher geneigt, einem Artgenossen im Fall eines Angriffs bei zustehen, wenn es sich bei diesem um einen Verwandten handelt. Haben die Meerkatzen einen Verwandtschaftsbegriff? Ver stehen sie, was Verwandtschaft ist? Es sieht ganz danach aus. Wie bereits festgestellt, behandeln sie Verwandte anders als andere Gruppenmitglieder. Bezeichnend ist hier das Phäno men der »umgeleiteten Aggression und Versöhnung«. Wenn zwei Affen miteinander kämpfen, greift einer der beiden häu fig einen dritten, unbeteiligten Affen an. Diese umgeleitete Aggression richtet sich nach den Verwandtschaftsverhältnis sen. Der Angriff erfolgt normalerweise auf einen Verwandten des Gegners. Auch Versöhnungsverhalten, wie die soziale Fell pflege, orientiert sich an Verwandtschaftsverhältnissen. Man beschwichtigt den Gegner, indem man dessen Verwandten laust. Weitere eindrucksvolle Beispiele lassen sich anführen. So gibt es Belege dafür, dass eine Meerkatzenmutter unter schiedlich auf die Schreie ihres Nachwuchses reagiert, je nachdem, welchen Rang die Mutter des Affenkindes innehat, mit dem ihr Kind streitet. Experimente mit Meerkatzen in Ge fangenschaft haben gezeigt, dass die Tiere durchweg aktuelle Fotografien von Mutter-Kind-Paaren und Paaren nicht ver wandter Affen auseinanderhalten können, selbst wenn die Mutter-Kind-Paare sich überhaupt nicht ähnlich sehen (bei spielsweise erwachsene Mütter und junger Nachwuchs, er wachsene Mütter und erwachsener Nachwuchs usw.). Ähn liche Tests belegen, dass man die Affen dahingehend trainieren kann, Geschwisterpaare, Mutter-Kind-Paare und nicht ver wandte Paare zu erkennen. Diese Experimente sind deshalb so erstaunlich, weil sie anscheinend belegen, dass Affen nicht nur eigene Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch die 61
der anderen in ihrer Gruppe erkennen können. Diese Unter scheidung zwischen Familienangehörigen und anderen Mit gliedern der Gruppe kann übrigens nicht durch die Bindun gen der Affen untereinander erklärt werden. Auch Affen in Gefangenschaft können Verwandtschaftszugehörigkeiten iden tifizieren, und Familien treten in Auseinandersetzungen in nerhalb der Gruppe unabhängig von anderen Bindungsmus tern immer als Verbündete auf. Es gibt berechtigte Zweifel an der Annahme, dass Meer katzen einen Verwandtschaftsbegriff haben. Erstens haben wir keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Affen Verwandtschaf ten väterlicherseits nachvollziehen können. Meerkatzenkinder und ihre Väter erkennen sich nicht und bekennen sich nicht zueinander. Die einzig relevanten Verwandtschaftsbeziehun gen zwischen Meerkatzen sind die Bande zwischen dem Nach wuchs und der gemeinsamen Mutter. Dieser Befund ist merk würdig und verblüffend. Wenn die Meerkatzen überhaupt eine Vorstellung von Verwandtschaft haben, dann jedenfalls nicht als abstraktem Begriff. Vielleicht haben sie ja eine Vor stellung von einer »matrilinearen Sippe«? Aber das wirft ein weiteres Problem auf. Wie lässt sich von jemandem behaup ten, dass er weiß, was Verwandtschaft (oder gar eine matrilineare Sippe) ist, wenn er oder sie keine Ahnung von der Bio logie der sexuellen Fortpflanzung hat? Wenn ein Affe diese biologischen Tatsachen nicht versteht, können wir bestenfalls von ihm sagen, dass er die Mitglieder einer matrilinearen Sippe identifizieren kann. Aber das beweist nicht, dass er - in einem engeren Sinne - versteht, was eine matrilineare Sippe ist. Und es gibt noch weitere Lücken im vermeintlichen Wissen der Af fen. So gibt es beispielsweise keine Anhaltspunkte dafür, dass sie Verwandtschaftsbeziehungen unter den Angehörigen fremder Spezies erkennen können. Aber diese Skepsis im Bezug auf den Geist der Affen geht an der Sache vorbei. Um die Welt eines Affen zu beschreiben, müssen wir eine Welt beschreiben, in der Beziehungen nach Dominanz- und Verwandtschaftsgrad strukturiert sind. Und 62
ganz eindeutig findet sich der Affe in dieser Welt sehr gut zu recht. Wir sind uns vielleicht nicht ganz sicher, ob der Affe nun irgendwie versteht, was wir Verwandtschaft nennen, oder ob er vielleicht nur über einen primitiveren Verwandtschafts begriffverfügt. Aber von dieser Ungewissheit einmal abgesehen, müssen wir anerkennen, dass die Lebensweise von Affen ganz zentral auf Verwandtschaftsbeziehungen beruht - und dahin ter steckt eine beträchtliche kognitive Leistung.
FAZIT: Uns selbst verstehen Das Leben ist die untere Grenze des Bewusstseins. Ich weiß nicht, wo wir die obere Grenze finden werden. Ich schließe die Möglichkeit eines künstlichen Bewusstseins bei Robotern nicht aus. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn der Weg zu künstlichem Bewusstsein nur über künstliches Leben führen würde. Die Frage nach dem Bewusstsein stellt sich bei Lebewesen, und zwar deshalb, weil Lebewesen eine zumindest primitive Handlungsfähigkeit an den Tag legen. Um den Geist und das Leben selbst zu erforschen, müssen wir den ganzen Organis mus in seiner natürlichen Umgebung in Betracht ziehen. Da bei spielen die Neurowissenschaften ebenso eine Rolle wie Chemie und Physik. Aber aus dieser elementaren und nach in nen gerichteten Perspektive bekommen wir nur ein unscharfes Bild von unserem Untersuchungsgegenstand. Die Frage nach dem Bewusstsein stellt sich immer dann, wenn es um Lebewesen geht. Und um diese Frage für einen bestimmten Organismus zu beantworten, müssen wir uns die Einzelfälle im Detail ansehen. Meerkatzen haben ein Bewusst sein, das ihrem Leben entspricht, sie sind nicht bloß Automa ten. Wenn ich auf der richtigen Fährte bin, dann sollten wir Bakterien - auch wenn es weit hergeholt scheint - etwas Ähn liches zugestehen. Bakterien sind primitive Handlungsträger, das heißt: primitive Subjekte. 63
Diese Verbindung zwischen Leben und Bewusstsein ist ent scheidend. Ob ein Wachkomapatient ein Erleben hat, ist un ter anderem deshalb so schwer einzuschätzen, weil sein Le ben gänzlich unterbrochen wurde; gewissermaßen steht für uns sein Leben selbst infrage. Anders verhält es sich, wenn wir uns fragen, ob beispielsweise ein Hummer unsere Berührung spürt. Das Leben eines Hummers können wir anzweifeln, aber nicht, weil es unterbrochen wurde, sondern weil es uns so fremd ist. In beiden Fällen besteht unser Problem jedenfalls nicht darin, dass wir nicht hinter den Vorhang, also ins In nere, schauen können, sondern dass sich das Leben eines Organismus nicht dort abspielt. Im nächsten Kapitel widme ich mich dem Gehirn. Ich möchte herausfinden, welche Rolle es bei der Erklärung des Bewusstseins von Lebewesen spielt. Dabei zeige ich, dass uns die hier entwickelte Sicht ein neues Rüstzeug in die Hand gibt, um das Bewusstsein zu verstehen und zu erklären.
3 DIE DYNAMIK DES BEWUSSTSEINS Wo finden wir uns? In einer Abfolge, deren Grenzen wir nicht kennen und von der wir glauben, dass sie keine hat. Wir erwachen und finden uns auf einer Treppe; unter uns sind Treppen, die wir erklommen zu haben scheinen; über uns sind Treppen, viele an der Zahl, die nach oben und außer Sichtweite führen. Doch der Genius, der nach altem Glauben an der Tür steht, durch die wir eintreten, und uns aus dem Fluss des Vergessens trinken lässt, damit wir nichts preis geben können, hat den Trunk zu stark bereitet, und nun, zur Mittagszeit, können wir die Trägheit nicht abschütteln.
Ralph Waldo Emerson
Wie entsteht das Bewusstsein im Gehirn? Wie ich in diesem Kapitel erörtern werde, entsteht es nicht dort. Für das Be wusstsein ist nicht die neuronale Aktivität an sich von Belang, sondern die neuronale Aktivität im Kontext eines Lebewesens, das Teil seiner Umwelt ist und mit ihr interagiert. Nur so kön nen wir erklären, wie Hirnaktivität zu Bewusstsein führt. Das heißt mit anderen Worten, dass es nicht die neuronale Aktivi tät allein ist, die für Bewusstsein sorgt. Das Gehirn hat mei ner Meinung nach die Aufgabe, ein dynamisches Interaktions muster zwischen Gehirn, Körper und Welt zu ermöglichen. Erfahrung wird von bewussten Wesen mithilfe der Welt voll zogen.
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Magische Membrane Durch welche Eigenschaften der Nervenzellen im Gehirn kön nen wir sehen, fühlen und denken? Das ist eine Fangfrage. Wenn wir momentan überhaupt etwas wissen, dann, dass die Beschaffenheit menschlicher Erfahrung nicht von den Eigen schaften einzelner Neurone bestimmt wird. Das Neuron ist nicht der richtige Untersuchungsgegenstand. Nervenzellen gleichen sich mehr oder weniger und haben denselben Bau plan - ihre Zellkörper werden von verästelten Dendriten innerviert und leiten elektrische Impulse über drahtartige Axone wei ter. Nervenzellen verhalten sich auch alle ähnlich, das heißt, sie sind an elektrochemischen Erregungsmustern beteiligt. Wir können den Geist ebenso wenig mithilfe von Nerven zellen erklären, wie wir das Tanzen mithilfe von Muskeln er klären können. Wenn die Beschaffenheit unserer geistigen Zustände von den Vorgängen im Gehirn abhängt - und das ist der Fall -, dann dürfen wir uns nicht auf einzelne Neuronen beschränken. Heute wissen wir, dass wir umfangreiche neuro nale Populationen und deren dynamische Aktionen über einen bestimmten Zeitraum untersuchen müssen, wenn wir die neu ronale Grundlage des Bewusstseins entschlüsseln wollen. Aber warum sollten wir uns darauf beschränken? Die Funktionsweise des Gehirns wird sich uns nicht offenbaren, indem wir das Kräftespiel umfangreicher Zellpopulationen untersuchen. Wenn wir winzig kleine Außerirdische wären und mit unserem Raumschiff im Gehirn landen würden, könnten wir durch die Beobachtung des dort stattfindenden neuronalen Feuerwerkes nicht sagen, ob überhaupt gerade eine Erfahrung stattfindet, geschweige denn, ob diese Erfah rung beispielsweise eine visuelle Erfahrung ist. Dass wir die Vorgänge im Nervensystem nicht erklären können, liegt viel leicht daran, dass selbst die Wirkungsweise umfangreicher neuronaler Populationen nicht der richtige Untersuchungs gegenstand ist, um das Bewusstsein von Lebewesen zu ver stehen. Und wie uns die Tatsache, dass wir Bewusstseinsphä 66
nomene mithilfe einzelner Neuronen nicht entschlüsseln können, dazu bringt, das Zusammenspiel von Zellpopulatio nen zu untersuchen, so bringt uns die Begrenztheit dessen, was wir mithilfe der Zellpopulationen entschlüsseln können, dazu, unseren Begriff vom Nervensystem zu erweitern. Wir sehen es nun als Teil eines größeren Systems, zu dem der üb rige Körper des Lebewesens sowie dessen Verortung in und In teraktion mit der Umwelt gehören. Vielleicht müssen wir zum Verständnis der neuronalen Prozesse und damit des Beitrages, den das Gehirn bei der Entstehung des Bewusstseins leistet, das in einer Umgebung verortete Lebewesen betrachten. Wenn uns das seltsam erscheint, könnte das an der alther gebrachten Auffassung liegen, dass der Schädel die Grenze zwi schen Innenleben und Außenwelt ist. Und vor allem an der An nahme, dass wir in seinem Inneren stecken und der Geist also nur von dem abhängt, was im Schädel iert. Dieser traditio nellen Sicht zufolge ist die »Außenwelt« für das Bewusstsein nur von Belang, insoweit sie für äußere Reize, also für peri phere Stimulation, sorgt. Aber warum sollten wir die äußere Grenze des Gehirns im Vergleich zu den Grenzen innerhalb des Gehirns (wie zwischen einzelnen Zellen, Zellpopulationen oder Hirnarealen) als etwas Besonderes betrachten? Um es mit Su san Hurleys Worten auszudrücken: Der Schädel ist keine »ma gische Membran«. Was spricht eigentlich dagegen, dass die kausalen Vorgänge, die das Bewusstsein beeinflussen, selbst grenzüberschreitend und daher weltbezogen sein könnten? Ich behaupte, dass wir diese Möglichkeit sehr wohl mit ein kalkulieren müssen, wenn wir das Bewusstsein verstehen wol len. Und in diesem Kapitel beginne ich aufzuzeigen, warum das so ist.
Kein Mensch ist eine Insel Das kindliche Gehirn ist formbar und anungsfähig. Durch Sinnesreize entstehen die Verbindungen und Funktionen, die 67
wiederum normale Bewusstseinsvorgänge ermöglichen. Da her kann der als sensorische Deprivation bezeichnete Entzug von Sinnesreizen nachhaltige Schäden auslösen. David Hubel und Torsten Wiesel demonstrierten dies mit einem Experi ment, bei dem sie Katzen in völliger Dunkelheit aufzogen. Katzen, bei denen während einer kritischen Phase des Heran wachsens das Sehen unterbunden wurde, konnten auch spä ter nicht mehr sehen lernen. Neugeborene Säugetiere sind also form- und beeinflussbar. Die Umwelt selbst erzeugt in uns im wahrsten Sinne die Voraussetzungen, die wir brau chen, um die Umwelt wahrnehmen zu können. Gleichzeitig zeigten Hubel und Wiesel aber auch, dass die Plastizität, also die Anungsfähigkeit des Gehirns, Grenzen hat. Besonders wichtig für die neurologische Entwicklung eines Kindes ist seine Beziehung zu den Mitmenschen. Bruce Wexler stellt in seinem ausgezeichneten Buch zu diesem Thema zum Beispiel die Frage, warum Säugetiere an der Brust nuckeln. Natürlich zur Nahrungsaufnahme, aber auch wegen der Be rührung, also der Stimulation, die wiederum Nahrung für das sich entwickelnde Gehirn ist. Kenneth Kaye hat bewiesen, dass die Nahrungsaufnahme eine grundlegende Rolle in der geistigen Entwicklung eines Kindes spielt. Alle Menschenmüt ter, die an dem Experiment teilnahmen - und nur Menschen mütter, wie sich gezeigt hat -, rütteln den nuckelnden Spröss ling unwillkürlich leicht, wenn er aufhört zu trinken (das gilt auch für Flaschenkinder). Die Säuglinge wiederum warten, bis die Mutter damit aufhört, bevor sie weitertrinken. Kaye vermutet, dass es sich hierbei um eine primitive Form des Abwechselns handelt. Es fällt nicht schwer, dieses Phänomen als eine Art der Protokonversation oder zumindest als einen not wendigen Vorläufer dieser dem Menschen vorbehaltenen Kommunikationsform einzuordnen. Mütter oder andere Bezugspersonen kümmern sich nicht nur einfach um den Nachwuchs. Zwischen Kind und Mutter entwickelt sich ein wechselseitiger Austausch, auf dessen Grundlage sich das Kind körperlich und geistig entwickelt. 68
Ein Kind lernt, Ruhe oder Trost zu finden, wenn es von der Mutter beruhigt oder getröstet wird. Die grundlegenden Kör perfunktionen des Kindes, beispielsweise das Aufstoßen, wer den dem Säugling durch die Mutter leichter gemacht. Die Be zugsperson ändert die Körperhaltung des Kindes, zieht es in eine Sitzhaltung, um es aufzuwecken, oder legt es auf den Bauch, um es auf den Schlaf einzustimmen. Sie lenkt die Auf merksamkeit des Kindes auf verschiedene Dinge und hand habt diese für das Kind. Durch die Aufmerksamkeit der Mut ter für die Bedürfnisse des Kindes lernt das Kind, sich später selbst darum zu kümmern. Die Kind-Bezugsperson-»Dyade« ist also im wahrsten Sinne des Wortes eine Einheit, aus der das Kind nur schrittweise als Individuum hervorgeht. Wir können hier von einer Bindung sprechen, aber ich spreche lieber von einem Einssein. Die Trennung von der Mutterfigur erfolgt in gewisser Hinsicht ohnehin nur unvollständig; je denfalls für die meisten von uns. Aus der Gemeinschaft der anderen und den weiter gefassten Strukturen und Gegeben heiten unserer Umgebung - Licht, Geräusche, Gerüche, Bo den, Luft, Technik - können wir uns auf keinen Fall komplett lösen, denn durch die Auseinandersetzung mit ihnen werden wir überhaupt erst zu dem, was wir sind. Unser Heranreifen ist also weniger ein Prozess der Selbstwerdung und Loslösung als ein Einleben in das Umfeld. Wir entwickeln uns zu etwas Eigenständigem, binden uns aber trotzdem an die Welt um uns herum. Wir integrieren uns. In dem wir lernen, zu laufen, eine Sprache zu beherrschen, eine Freundschaft aufzubauen, einen Beruf auszuüben, die Tech nik zu steuern und sie zu nutzen, verwurzeln wir uns in einem praktischen Umfeld. Das ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum radikale Veränderungen am Umfeld eines Menschen der Umzug in ein anderes Land, der Verlust eines Ehepartners oder rasanter technischer Wandel - einschneidend sind oder diesen Menschen vielleicht sogar an seine Grenzen bringen, besonders wenn sie in späteren Lebensjahren auftreten. Wenn wir einen Teil des Umfeldes verlieren, der eng mit unseren 69
Tagesabläufen verbunden ist, verlieren wir einen Teil unseres Selbst. Diesem Thema werde ich mich im nächsten Kapitel noch einmal zuwenden. Es ist nicht so, dass Hans nicht mehr lernen könnte, was Hänschen nicht gelernt hat, denn manchmal schafft Hans das durchaus. Aber dafür muss Hans eben wieder zum Hänschen werden. Jemand sagte einmal zu mir, dass man seine Arbeits stelle etwa alle sieben Jahre wechseln solle, weil einen das jung halte. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass Verände rungen uns zu einer Erneuerung unseres Selbst zwingen, weil wir uns im Hinblick auf neue äußere Gegebenheiten, neue Gewohnheiten und eine anders geartete Auseinandersetzung mit dem Umfeld abermals entwickeln müssen. Außerdem kommt es einem nach einem Bruch mit einer vertrauten Situa tion interessanterweise so vor, als würde die Zeit langsamer verstreichen. Wenn das Leben zur Routine geworden ist, ver schmelzen die Tage, Wochen und Monate ineinander, ein Tag ist wie der andere. Die Tage bilden einen Bogen, unter dem sich der eigene Lebensentwurf entfaltet. Wenn diese Routine jedoch unterbrochen wird, weil wir umziehen oder auch nur auf Reisen gehen, wird jeder Tag zu etwas Besonderem. Eine Woche, in der wir versuchen, in einer neuen Stadt Fuß zu fassen, kann uns wie ein ganzes Leben er scheinen! Es ist ein verlockender Handel: Wir geben Bequem lichkeit und auch ein wenig unserer Leistungsfähigkeit auf, aber dafür bekommen wir Zeit und Jugend. Genau diese Dynamik können wir auch in der Entwicklung eines jungen Menschen beobachten. Ein Sommer kann einem Kind wie eine Ewigkeit Vorkommen. Denken wir nur ans Spie len. Toben, Schwimmen, Lesen, an die Leute, an die Einkaufs bummel und die langen Nächte! Wenn wir jedoch älter wer den, müssen wir dem Tag eine sinnvolle Struktur geben, wir müssen ihn planen. Im Schatten der eigenen Pläne wird das Leben zu etwas Organisiertem und verliert dabei in mancher Hinsicht das Überraschende. Alt zu werden heißt, das Über raschende aufzugeben. Wenn wir das nicht wollen, müssen 70
wir gewissermaßen jung bleiben. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum wir Kinder bekommen. Doch der Preis, den wir zahlen, wenn wir die Lebens umstände regelmäßig ändern, ist hoch. Im Alter verlassen uns die Kräfte, doch brauchen wir viel Energie, um uns an ein neues Umfeld anzuen. Und außerdem können wir man che Dinge nur erreichen, wenn wir uns für einen bestimmten Lebensweg entschieden haben. Die angenehmen Seiten des häuslichen Lebens oder die Geschicklichkeit, die wir erlan gen, wenn wir ein Handwerk, ein Geschäft oder einen Beruf vollkommen beherrschen, bleiben vermutlich auf der Strecke, wenn wir zu viel in Bewegung sind. Wenn man die Anungsfähigkeit des Gehirns richtig interpretiert, folgt daraus, dass unsere geistige Entwicklung eben nicht nur mit dem Gehirn zu tun hat. Wie Wexler he rausgefunden hat, können andere Lebewesen nicht einmal das Sprachvermögen eines Menschen erreichen, dem als Kind die »Sprachzentren« im Gehirn operativ entfernt worden sind. Daraus folgt, dass unser Sprachvermögen nicht das Produkt einer bestimmten neuronalen Struktur ist. Die Sprache ist eine gemeinsam ausgeübte kulturelle Praxis, die nur von einer Person erlernt werden kann, die sich als eine unter vielen in einem spezifischen kulturellen Ökosystem befindet. Wie wir nun sehen werden, kann uns die Plastizität des Gehirns auch viel über das Bewusstsein verraten.
Neuroplastizität und Bewusstsein Was ist an einem bestimmten Gehirnvorgang dafür verant wortlich, dass wir sehen und nicht beispielsweise hören, rie chen oder überhaupt nichts wahrnehmen? Das ist eine Frage nach dem Bewusstsein, nach dem spezifischen Charakter der Erfahrung. Insbesondere ist es eine Frage nach der neuronalen Basis für die qualitative Beschaffenheit unserer bewussten Episoden. Wodurch wird aus dem unverkennbaren Knacken, 71
Knistern und Knallen der Neurone eine Erfahrung, die eine bestimmte Beschaffenheit und nicht eine andere hat? Die Wissenschaft kann diese Frage nicht beantworten. Bis zum heutigen Tag ist man nicht in der Lage, die sogenannte Erklärungslücke zwischen den neuronalen Zuständen auf der einen Seite und bewusster Erfahrung auf der anderen Seite zu schließen. Aus meiner Sicht ist das nicht überraschend. Wir können die qualitative Beschaffenheit der Erfahrung nicht mit der intrinsischen Natur der Hirnvorgänge erklären, weil es an Hirnvorgängen nichts gibt, was beispielsweise beson ders »visuell« wäre. Das bedarf einer Erläuterung. Wenden wir uns dazu einer Reihe beeindruckender und höchst aufschlussreicher Unter suchungen an Frettchen zu, die Mriganka Sur mit seinen Kol legen am MIT durchführte. Sur und sein Team nahmen einen hirnchirurgischen Eingriff an neugeborenen Frettchen vor und verknüpften deren Augen mit dem Teil des Gehirns, der für das Hörvermögen verantwortlich ist. Sie operierten die Frettchen dahingehend, dass die Zellen in den Augen, die nor malerweise Verbindungen zu den Seharealen des Gehirns aus bildeten (also zum visuellen Thalamus und zur Sehrinde), nun stattdessen in die Hirnareale wuchsen, die normalerweise dem Hören Vorbehalten sind. Da das Gehirn von neugeborenen Frettchen noch besonders schwach entwickelt ist, eignen sich diese Tiere sehr gut für solche Experimente. Nun könnten wir vermuten, dass die derart umgepolten Frettchen jetzt mit den Augen hörten. Schließlich waren die Augen ja mit der Hörrinde des Gehirns verbunden. Stattdessen konnten sie jedoch mit der Hörrinde sehen. Das ist eine be merkenswerte Erkenntnis. Sie zeigt, dass die Beziehung zwi schen den Hirnarealen und der bewussten Erfahrung (also beispielsweise zwischen der Hörrinde und der akustischen Wahrnehmung sowie zwischen der Sehrinde und der visuel len Wahrnehmung) formbar ist. Sur hat mit seinem Expe riment die normale Verknüpfung zwischen der neuronalen Aktivität in einem bestimmten Hirnareal und der visuellen 72
Wahrnehmung faktisch aufgehoben. Normalerweise werden durch die neuronale Aktivität in der Sehrinde visuelle Wahrnehmungen hervorgerufen. Doch die modifizierten Frettchen sehen, obwohl ein ganz anderer Teil ihres Gehirns aktiviert wird. Indem er die normale Verbindung zwischen den Augen (oder der Netzhaut) und dem Gehirn veränderte, bewirkte Sur eine Neukartografierung von Erfahrung und Gehirn. (Genau genommen operierte Sur nur an einer Gehirnhälfte, sodass die Frettchen mit der anderen, unveränderten Hörrinde pro blemlos hören konnten.) Diese Verschiedenheit von Bewusstseinsvorgängen bei gleichbleibender neuronaler Basis zeigt uns, dass die Zellen der auch als visueller Kortex bezeichneten Sehrinde nichts be sonders Visuelles an sich haben. Die Zellen der Hörrinde kön nen, genauso »visuell« sein. Es gibt keine zwingende Verbin dung zwischen der qualitativen Beschaffenheit der Erfahrung und dem Verhalten bestimmter Zellen. Und diese Feststellung bedeutet wiederum, dass wir un seren Blick über die unmittelbare neuronale Aktivität hinaus richten müssen, wenn wir verstehen wollen, warum bestimmte Zellen oder Hirnareale am Sehen und nicht am Hören bezie hungsweise am Hören und nicht am Sehen beteiligt sind. Die Beschaffenheit unserer bewussten Erfahrung kann sich ver ändern, obwohl die damit einhergehende neuronale Aktivität sich nicht verändert. Das ist die Grunderkenntnis aus Surs Studien. Daraus folgt, dass die Beschaffenheit unserer bewuss ten Erfahrung nicht von der dazugehörigen neuronalen Akti vität bestimmt und kontrolliert wird.
Die Lücke schließen Die Beziehung zwischen Bewusstsein und Gehirn wird ein wenig klarer, wenn wir uns Situationen ansehen, in denen das normale Verhältnis zwischen neuronaler Aktivität auf der einen und unterschiedlichen Erfahrungsgehalten auf der an 73
deren Seite abgeändert wird. Das heißt, wir untersuchen auf der Grundlage der Plastizität des Gehirns, warum die neuro nale Aktivität mit der Erfahrung auf eine bestimmte Weise verbunden ist. Diese Strategie haben Susan Hurley und ich bis zu ihrem Tod im Sommer 2007 über mehrere Jahre hinweg verfolgt. Die Frettchen aus Surs Experimenten sind ein solches Bei spiel. Dem können wir einen anderen Fall gegenüberstellen, nämlich das allseits bekannte, doch gleichwohl kuriose Phä nomen des Phantomschmerzes. Berührt man beispielsweise einen handamputierten Patienten im Gesicht, glaubt die ser mitunter, dass man ihn an der fehlenden Hand berührt hat. Warum? Die Hand- und Gesichtsareale liegen im Kortex nebeneinander. Nach einer Amputation ist das Handareal in aktiv, es wird nicht gebraucht. Das benachbarte Gesichtsareal scheint auf das Handareal überzugreifen oder sich irgendwie damit zu verknüpfen. Durch diese Verflechtung kommt es nun bei einer Berührung des Gesichtes zu zwei verschiedenen Reaktionen im Kortex. Zum einen wird das Gesichtsareal durch das Gefühl, im Gesicht gestreichelt zu werden, akti viert. Zum anderen wird das Handareal durch das Gefühl, an der nunmehr fehlenden Hand berührt zu werden, aktiviert. Das durch die Berührung im Gesicht entstandene Gefühl, an der Hand berührt worden zu sein, entsteht aus dem gleichen Grund, wie das Licht angeht, wenn man auf den Klingelknopf drückt, wenn man Klingel und Lichtschalter miteinander ver drahtet hat. Der Gegensatz zwischen den Frettchen aus Surs Versuchen und dem Phantomschmerz ist beeindruckend. Surs Frettchen hören nicht mit den Augen, sondern sehen mit der Hörrinde: Die Hörrinde ändert also ihre Funktion für das Bewusstsein, weil sie von den Augen Reize empfangen hat. Aber im Fall der »übertragenen Empfindungen« des Phantomschmerzes ver hält es sich genau andersherum. Ein Patient mit Phantom schmerz spürt - so verrückt das auch klingen mag - Berüh rungen an der Hand mit dem Gesicht, anstatt das Gesicht im 74
kortikalen Handareal zu spüren. Warum? Weil das Gesicht nun mit dem Handareal im Kortex verknüpft ist. Eine Aktivie rung des Handareals erzeugt weiterhin das Gefühl, an der Hand berührt zu werden, obwohl der Reiz von der Berührung des Gesichtes und nicht der Hand ausgeht. Warum ruft eine Veränderung der Stimulationsquelle eines Kortexareals manchmal eine Veränderung der qualitativen Be schaffenheit der daraus resultierenden Erfahrung hervor, wie bei Surs Frettchen, und manchmal nicht, wie beim Phantom schmerz? Am Ende dieses Buches verweise ich auf einen Aufsatz, in dem Susan Hurley und ich versucht haben, diese Frage aus führlich zu beantworten. Aber eine kurze Antwort kann ich an dieser Stelle schon einmal geben. In gewisser Hinsicht habe ich das ja sogar schon: Dass diese Neuverknüpfungen sich auf das Bewusstsein in dieser Art und Weise auswirken, liegt nicht an der intrinsischen Beschaffenheit der neurophysiologischen Veränderungen selbst, sondern vielmehr am weiter gefassten Umfeld oder Kontext, in dem diese neurophysiologischen Veränderungen stattfinden. Nun stellt sich die Frage: Was ist dieser weiter gefasste Kon text, mit dem wir hoffentlich die Auswirkungen neuronaler Neuverknüpfungen auf die bewusste Erfahrung erklären kön nen? Einfacher gefragt: Welche Faktoren sind bestimmend für die Beschaffenheit der Erfahrung und deren Verbindung zu neuronalen Vorgängen? Im Folgenden werde ich aufzeigen, dass der relevante Kontext über das Gehirn hinausgeht und die aktive Beziehung des Lebewesens zu seiner Umgebung mit einbezieht.
Sensorische Substitution Wie wir bereits festgestellt haben, ist eine neuronale Neuver knüpfung allein noch nicht hinreichend, um die qualitative Beschaffenheit der dazugehörigen Erfahrung zu verändern. 75
Das belegt das Phänomen des Phantomschmerzes. Wie sich zeigt, ist eine Neuverknüpfung für Veränderungen am Be wusstsein aber auch nicht einmal notwendig. Ende der Sechzigerjahre entwickelte der Ingenieur und Physiologe Paul Bach-y-Rita ein Gerät, das Blinden das Sehen ermöglichen sollte. Er arbeitete an diesem Projekt bis zu sei nem Tod im Jahr 2006 und hatte mit seinem Vorhaben tat sächlich Erfolg. Bach-y-Ritas Gerät gilt zwar aus mehreren Gründen als unpraktisch, es ist unhandlich und letztlich noch nicht für den täglichen Gebrauch geeignet. Doch aus theoretischer Sicht hat Bach-y-Ritas Arbeit weitreichende Kon sequenzen. Bach-y-Rita betrachtete die Augen als einen Kanal, durch den Informationen zum Nervensystem gelangen. Daher sollte es doch auch möglich sein, dem Gehirn die gleichen visuellen Informationen durch einen anderen Kanal zu lie fern. Er tüftelte also ein Konzept aus und löste das Problem schließlich so: Er verdrahtete eine Kamera mit einer Reihe Vibratoren, die er am Schenkel oder Bauch der Versuchsperson befestigte. Durch die Verdrahtung wurden die von der Kamera eingefangenen visuellen Informationen in Druckpunkte auf der Haut der Versuchsperson übersetzt. Nun konnte die Ver suchsperson, wenn man ihr die Kamera auf Kopf oder Schul ter befestigte, durch die von den Kamerabildern auf den Kör per übertragenen Druckempfindungen die Größe, Form und Anzahl von Gegenständen auf der anderen Seite des Zimmers einschätzen. Mithilfe des Gerätes konnte ein blinder Mensch nach Gegenständen greifen und sogar mit einem Tischtennis schläger einen Ball treffen. Das ist erstaunlich. Ein Blinder kann also mit einem sensorischen Substitutionsgerät wirk lich sehen! Irgendwie werden nach ein paar Stunden Ein gewöhnungszeit die Druckempfindungen auf Beinen oder Bauch für die Versuchsperson zu einer Ait Sehen. Hier möchte ich nun hervorheben, dass die taktil-visuelle sensorische Substitution ein ernst zu nehmendes, echtes Bei spiel für eine Veränderung des Wahrnehmungsbewusstseins ist, wie wir sie bereits bei Surs Frettchen gesehen haben. Durch 76
die Stimulation der Haut entsteht eine neuronale Aktivität in dem Bereich des Gehirns, der für die haptische Wahrnehmung verantwortlich ist (der sogenannte somatosensorische Kor tex). Doch bei einem Menschen, der sich an ein sensorisches Substitutionsgerät anget hat, entsteht durch die Aktivie rung der somatosensorischen, haptischen Hirnareale nicht das Gefühl, berührt zu werden (oder zumindest nicht aus schließlich das Gefühl, berührt zu werden), sondern eine visuelle Wahrnehmung der Geschehnisse vor ihm. Die hap tischen Areale des Gehirns ändern ebenso wie die Hörrinde der Frettchen ihre Funktion für das Bewusstsein. Doch kön nen wir im Gegensatz zu Surs Frettchen die Veränderung der Bewusstseinsfünktion bei der sensorischen Substitution nicht damit erklären, dass der Kortex neue oder ungewohnte Reize empfangen würde - einfach deshalb, weil die empfangenen Reize nicht neu oder ungewohnt waren. Die Druckpunkte auf der Haut aktivierten den somatosensorischen Kortex ja auf althergebrachte Art und Weise. Wenig plausibel wäre auch die Erklärung, dass im somatosensorischen Kortex ein neurophysiologischer Umbau stattgefunden hat. Schließlich waren Bach-y-Ritas Versuchspersonen erwachsen und ihr Gehirn daher kaum noch formbar. Außerdem hatten sich die Ver suchspersonen innerhalb von Stunden und Minuten, nicht innerhalb von Wochen oder Tagen an das sensorische Substi tutionsgerät gewöhnt. Diese Zeit reicht für signifikante Neuverknüpfüngen im Gehirn schlichtweg nicht aus. Bei Bach-y-Ritas sensorischem Substitutionsgerät t sich nur die Wahrnehmung an, nicht das Gehirn. Gibt es einen besseren Grund für die Erkenntnis, dass wir nicht nur im Ge hirn suchen dürfen, wenn wir wissen wollen, was die von uns beobachteten drastischen Veränderungen an der Beschaffen heit der Erfahrung hervorruft? Aber wo sonst? Wenn keine Neuverknüpfung oder entsprechende neurophysiologische Veränderung im somatosensorischen Kortex stattgefunden hat, wodurch erklärt sich dann die Veränderung der qualita tiven Beschaffenheit der dazugehörigen Erfahrung? 77
Uber das Gehirn hinausschauen Wir sind so sehr von der Vorstellung eingenommen, dass un ser Erfahren von neuronalen Vorgängen in unserem Inneren gesteuert wird, dass wir die natürliche und offensichtliche Erklärung für die Erfahrungsveränderung bei taktil-visueller sensorischer Substitution einfach übersehen. Auch Bach-yRita ging davon aus, dass es die Aufgabe des Gerätes ist, visuelle Informationen über einen neuen Kanal an das Gehirn wei terzuleiten. Aber stellen wir uns einmal folgende Frage: Was macht das sensorische Substitutionsgerät von Bach-y-Rita eigentlich? Im Prinzip stellt es eine vorher nicht da gewesene Verbindung zwischen dem Wahrnehmenden und den Gegen ständen in seiner Umgebung her. Wenn man das Gerät trägt, erhält man Hautreize, die auf neuartige, doch absolut syste matische Weise von der Veränderung der räumlichen Bezie hung des Wahrnehmenden zu den Gegenständen in seiner Umgebung abhängen. Das sensorische Substitutionsgerät hat damit faktisch eine neue Verbindungsart mit der Umwelt ge schaffen. Und das ist auch der Schlüssel zu unserem Rätsel. Die Be schaffenheit unserer Erfahrung - also das, was die Erfahrung zu einer bestimmten Art von Erfahrung macht - wird nicht allein durch die neuronale Aktivität in unserem Gehirn, son dern vielmehr durch unsere kontinuierliche, dynamische Be ziehung zu unserer Umgebung gesteuert. Und diese Beziehung hängt - wie in diesem Fall - ganz eindeutig von der Reaktions fähigkeit der Neuronen auf eine sich verändernde Beziehung zum Umfeld ab. In dieser erweiterten, sensomotorischen Aus einandersetzung mit der Welt finden wir die Antwort, warum wir mithilfe des taktil-visuellen sensorischen Substitutions gerätes sehen können. Ich vertrete folgenden Ansatz: Wir sehen mit dem Gerät von Bach-y-Rita, weil die Beziehung, die das Gerät zwischen dem Wahrnehmenden und dem Gegen stand aufbaut und aufrechterhält, auf eine präzise beschreib bare Weise die gleiche Beziehung ist, die wir beim Sehen Ge 78
genständen gegenüber einnehmen. Woran liegt es, dass eine neuronale Aktivität in den haptischen Hirnarealen im Be wusstsein plötzlich etwas anderes bewirkt? Die Antwort ist: Es liegt an der Welt und unserer Beziehung zu ihr.
Aktive Wahrnehmung Bis jetzt hat man das Sehen üblicherweise als etwas betrach tet, das in uns geschieht, als ein Phänomen der Netzhaut und verschiedener Strukturen im Gehirn. Ich werde diese Ansicht und einige der daraus resultierenden Probleme im sechsten und siebenten Kapitel noch ausführlicher diskutieren. Vorerst möchte ich etwas heraussteilen, was ohnehin selbstverständ lich sein sollte, nämlich dass das Sehen in vielerlei Hinsicht eine körperliche Tätigkeit ist. Beim Sehen bewegen wir die Augen, den Kopf und den Körper. Wichtiger noch, die Bewe gungen der Augen, des Kopfes oder des Körpers bewirken ihrerseits wieder eine Veränderung der auf das Auge aus geübten Sinnesreize. Anders ausgedrückt: Wie die Dinge aussehen, hängt auf eine feine, nuancierte Art davon ab, was wir tun. Wenn wir uns einem Gegenstand nähern, rückt dieser ins Gesichtsfeld. Wenn wir uns abwenden, verschwindet er aus dem Gesichtsfeld. Wenn wir die Augen schließen, ist er weg. Wenn wir um den Gegenstand herumgehen, verändert sich sein Profil. So gibt es viele verschiedene Abhängigkeitsmuster zwischen einfachen Sinnesreizen einerseits und den Körper bewegungen andererseits. Und natürlich ist es eine der wich tigsten Aufgaben eines wahrnehmenden Wesens, dieses dyna mische Wechselspiel zwischen Sinnesreiz und Bewegung zu beherrschen. Das lässt Raum für eine völlig neue Sicht auf die Wahrneh mung. Kevin O’Regan und ich haben genau einen solchen An satz entwickelt. Diesem sensomotorischen, handlungs- oder aktionsbezogenen Ansatz zufolge ist das Sehen nicht etwas, das in uns, in unserem Gehirn oder mit uns geschieht. Das 79
Sehen ist etwas, das wir tun. Es ist eine Tätigkeit, bei der wir die Welt mithilfe unseres praktischen Wissens darüber erfor schen, wie unsere Bewegungen unsere Sinneswahrnehmung der Welt bedingen und verändern. Sehen ist eine Technik. Sehen ist deshalb visuell, weil wir bei dieser Erkundung der Umwelt auf unser Verständnis der Bewegungsarten zurück greifen, mit deren Hilfe wir sensorische Veränderungen hervorrufen - insbesondere der Bewegungsarten, die vom Auge abhängen. Wenn wir blinzeln, die Augen oder den Kopf be wegen oder unsere Position zu einem Gegenstand verändern, führt das zu typischen augenabhängigen sensorischen Er eignissen. Die Welt zeigt sich also deshalb unserem visuel len Bewusstsein - und Gegenstände zeigen sich uns deshalb mit all ihren räumlichen und sichtbaren Merkmalen -, weil wir das Wechselspiel zwischen den augenabhängigen, visuel len Sinnesreizen und unseren Bewegungen so gut beherr schen. Andere Sinnesmodalitäten wie das Hören und das Fühlen sind ebenso ein Mittel zur Erkundung der Umwelt, aber die Art, wie sich die Welt durch Hören oder Tasten zeigt, beruht auf völlig anders strukturierten sensomotorischen Abhängig keiten. Es gibt zum Beispiel keine haptische Wahrnehmung von Rechteckigkeit. Um einen Gegenstand durch Tasten als rechteckig wahrzunehmen, müssen wir die sensorische Er kundung dieses Gegenstandes strukturieren, das heißt, wir müssen die eigenen Bewegungen präzise lenken oder unter binden. Erstaunlicherweise können wir einen Gegenstand als rechteckig wahrnehmen, auch wenn wir nur eine Ecke ab tasten, und das gelingt uns, weil wir ein praktisches Verständ nis der Bewegungen haben, die entlang der Konturen des Ge genstandes möglich sind. Ebenso kann ich, wenn ich ein Haus sehe, ein visuelles Gespür für die Präsenz des gesamten Hau ses entwickeln, auch wenn ich von meinem Standpunkt aus beispielsweise nur die Fassade sehen kann. Der Rest des Hau ses ist für mich auch gegenwärtig, weil ich ein implizites, praktisches Verständnis davon habe, dass meine Beziehung zu 80
dem Haus als Ganzem von einem bestimmten Repertoire an Erkundungsmöglichkeiten beeinflusst wird. Aus dieser Perspektive sind alle Sinnesmodalitäten eigent lich Möglichkeiten der Umwelterkundung und unterscheiden sich voneinander in der Art, wie sich Musiker voneinander durch ihren Stil unterscheiden - also durch eine Vielfalt an Bewegungen, Erwartungen und Fertigkeiten, die sie beim Ins trumentalspiel einsetzen.
Zurück zur sensorischen Substitution Mit diesem Ansatz können wir nun auch erklären, was an Bach-y-Ritas sensorischem Substitutionsgerät »visuell« ist. Es ist deshalb visuell, weil man damit die Umwelt auf der Grund lage eines visuellen, sensomotorischen Verständnisses erkun det. Die Abhängigkeit zwischen Sinnesreiz und Bewegung bei der taktil-visuellen sensomotorischen Substitution ist also so ähnlich wie die Abhängigkeit zwischen Sinnesreiz und Bewe gung beim Sehen. Beide verlaufen nach dem gleichen Muster. So werden bei der taktil-visuellen sensorischen Substitution ebenso wie beim normalen Sehen Gegenstände größer, wenn man sich ihnen nähert, und verschwinden aus dem Gesichts feld, wenn man sich abwendet. Trotzdem können wir einräumen, dass die taktil-visuelle sensorische Substitution nicht dasselbe wie Sehen ist. Der handlungsbezogene Ansatz, den ich hier erläutert habe, unter mauert diese Tatsache und setzt sie eigentlich sogar schon voraus. Wenn die Wahrnehmung von unserer sensomotorischen Fertigkeit abhängt, dann hängt sie schließlich auch von der Beschaffenheit unserer Körpers ab, denn unser Körperaufbau bedingt unsere Fertigkeiten. Weil die Wahrnehmungsaktivität bei diesen beiden Formen der Umwelterkundung derart un terschiedlich verkörpert wird, muss es zwangsläufig prägnante Unterschiede zwischen der taktil-visuellen sensorischen Subs titution und dem Sehen geben. Erst auf einer abstrakteren 81
Ebene erkennen wir, dass die taktil-visuelle sensorische Subs titution und das Sehen im Wesentlichen die gleiche sensomotorische Struktur haben. Selbst wenn wir darauf bestehen, dass die taktil-visuelle sensorische Substitution nicht visuell ist, müssen wir doch zugeben, dass sie auch nicht taktil ist. Es handelt sich dabei nicht im Entferntesten um eine Art der Tastwahrnehmung. Beim Tasten erkunden wir die Gegenstän de in unserer Umgebung, indem wir sie berühren; bei der tak til-visuellen sensorischen Substitution dagegen erkennen wir die Lage der Gegenstände in unserer näheren und weiteren Umgebung auf die gleiche Weise wie beim Sehen. Nun könnten Sie einwenden, dass wir aber doch Druck punkte auf der Haut spüren, wenn wir die Welt mit einem sensorischen Substitutionsgerät erkunden. Tatsächlich kön nen wir uns nachgewiesenermaßen auf diese Empfindungen konzentrieren, wenn wir uns ein wenig anstrengen. Doch ist damit nicht bewiesen, dass es bei der taktil-visuellen senso rischen Substitution einfach nur darum geht, die Haut zu sti mulieren. Zum einen erfordert es eine willkürliche, bewusste Anstrengung, die Aufmerksamkeit von dem Umfeld abzuwen den, das wir erkunden möchten, und uns stattdessen auf die Druckpunkte zu konzentrieren - genauso wie es einiger An strengung bedarf zu ignorieren, was wir gerade sehen, und uns stattdessen auf den Druck der Brillenbügel auf den Ohren zu konzentrieren. Die Druckpunkte sind allenfalls eine ur sächliche Nebenwirkung, die durch die Funktionsweise des Gerätes entsteht. Wenn wir die auf der Haut gespürten Druck punkte mit der Modalität der Erfahrung verwechseln, dann könnten wir ebenso gut behaupten, dass das Sehen mit Son nenbrille eine Tastwahrnehmung ist, denn schließlich kön nen wir unsere Aufmerksamkeit ja auch auf das Gefühl des kalten Metallgestells auf der Haut konzentrieren. Dass wir das Gestell spüren, ebenso wie wir die Druckpunkte am Bein empfinden, ist eine Begleiterscheinung einer Wahrnehmungs aktivität und nicht deren wesentlicher Bestandteil.
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Was daraus folgt Die zentrale These meiner Theorie des Wahrnehmungsbe wusstseins ist folgende: Nicht die intrinsische Beschaffenheit eines Sinnesreizes bestimmt die Beschaffenheit der Erfah rung, sondern diese beruht hauptsächlich darauf, wie sich die Sinnesreize in Abhängigkeit von den Bewegungen ändern, mit denen der Wahrnehmende sein Umfeld erkundet. Und genau das zeigt sich bei der taktil-visuellen sensorischen Substitution. Dass das sensorische Substitutionsgerät einen visuellen (oder quasivisuellen) Charakter hat, liegt nicht an der Beschaffenheit der neuronalen Aktivität im somatosensorischen Kortex, sondern daran, wie die neuronale Aktivität in Abhängigkeit von der Bewegung variiert. Und die Art und Weise, wie die neuronale Aktivität in Abhängigkeit von der Bewegung variiert, ist die Gleiche wie beim Sehen. Um die Funktion der Sehrinde zu übernehmen, muss ein Hirnareal eine bestimmte Stellung in einem sehr spezifischen, dynamischen, sensomotorischen Kontext haben. Damit können wir nun auch genau verstehen, warum sich bei den Frettchen, deren Augen mit der Hörrinde verknüpft wurden, die qualitative Funktion des Kortex änderte. Durch den operativen Eingriff wurde eine visuelle, sensomotorische, dynamische Struktur geschaffen. Die Hörrinde des Frettchens wird zur Sehrinde, weil sie in ebenjene Struktur eingebunden wird. Und weil beim Beispiel des Phantomschmerzes das Hand areal eben nicht erfolgreich in eine neue Struktur integriert wird, gerät die neuronale Aktivität im Handareal quasi ins Schleudern. Der Phantomschmerz ist die Folge einer fehlen den dynamischen Integration der neuronalen Aktivität des Handareals.
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Gehirn und Welt Diese Plastizität des Bewusstseins, die wir bei den Frettchen und auch bei der taktil-visuellen sensorischen Substitution beobachtet haben, kann man nicht nur mit der Beziehung zwischen neuronaler Aktivität und der sensorischen Periphe rie des Nervensystems (wie Netzhaut, Hörschnecke oder Haut rezeptoren) erklären. Um den Ursprung der Erfahrung zu verstehen, müssen wir diese neuronalen Vorgänge im Zusam menhang mit der aktiven Beziehung zwischen einem bewuss ten Lebewesen und dessen Umwelt sehen. Wir müssen die dy namischen Wechselwirkungen analysieren, die über die ganz und gar nicht magische Membran des Schädels hinausgehen. Das Erfahren unserer Umwelt ist etwas, das wir tun, es ist et was, das wir durch unsere dynamischen Lebensaktivitäten und mithilfe der Welt ausführen. Es ist nicht etwas, das in uns geschieht. Das Schöne an dieser Sicht auf das Gehirn und die mensch liche Erfahrung ist, dass wir so auch die Unabdingbarkeit des Gehirns für die menschliche Erfahrung verstehen können, ohne deshalb gleich anzunehmen, dass es magische Kräfte be sitzt. Das Gehirn erzeugt nicht ein Bewusstsein, so wie ein Ofen Wärme erzeugt. Viel besser lässt sich das Gehirn mit ei nem Musikinstrument vergleichen. Ein Instrument spielt keine Musik oder bringt eigenständig Klänge hervor. Es ermöglicht es dem Menschen, Musik zu spielen oder Klänge hervorzu bringen. Cricks Vorstellung, dass wir unser Gehirn sind - oder einfacher ausgedrückt, dass das Bewusstsein ein Phänomen des Gehirns ist, so wie die Verdauung ein Phänomen des Ma gens ist -, wirkt so abstrus wie die Vorstellung von einem Or chester, das von allein spielt. Natürlich hat das Gehirn eine Aufgabe. Wie ich gezeigt habe, deutet eine sorgfältige Analyse der Wechselbeziehung zwischen der Erfahrung und den Vorgängen im Gehirn da rauf hin, dass diese Aufgabe darin besteht, unsere Auseinan dersetzung mit der Umwelt zu koordinieren. Die Funktion 84
des Gehirns lässt sich also nur im Kontext der verkörperten Existenz eines Lebewesens verstehen, das in ein Umfeld ein gebunden ist und dynamisch mit Objekten und Situationen interagiert. Das ist eine einschneidende Erkenntnis. Zum einen bedeu tet es, dass die Welt als etwas beschrieben werden kann, was zur Maschinerie unseres Bewusstseins gehört. Das ist keine Metapher, sondern eine fundierte empirische Hypothese. Zu mindest das Wahrnehmungsbewusstsein ist eine erworbene Anung an Objekte (und die Umwelt). Das Sehen ist eine Art der geübten Interaktion mit den Dingen, die wir sehen. Ohne Gehirn ließe sich das nicht bewerkstelligen, aber ohne die Dinge auch nicht. Das Gleiche lässt sich über den Körper sagen (das heißt den übrigen Teil des Körpers, der nicht zum Gehirn gehört): Er strukturiert und formt die Beziehungen, die wir mit unserer Umwelt eingehen können. Die Welt zeigt sich uns dank des Vermögens unseres Körpers, unsere Bezie hungen zu ihr zu koordinieren. Und natürlich ist dazu auch das Gehirn notwendig.
FAZIT: Eine Erweiterung der Maschinerie des Geistes Anfangs hatten wir uns die Frage gestellt, welche Eigenschaf ten einzelner Zellen die qualitative Beschaffenheit mensch licher Erfahrung erklären. Jetzt stellen wir fest, dass wir das Bewusstsein am falschen Ort suchen, wenn wir es im Gehirn vermuten. Wir müssen unsere Vorstellung von der Maschine rie des Bewusstseins über das Gehirn hinaus erweitern und nicht nur das Gehirn, sondern auch unser aktives Leben im Zusammenhang mit unserer Welt einbeziehen. Das hat uns die Biologie des Bewusstseins nun gezeigt. Im nächsten Kapi tel erörtere ich einige der Folgen dieser neuen Sicht auf das Bewusstsein.
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4 WEITER GEIST Inzwischen wissen wir es besser. Inzwischen wissen wir. dass das menschliche Leben, dessen Entfaltung der Psychologie als Gegenstand dient, der schwierigste und komplizierteste Untersuchungsgegenstand ist, dem sich der Mensch zuwenden kann. Wir kennen einige der Verzweigungen und Verbindungen des Le bens. Wir verstehen, dass der Mensch mehr ist als eine geschickt abgestimmte physische Maschine, die man als isoliertes Individuum betrachten und auf einen Operationstisch legen kann, um sie sorgfältig zu ana lysieren und zu sezieren. Wir wissen, dass das Leben des Menschen an das Leben der Gesellschaft, an die Nation in Ethos und Nomos gebunden ist; wir wissen, dass es durch Erziehung, Tradition und Vererbung eng mit der gesamten Menschheitsgeschichte verknüpft ist; wir wissen, dass der Mensch faktisch der Mikro kosmos ist, der in sich die Reichtümer der Welt ver eint, sowohl des Raumes als auch der Zeit, sowohl der physischen als auch der psychischen Welt. John Dewey
Im letzten Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass das Ge hirn das Bewusstsein entstehen lässt, indem es einen Aus tausch zwischen Mensch oder Tier und der Welt ermöglicht. Aus diesem Ansatz lässt sich eine neue Sicht auf uns als aus gedehnte, erweiterte und dynamische Geschöpfe ableiten. Diese Entdeckung möchte ich nun in einen größeren Kontext stellen. Unser Körper und unser Geist sind aktiv. Indem wir die Form unserer Handlungen ändern, können wir unsere 86
eigene Form, unseren Körper und unseren Geist ändern. Durch Sprache, Werkzeuge und Hilfsmittel sowie gemeinschaftlich ausgeübte Praktiken werden wir zu dem, was wir sind. Wo hö ren wir auf, und wo fängt die übrige Welt an? Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass unser Gehirn oder unsere Haut die entscheidenden Grenzen sind.
Wo finden wir uns? Man spricht heute von einer globalisierten Wirtschaft, inter nationalisierten Unternehmen und dezentralen, verteilten In formationsnetzwerken. Wir selbst sind von Natur aus dyna misch verteilt, grenzüberschreitend, ausgelagert und in ein Umfeld eingebunden. Dass wir das Bewusstsein bis zum jetzi gen Zeitpunkt nicht erklären konnten, liegt daran, dass wir am falschen Ort gesucht haben. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an einen Tag in den Siebzigerjahren - damals muss ich elf oder zwölf Jahre alt ge wesen sein -, als mein Vater mich auf der Straße vor unserem Haus in New York zurechtwies: »Hör auf mit dem Theater. Du benimmst dich wie ein...« Er hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort. »Du benimmst dich wie ein Amerikaner!« Ich habe vergessen, was ich angestellt hatte. Vielleicht habe ich laut gesungen, einen kleinen Tanzschritt ausprobiert oder mich irgendwie sonst auffällig in der Öffentlichkeit verhal ten. Mein Vater war Ende 1949 nach New York eingewandert, nachdem er den Fängen der Nazis und Sowjets entkommen war. Er war Amerika dankbar, denn er war überzeugt, dass er ohne deren Eingreifen den Krieg nicht überlebt hätte, und er genoss die Freiheit und Anonymität von New York. Aber zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass ein Teil von ihm sich wenigstens manchmal alles andere als hier zu Hause fühlte. Für meinen Vater war Amerika aufdringlich, ungeho belt, laut, oberflächlich und vor allem fremd. Und obwohl er mich liebte, war er zumindest in diesem Moment von seinem 87
eigenen Sohn abgestoßen - und ich glaube nicht, dass ich da mit übertreibe -, weil sein Sohn, also ich, doch nur sein konn te, was er war: ein Kind dieser neuen Heimat. Mittlerweile weiß ich, dass Immigranten häufig solche Pro bleme haben. Oft ist es ja eine Notlage, die sie dazu zwingt, in einem fremden Land Zuflucht zu suchen. Aber was mir an gesichts der Missbilligung meines Vaters in den Sinn kam und ich glaube, ich konnte das auch als Kind schon richtig einschätzen -, war der Gedanke, dass mein Vater innerlich zerrissen war. Der Widerwille, den er mir und seinem neuen Zuhause gegenüber empfand, zeigte nur, wie entwurzelt und auch gewissermaßen zerbrochen er war. Das ist ein Buch über das Bewusstsein, über den mensch lichen Geist und den Versuch, den Geist als etwas zu verstehen, was zu unserer biologischen Natur gehört. Ich schreibe hier nicht meine Memoiren oder die Geschichte der Immigration meines Vaters auf. Diese persönliche Begebenheit habe ich dennoch einfließen lassen, weil sie etwas Wichtiges verdeut licht, und wohl auch, weil meine Auseinandersetzung mit dem Thema Bewusstsein vielleicht schon mit dieser frühen Erfah rung anfing. Die Misere meines Vaters demonstriert, dass wir auf einer sehr elementaren Ebene mit den Orten, an denen wir uns befinden, verbunden und verflochten sind. Wir sind ein Teil von ihnen. Ein Mensch ist kein unabhängiges Modul, keine eigenständige Einheit. Wir sind nicht wie eine Beere, die man einfach pflücken kann, sondern wie die Pflanze, die in der Erde verwurzelt und mit dem Gestrüpp verwoben ist. Wenn wir verpflanzt werden, so wie es mit Immigranten ge schieht, wenn wir von einer Stadt in eine andere oder von einem Land in ein anderes ziehen, erleiden wir Verletzungen, wie fein oder grob oder vielleicht sogar schmerzlos diese auch sein mögen, und das verändert uns. Vermutlich ist das keine überraschende Erkenntnis. Unser Leben ist ein Strom von Aktivitäten und hängt von unseren Gewohnheiten, unserem Können und unserem praktischen Wissen ab, die ihrerseits wiederum unseren Platz im Leben bestimmen. Wie gut wir 88
auch atmen können, unter Wasser gelingt es uns nicht, eben so wenig wie wir schwimmen können, wo es kein Wasser gibt. Und wie charmant und eloquent wir auch sein mögen: Wenn wir uns in einem fremden Land aufhalten, in dem eine fremde Sprache gesprochen wird, können wir keine gute Geschichte erzählen, wir können also nicht sein, was wir sind. Wir haben uns selbst verändert. Wo hören wir auf, und wo fängt die übrige Welt an? Das unbekümmerte Vertrauen der Neurowissenschaft in das Ge hirn als Sitz des Bewusstseins ist gleichbedeutend mit der un gerechtfertigten Überzeugung, dass wir die Grenze zwischen uns und der übrigen Welt am Schädel ziehen können. Für manche Zwecke mag das durchaus angebracht sein. Wenn wir wissen möchten, wie viele Menschen bei einem Ballspiel zu gegen sind, zählen wir nicht die Arme, sondern die Köpfe. Doch legen wir beim Zählen vorher fest, was wir als Einheit betrachten wollen. Es ist eine höchst zweckorientierte Hand lung. Ist der Löwenzahn auf der Wiese eine Pflanze, die durch ein gemeinsames Wurzelwerk verbunden ist, oder sind es mehrere? Ist Mac OS ein einzelnes Programm - das MacintoshBetriebssystem -, oder sind es viele: ein E-Mail-Programm, ein Kalenderprogramm usw.? Ist Hewlett-Packard ein Unterneh men, oder sind es mehrere? Wo wir die Grenze ziehen, hängt normalerweise davon ab, welche Interessen wir verfolgen. Sind wir Programmierer oder potenzielle Investoren? Arbei ten wir für die Kartellbehörden? Es hängt auch davon ab, was wir erreichen wollen. Eine wichtige These in diesem Buch be sagt, dass wir uns nicht auf das Gehirn beschränken dürfen, wenn wir das Bewusstsein von Mensch oder Tier verstehen wollen, sondern das Gehirn in seinem Kontext betrachten müssen, also im natürlichen Umfeld des aktiven Lebens von Mensch oder Tier. Denn wie das Beispiel meines Vaters ver deutlicht: Das, was uns als Träger eines Bewusstseins aus macht, hängt davon ab, wo wir uns befinden und was wir tun können.
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Magische Grenzen und die Gummihandillusion Wo hören wir auf, und wo fängt die übrige Welt an? Einer ex tremen Sicht zufolge sind wir mit unserem Gehirn gleich zusetzen und hören an den Grenzen des Gehirns auf Der Schädel ist in etwa die Grenze unseres Selbst. Wir mögen viel leicht glauben, dass wir Schmerzen im Zeh empfinden, wenn wir uns daran stoßen, und dass wir ein Glas in der Hand füh len, aber da irren wir uns. Wir haben das Gefühl nicht in der Hand oder in der Zehe, sondern im Gehirn. Natürlich wird die im Kopf ablaufende neuronale Aktivität, aus der das Gefühl besteht, durch die Wirkung der Tasse auf die Nervenfasern in der Hand oder die Stimulation der Nervenenden im Zeh ver ursacht. Aber das Gefühl hätten wir auch, wenn es keine Tasse oder keinen Fuß gäbe - solange nur das richtige Aktivierungs muster da ist. Das eigentliche Empfinden sitzt in unserem Kopf und nicht im Körper. Ein ganz ähnlicher Gedankengang steckt wohl auch hinter der Aussage, dass das Gehirn die wich tigste erogene Zone ist. Doch ist diese Behauptung nur eine andere Version des vorherrschenden neurowissenschaftlichen Dogmas, dass wir unser Gehirn sind und alles andere - also das Gefühl, in eine bedeutungstragende und von anderen bevölkerte Welt ein gebettet zu sein - lediglich ein Mythos ist, den unser Gehirn für uns verbreitet. Dass die Wissenschaft uns lehrt, dass wir »hinter einem Schleier der Illusion leben«, mag ein berau schender Gedanke sein, doch ist er noch lange nicht überzeu gend. Gesichert ist nur folgende Erkenntnis: Das Empfinden beruht auf Handlungen des Nervensystems, und es gibt kei nen menschlichen oder tierischen Organismus ohne Nerven system. Aber daraus folgt weder, dass das Nervensystem allein für das Empfinden ausreicht, noch, dass unser Selbst auf das Gehirn oder das Nervengewebe beschränkt ist. Die sogenannte Gummihandillusion ist ein besonders schönes Beispiel für meine Behauptung. Dieses Experiment wurde erstmals von Matthew Botvinick und Jonathan Cohen 90
durchgeführt und 1998 in der Zeitschrift Nature in einem Ar tikel mit der Überschrift: »Gummihand spürt, was die Augen sehen« beschrieben. Der Versuch illustriert auf beeindruckende Weise, dass die Eigenwahrnehmung unseres Körpers durch unsere Interaktion mit der Umwelt und im Zusammenspiel mehrerer Sinnesmodalitäten dynamisch geformt wird. Das Experiment lief, leicht vereinfacht, so ab: Die Versuchs person wird gebeten, sich an einen Tisch zu setzen. Ihre rechte Hand legt sie unter die Tischplatte auf den Schoß. Auf dem Tisch befindet sich eine Gummihand, wie man sie in Scherz artikelläden findet. Nun beobachtet die Versuchsperson, wie jemand mit einem feinen Pinsel sanft auf die Gummihand tupft und über sie streicht. Tupfen, tupfen, streichen, strei chen, tupfen, streichen, streichen, streichen, streichen, tup fen. Absolut synchron dazu berührt eine zweite Person die echte, nicht sichtbare rechte Hand der Versuchsperson unter dem Tisch. Nun geschieht etwas Erstaunliches. Die Versuchs person hat ganz eindeutig das Gefühl, an der Gummihand be rührt zu werden, sie fühlt die Berührung der eigenen, mit dem Körper verwachsenen rechten Hand unter dem Tisch an der Gummihand auf dem Tisch! Wie die Überschrift des Arti kels schon anklingen lässt, spürt die Versuchsperson die Be rührung an der Gummihand, weil das Auge diese Berührung sieht. Bittet man die Versuchsperson, mit der nun ebenfalls unter dem Tisch befindlichen linken Hand auf die Stelle zu zeigen, an der die Berührung gespürt wird, zeigt die Versuchs person ungefähr in Richtung Gummihand. Das ist ein Beispiel für ein sehr eindrucksvolles und weit verbreitetes Phänomen: Unser Sehen beeinflusst unsere nicht visuellen Sinneserfahrungen. In der Psychologie spricht man von »visueller Dominanz«. Auf diesem Phänomen beruht auch die Bauchrednerei. Wir glauben, dass die Worte aus dem Mund der Puppe kommen, weil wir sehen, wie sich der Mund der Puppe synchron zu den Worten öffnet und schließt. Wir hören, was wir sehen. Das ist ein robuster Effekt: Wir erleben ihn, wenn wir ins Kino gehen und glauben, dass der Ton von 91
den Schauspielern auf der Leinwand ausgeht. Aber eigentlich kommt der Ton aus Lautsprechern, die sich anderswo im Raum befinden. In einem anderen wichtigen Experiment er zeugen zwei Sprecher zwei unterschiedliche, nicht zusam menhängende Redeströme, die in ein Sprachwirrwarr mün den. Man kann keinem der beiden Redeströme folgen, bis man durch Videoaufnahmen der Gesichter der Sprecher visuelle Anhaltspunkte bekommt. Weil die nun sichtbaren Klangquel len räumlich eindeutig zuordenbar sind, kann man jetzt beide Redeströme auseinanderhalten, wozu man vorher nicht in der Lage war. Die visuelle Dominanz - also der mächtige Einfluss des Sehens auf andere Sinnesmodalitäten - ist ein wichtiger Be standteil der normalen Wahrnehmung gesprochener Sprache. Wenn wir uns mit jemandem unterhalten, lesen wir unbe wusst die Lippen des Gegenübers, und was wir hören - also welche Laute wir aufnehmen -, hängt entscheidend von dem ab, was wir sehen. Verschiedene Lippenbewegungen und Mund formen korrespondieren mit verschiedenen Sprachlauten. Dass wir Sprachlaute richtig verstehen können, liegt zum Teil daran, dass wir sehen, welche Laute erzeugt werden. Es ist eine wichtige Erkenntnis, dass man Sprachlaute an sich nur schwer hören kann. Ein akustischer Reiz kann verschieden in terpretiert werden. Das erleben wir beispielsweise, wenn wir ein unbekanntes Wort oder einen ungewöhnlichen Namen am Telefon buchstabieren. Wenn wir sichergehen wollen, dass der Hotlinemitarbeiter den Namen richtig versteht, dann buchstabieren wir ihn am besten mithilfe des konventionellen Alphabets (also »R« wie »Richard«, »A« wie »Anton« usw.) sonst kommt es zu Missverständnissen. Ein Beleg für den robusten Einfluss des Sehens auf das Hören ist der nach dem Entwicklungspsychologen Harry McGurk benannte »McGurk-Effekt«. Eine Versuchsperson hört eine Sprachaufnahme der Silbe »ba«, sieht jedoch auf einem dazu synchronen Video einen Sprecher die Silbe »ga« sagen. Nun glaubt die Versuchsperson, auf dem Band »da« zu hören. 92
Ohne ins Detail zu gehen, liegt die grundsätzliche Erklärung dieses Phänomens auf der Hand: Wir kombinieren die In formation des akustischen Reizes mit der Information des Ge sehenen - also der Mundbewegung -, um den Sprachlaut wahrzunehmen. Stimmen die Informationsquellen nicht mit einander überein, können wir nicht mehr genau wahrneh men, was gesagt wird. Unser Vermögen, Worte zu hören, hängt wahrscheinlich auch bis zu einem gewissen Grad davon ab, was wir über das Gesprächsthema wissen und was wir als Nächstes erwarten. Der Sprachwissenschaftler Geoffrey Pullum demonstrierte dies einmal auf hübsche Weise mit folgendem Beispielsatz: »Here is a hat, here is a scarf, here is a dlove.« (Hier ist ein Hut, hier ist ein Schal, hier ist ein Hlandschuh.) Der Gesprächspart ner versteht das letzte Wort unweigerlich als »glove«. »Hut« und »Schal« bereiten den Hörenden auf ein weiteres Stück Winterkleidung wie den »Handschuh« vor. Außerdem gibt es den Laut »dl« im Englischen nicht. Zurück zur Gummihandillusion: Wir haben vielleicht ge glaubt, dass die Wahrnehmung von Berührungen wie bei spielsweise an der rechten Hand keiner Erklärung bedarf, wir also keine kontextuellen Hinweise brauchen, wo und wie wir berührt werden. Offenbaren Gefühle nicht schließlich ihre intrinsische Beschaffenheit in ihrem eigentlichen Auftreten? Doch tatsächlich müssen sie interpretiert oder verstanden werden. Obwohl wir an der Hand berührt werden, spüren wir die Berührung an der Stelle, an der wir die Berührung zu se hen glauben. Nun, einerseits ist das eindeutig eine Illusion. Schließlich werden wir an der rechten Hand unter dem Tisch berührt. Andererseits ist es keine Illusion, oder vielmehr sind die Mechanismen, die an dieser Illusion beteiligt sind - wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen will -, die Gleichen wie bei einer normalen, erfolgreichen Wahrnehmung. Die Gummihand ist natürlich kein Teil von uns. Aber das liegt nicht daran, dass sie aus Gummi oder nicht mit unserem Körper verbunden ist. Entscheidend ist, dass die Gummihand 93
eine andere Bestimmung als wir hat. Unser Erleben hängt mit der Gummihand nur oberflächlich und zufällig zusammen. Unsere eigene Hand hingegen ist verlässlich in unsere senso rischen und motorischen Interaktionen mit unserem Umfeld und unsere anderen Sinneserfahrungen eingebunden. Wenn es möglich wäre, die Gummihand in ein aktives Wechselspiel zwischen Welt und Körper zu integrieren, dann wäre die Gummihand in dieser Hinsicht ein Teil von uns. Wir haben eine besondere Beziehung zu unserem Körper. Das haben wir zweifelsohne der Evolution zu verdanken. Doch bringt uns das Gummihandexperiment dazu, noch ein mal darüber nachzudenken, was diese Beziehung eigentlich so besonders macht. Sie besteht nicht nur darin, dass beispiels weise meine Hände und Arme Nervengewebe in mich (genauer gesagt, in mein Gehirn) leiten. Dass sie miteinander verbunden, aneinandergebunden, einander benachbart sind, ist zwar wichtig - aber bloße Verbundenheit oder Anbindung liefert nur eine oberflächliche Erklärung dafür, was der Körper ist. Verbunden- und Benachbart-Sein sind deshalb so wichtig, weil beide für das Zusammenspiel, für die gemeinsame Bestim mung verantwortlich sind. Das ist die Hand - meine Hand -, deren Bewegungen ich sehen kann. Zum Teil wird diese Hand zu meiner Hand, weil ich sehen kann, wie sie nach einer Tasse greift. Zum Teil wird diese Hand zu meiner Hand, weil es die Hand ist, mit der ich nach der Tasse greife. Es gibt also kein bestimmtes Gefühl oder charakteristisches Empfinden dafür, dass es meine Hand ist. Ich fühle damit (zum Beispiel: Die Tasse ist zu heiß!), und ich habe ein Empfinden in ihr (zum Beispiel: Ich werde berührt und gestreichelt!). Die »Meinigkeit« der Hand besteht darin, wie sie aktiv, dynamisch und visuell mit meinem Leben verknüpft ist. Genau das sagt auch der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty. Unser Leben findet in einem Umfeld statt. Dieses Umfeld - der Boden, die Wände, die Geräusche, das Äußere ist der Hintergrund für all unsere Aktivitäten wie Autofahren, Gehen, Kuchenbacken. Laut Merleau-Ponty sehen wir den Kör 94
per deshalb als den unseren, weil er Hintergrundbedingung für all unsere Handlungen ist. Diese Hände gehören zu mir, weil ich mit ihnen die Eier aufschlage und den Teig rühre. Um es mit Merleau-Pontys Worten auszudrücken: »Der Leib ist das Vehikel des Zur-Welt-Seins, und einen Leib haben heißt für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu zugesellen, sich mit einem bestimmten Vorhaben zu identifizieren und darin beständig sich engagieren.«
Phantomhände Die Gummihandillusion zeigt, dass ich ein Empfinden in einem Gegenstand haben kann, der nicht mit meinem Körper verbunden ist. Und das liegt meiner Meinung nach daran, dass etwas nicht notwendigerweise mit mir vei'bunden oder mir zugehörig sein muss, um Teil von mir zu werden. Auch das im letzten Kapitel behandelte Phänomen des Phantom schmerzes ist ein Beleg dafür. Wie wir jetzt wissen, verliert man, wenn eine Hand durch eine Amputation oder einen Un fall abgetrennt wird, damit nicht automatisch das Gefühl oder Empfinden in diesem nun fehlenden und nur noch als Phantom existierenden Körperteil. Das leuchtet sofort ein, wenn man meiner Argumentation folgt - dass nämlich eine Hand dadurch zu meiner Hand wird, weil sie an meinen Ge wohnheiten und Vorhaben beteiligt ist. Ich höre nachts im mer noch das Halsband meines Hundes rasseln, obwohl er schon über ein Jahr tot ist, und ich greife immer noch auto matisch zum Lichtschalter an der Wand, wenn ich den Raum betrete, obwohl ich genau weiß, dass der Schalter sich nun an einer anderen Stelle befindet. Ebenso wie das Versetzen des Lichtschalters uns nicht davon abhält, noch lange danach zu greifen, verschwindet beim Verlust einer Hand nicht sofort der Verhaltenskontext, der Bedingung für den tatsächlichen oder geglaubten Besitz einer Hand ist. Ebenso wie wir die Ab wesenheit eines verstorbenen, nahe stehenden Menschen nicht 95
wirklich spüren, bis wir zum Telefon greifen und ihn anrufen möchten, so ist - wie Merleau-Ponty feststellte - das Fehlen der Hand nicht real, bis sie uns nicht mehr zur Verfügung steht, wenn wir damit nach etwas greifen oder uns beim Hin fallen abstützen wollen. Glieder bleiben als Phantomglieder also quasi vorhanden, wenn die Verhaltens- und umweltbezo genen Muster und Vorhaben über ihren Verlust hinaus be stehen bleiben. Nur wenn wir uns den neuen Umständen völ lig anen, nur wenn wir mit der Gewohnheit brechen, mit und an der Hand etwas tun zu wollen, wird die Geisterhand ihren Frieden finden. Der Psychologe Vilayanur S. Ramachandran hat diese Be ziehung zwischen dem Gefühl der Zugehörigkeit eines Kör perteils auf der einen Seite und den Gewohnheiten und Er wartungen auf der anderen Seite anschaulich nachgewiesen. Patienten mit Phantomschmerz geht es häufig nicht gut. So klagen sie über Krämpfe in der Phantomhand, die sich nicht lindern lassen, weil diese Patienten den Krampf nicht wie bei einer normalen Hand durch Bewegung lösen können. Rama chandran baute einen Kasten mit Spiegeln, sodass der gesunde rechte Arm für den Patienten zum linken, amputierten Arm wurde. Nun konnte der Patient durch Bewegungen des gespie gelten Armes den Schmerz im Phantomglied lindern. Um es mit den Worten von Botvinick und Cohen zu sagen, spürt bei dieser Therapieform also die Phantomhand die Linderung, die das Auge sieht. Das Bewusstsein entsteht nicht in unserem Gehirn, und der Körper ist kein komplexer Behälter für ein ansonsten eigen ständiges Gehirn. Oder - mit Merleau-Ponty gesprochen - un ser Körper gehört uns, er ist der Ort, an dem wir fühlen und durch den wir handeln, insofern als »der Strom seines auf die Welt gerichteten Tuns [ihn] durchfließt«.
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Das Körperschema Psychologen verwenden den Begriff »Körperschema« für die implizite, praktische Vorstellung vom eigenen Körper, durch die wir in der Lage sind, mit unserem Körper effektive Bewe gungen und Handlungen durchzuführen. Wir müssen nicht erst die Hände ausfindig machen, bevor wir mit ihnen nach etwas greifen, und gewöhnlich müssen wir unseren Körper teilen (Händen, Fingern usw.) keine Beachtung schenken, um sie erfolgreich einzusetzen. Sofern wir keine Anfänger sind und beispielsweise gerade erst ein Musikinstrument erlernen, beeinträchtigt es sogar unsere Leistung, wenn wir uns nicht auf die bevorstehende Aufgabe oder das bevorstehende Ziel, sondern auf die an der Ausführung beteiligten Körpermecha nismen konzentrieren. Es geht nicht darum, dass der Körper für uns nicht gegenwärtig oder in der Auseinandersetzung mit unserer Umgebung völlig transparent wäre. Wir spüren die Präsenz unseres Körpers. Aber während einer Handlung nehmen wir den Körper nicht als etwas wahr, worüber wir nachdenken oder dessen wir uns bewusst sind. Es ist beispiels weise nicht so schwierig, durch eine Tür zu gehen, wie ein Sofa durch eine Tür zu manövrieren - und nicht nur deshalb, weil Türen so konstruiert sind, dass wir gut hindurchen. Entscheidend ist, dass wir bei einer Handlung nicht über un seren Körper nachdenken oder uns auf ihn konzentrieren müssen. Wir müssen nicht über das Sofa nachdenken, um es von A nach B zu transportieren. Der Körper ist bei unseren normalen Lebensaktivitäten auf eine andere Art gegenwär tig - etwa so, wie die Grenze des Gesichtsfeldes für uns als Teil des Hintergrundes gegenwärtig ist, vor dem wir uns auf dieses oder jenes konzentrieren. Um es noch weiter zu präzi sieren: Der Körper ist als Schema, als eine Auswahl an Bewegungs- oder Handlungsmöglichkeiten gegenwärtig. Und das ist das Körperschema. So können meine Arme beispielsweise jetzt für mich gegenwärtig sein, obwohl ich nicht an sie denke. Das Gefühl ihrer Präsenz lässt sich auf mein Empfinden redu 97
zieren, dass die Kaffeetasse auf dem Tisch in Reichweite ist. Ein normales, gut funktionierendes Körperschema zu haben heißt demnach, Gewohnheiten im Umgang mit dem Körper zu haben und den Körper im Hintergrund einsatzbereit zu halten. Dieses unausgesprochene und vielleicht unaussprech bare Wissen um die Einsatzbereitschaft und Verfügbarkeit des Körpers mit seinen unterschiedlichen Graden der Bewe gungsfreiheit ist Grundlage für alles, was wir tun. Dem Körperschema steht das Körperbild gegenüber. Das Körperbild ist eine Art geistiges Bild, das wir von uns selbst haben. Eine magersüchtige Jugendliche, die ihr abgezehrtes Konterfei im Spiegel erblickt und sich dick fühlt, hat im wahrsten Sinne des Wortes ein verzerrtes Körperbild. Ihr Kör perschema ist hingegen wahrscheinlich intakt. Ihre Hände, Gliedmaßen, Augen und ihr Kopf setzen sich bei Handlungen normal in Bewegung, sie sind für die junge Frau im Hinter grund ganz normal anwesend. Ihr Problem ist, dass sie mit ihrem Körper, ihrem Aussehen und ihrer Körperbeherrschung unzufrieden ist. Das Gummihandexperiment und das Phänomen des Phan tomschmerzes zeigen, dass unsere Körperschemata geformt und verändert werden können. Das Körperschema ändert sich nicht gleich, nur weil man bei einem Unfall ein Glied ver loren hat, und deshalb existiert es als Phantom weiter. Und selbst ein separates Stück Plastik oder Gummi kann unter Umständen in das Körperschema integriert werden.
Den Körper erweitern Einer der einfachsten Wege, über die Grenzen von Gehirn und Körper hinauszugehen, ist der Einsatz von Werkzeugen und Hilfsmitteln. Nehmen wir einmal einen Blinden, der den Boden vor ihm mit einem Stock abtastet. Er spürt die Oberflächenbeschaffenheit des Bodens am Ende des Stocks. Er hat ein Empfinden im Blindenstock, obwohl es dort keine Nerven 98
enden gibt und der Stock aus Metall oder Holz besteht. Das beweist natürlich nicht, dass die Wahrnehmung mithilfe eines Stocks unabhängig vom Gehirn oder dem Nervensystem erfolgt. Vielmehr geht es darum, dass die Wahrnehmung durch einen Stock weder auf Empfindungen am Ende des Stocks noch auf Empfindungen in der Hand beruht. Bei der Wahr nehmung der Umwelt ist es nicht die Aufgabe des Gehirns und des Nervensystems, Gefühle zu erzeugen, sondern viel mehr, uns eine dynamische Interaktion mit der Umwelt zu er möglichen. Unsere Erfahrung und unsere Fähigkeiten hängen von der Gesamtheit dieser interaktiven Fertigkeit ab. Wo wir uns befinden, hängt zu einem großen Teil davon ab, was wir tun. Und was wir sind - Ist der Stock ein Teil von mir oder nicht? Was sind die Grenzen meines Körpers? Die Grenzen mei nes Selbst? -, hängt von mehr als nur vom Gehirn ab. Durch den geschickten Umgang mit einem Stock lässt sich der Kör per tatsächlich über die streng biologischen Grenzen hinaus erweitern. Diese Beispiele zeigen, dass wir mit Hilfsmitteln, Werkzeu gen und auch anderen Technologien unser Körperschema ver ändern können. Indem wir diese in unser Handlungsreper toire einbauen, können wir unseren Handlungsspielraum neu gestalten, und dadurch wird auch unser Körperschema neu gestaltet. Mit der Zeit entwickeln Fahrer beim Rückwärts einparken ein Gefühl für die Rückseite des Autos, und sie spü ren die Oberflächenbeschaffenheit der Straße durch die Räder. Genauso vergrößert auch ein Baseballhandschuh oder ein La crosseschläger die Reichweite des Sportlers. Mit unserem Körperschema verändert sich auch unsere Be ziehung zu unserer Umwelt und damit die Art, wie wir sie wahrnehmen. Wie groß eine Parklücke aussieht, hängt von der Größe des Fahrzeuges ab, das wir fahren. Wie steil ein Hü gel aussieht, hängt nachweislich vom Gewicht des Gepäcks ab, das wir tragen. Es ist sogar bewiesen, dass die augenschein liche Größe eines Baseballs von der durchschnittlichen Treffer anzahl des Schlagmanns abhängt. Je besser wir treffen, umso 99
größer erscheinen die schnellen Bälle, die es zu treffen gilt! Und wenn wir danebenhauen, scheinen die Bälle wirklich zu schrumpfen. Mit diesen Veränderungen in unserem Körperschema ge hen neuronale Anungen einher. In einem bekannten Ex periment wurde demonstriert, dass Affen, die einen Rechen benutzen, im Kortex vergrößerte Repräsentationen von Hand und Arm aufweisen. Die Zellen, die sowohl darauf ausgerich tet sind, wie Hand und Arm aussehen, als auch darauf, wie sie sich anfühlen, behandeln also den Rechen am Ende des Ar mes so, als wäre er ein Teil des Körpers - als wäre er der Arm. Wenn unser Körperschema auf diese Weise verändert wird, ändert sich auch unsere Wahrnehmung von Nähe. Wir kön nen einen Raum unabhängig von uns erfassen, aber wir kön nen ihn auch in Beziehung zu uns erfassen. Einige Teile des Raumes sind in unserer Nähe oder in unserer Reichweite. Die Psychologen nennen das den peripersonalen Raum. Andere Teile des Raumes sind außerhalb unserer Reichweite. Das nennt man den extrapersonalen Raum. Durch Veränderun gen des Körperschemas kann sich der peripersonale Raum in einen Bereich ausdehnen, der vorher nur dem extraperso nalen Raum angehörte. Ein interessantes Beispiel sind hier neuropsychologisch erkrankte Patienten, deren Körperschema im peripersonalen Raum gestört, im extrapersonalen Raum jedoch intakt ist. Erstaunlicherweise tauchen bei ihnen auch im extrapersonalen Raum Symptome auf, sobald sie bei der Interaktion mit diesem Raum auf den geschickten Umgang mit Werkzeugen angewiesen sind. Lernt man den Umgang mit Werkzeugen, erweitert sich dadurch also der periperso nale Raum. Was entfernt war, rückt nun in die Nähe. Wo hat die Anungsfähigkeit des Körperschemas ihre Grenzen? Offensichtlich ist eine gewisse Plastizität erforder lich. In der Kindheit - und in geringerem Maße auch später wachsen wir, unser Körper und unser Handlungsspielraum verändern sich. Stellen wir uns einmal vor, wir wären nicht in der Lage, uns der veränderten Geometrie und den veränder100
ten Fähigkeiten unseres Körpers anzuen. Solch ein Unver mögen hätte verheerende Auswirkungen. Der eigene Körper wäre dann wie ein fremder Mechanismus: In der eigenen Haut leben zu lernen wäre dann wie Fahrrad fahren oder Salsa tanzen zu lernen. Wo hören wir auf, und wo fängt die übrige Welt an? Diese Überlegungen zum Körperschema zeigen, dass unsere bisheri gen Vorstellungen von den Grenzen des Körpers jeglicher Grundlage entbehren. Auch wenn Teile von mir - wie bei spielsweise Werkzeuge - nicht mit meinem Körper verbunden sind, können sie durch meine Handlungen mir und meinem Körper zugehörig werden. Und insofern ich mit meinem er weiterten Körper handle und fühle, ist auch mein Geist erwei tert. Mit meiner Argumentation will ich die zentrale Rolle des Gehirns und des Nervensystems in dieser ganzen Geschichte nicht infrage stellen. Aber deshalb müssen wir noch lange nicht zu dem Schluss kommen, dass Hirn und Nervensystem die ganze Geschichte sind. Denn nur ein Gehirn und Nerven system in Aktion ermöglichen ein Körperschema, und wir kön nen die Herausbildung dieses dezentralen, verteilten Selbst nur verstehen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf ein Le bewesen in Aktion lenken, auf ein Lebewesen, das mit seiner Umwelt interagiert.
Sich zurechtfinden Wissen Sie, wie spät es ist? Wenn Sie wie die meisten Menschen sind, werden Sie »ja« sagen und dann auf die Uhr schauen. Sie glauben zu wissen, wie spät es ist, weil Sie wissen, dass Sie auf die Uhr schauen können. Wie der Philosoph Andy Clark über zeugend erörtert hat, glauben wir auf natürliche Weise zu wissen, wie spät es ist, obwohl wir die aktuelle Zeit ja ge wissermaßen nicht im Kopf haben. Wir wissen, wie spät es ist, wenn wir uns diese Information schnell, einfach und zuver 101
lässig beschaffen können. Die tatsächliche Quelle für Zeit informationen - die Uhr - befindet sich am Handgelenk, nicht im Kopf. In diesem Beispiel fungiert die Uhr als externes Werkzeug und unterstützt die kognitive Leistung meines Wis sens um die Uhrzeit. Die meisten von uns finden sich recht einfach und ohne allzu große Anstrengungen in einer Großstadt zurecht. Wir wissen, wie man von A nach B gelangt, ohne dass wir tatsäch lich den gesamten Stadtplan auswendig gelernt hätten. Sogar in vertrauten Städten orientieren wir uns oft an einer Reihe äußerer Markierungen, Schildern, Orientierungspunkten und Plänen. Meine Heimatstadt ist New York. Wenn ich in einem unbekannten Stadtteil aus einer U-Bahn-Station komme, kann ich meinen Standort normalerweise bestimmen, indem ich die Objekte um mich herum betrachte. Auf dem Schild heißt es »Second Avenue«. Ich weiß, dass sich der Verkehr auf der Second Avenue stadteinwärts, also Richtung Süden, bewegt. Dann ist es natürlich ein Leichtes, sich umzudrehen und in Richtung West Side zu laufen. Zur Orientierung müssen wir unsere Sinne benutzen, auf Orientierungspunkte achten und auf Hintergrundwissen zurückgreifen (wie beispielsweise, dass die Second Avenue stadteinwärts verläuft). Meine Fähigkeit, mich in New York zurechtzufinden, ist eine kognitive Fähigkeit, eine geistige Leistung, wenn auch eine bescheidene. Aber ich besitze diese Fähigkeit nur auf grund meiner Situation - also aufgrund des größeren Kon textes, der mich auf Markierungen und Hinweise in meiner Umgebung zugreifen lässt. Die Umwelt selbst ermöglicht es mir, mich in ihr zurechtzufinden. Mein Verständnis, mein Wissen sind nichts Eigenständiges und lassen sich nicht vom Kontext trennen. Es handelt sich vielmehr um eine erwor bene Vertrautheit mit und eine Integration in die Welt. So, wie wir mit unseren Fingern zählen oder mit Papier und Stift rechnen, orientieren wir uns mithilfe der Welt. Mein Gehirn, mein Körper, meine Augen und die Stadt selbst ermöglichen es mir, mich zurechtzufinden. 102
Ich stimme mit der Argumentation der Philosophen Andy Clark und David Chalmers überein, dass man Armbanduhren, Orientierungspunkte, Papier und Stift sowie die Sprach gemeinschaft im Prinzip als Teil unseres Geistes verstehen kann. Die kausalen Vorgänge, durch die wir sprechen, denken und uns orientieren können, sind nicht auf die Vorgänge in unserem Kopf beschränkt. Und das bedeutet eigentlich nur, dass die Maschinerie des Geistes nicht auf den Schädel be schränkt ist. Der Kopf ist keine magische Membran. Wir sind in die Welt um uns einbezogen. Wir sind in ihr und ein Teil von ihr.
Reale Präsenz Wir sind dezentrale, dynamisch verteilte, weltbezogene Ge schöpfe. Wir repräsentieren die Welt nicht. Von dieser Vorstel lung können wir uns trennen. Merleau-Ponty bezeichnet uns in einem denkwürdigen, provokanten Zitat als »leere Köpfe, die auf eine Welt gerichtet sind«. Und daher sind unsere Wel ten nicht auf das beschränkt, was in unserem Inneren ab gespeichert und repräsentiert ist. Für uns ist viel mehr gegen wärtig als das, was unmittelbar anwesend ist. Wir leben in erweiterten Welten, in denen vieles dank unserer Fähigkeiten und der Technik virtuell präsent ist. Betrachten wir dazu einmal ein einfaches, aber sehr aus sagekräftiges Beispiel: Wir nehmen ein Haus als ein Objekt mit einer Rückseite wahr, auch wenn wir die Rückseite von unserem Standpunkt aus nicht sehen können. Wir glauben, urteilen oder schlussfolgern nicht nur, dass es eine Rückseite hat. Wir können die Anwesenheit der Rückseite spüren. Mei ner Meinung nach ist die Rückseite eines Hauses, auch wenn sie verborgen liegt, für meine visuelle Erfahrung des Hauses präsent, weil ich trotzdem einen körperlichen Zugang zu ihr habe. Wenn ich den Standpunkt meines Körpers in Bezug auf das Haus verändere - also beispielsweise um es herumgehe -, 103
kann ich die Rückseite sehen: Das ist der Rahmen, in dem meine aktuelle Erfahrung des Hauses stattfindet. Durch diese Erfahrungsstruktur bin ich in meiner jetzigen Position vor dem Haus mit der Rückseite des Hauses durch mögliche Be wegungen verbunden. Die Rückseite des Hauses ist gleich zeitig anwesend und abwesend, also außer Sicht. Wir können das als eine Art virtueller Präsenz begreifen, aber nur mit dem Zugeständnis, dass, so gesehen, jede Prä senz virtuell ist - nicht in dem Sinne, dass sie falsch oder illu sorisch oder nicht echt wäre, sondern in dem Sinne, dass die Welt als etwas Erreichbares und nicht als ein Abbild anwesend ist. Und in diesem Sinne unterscheidet sich unsere Beziehung zur Rückseite des Hauses nicht von der zur Vorderseite des Hauses. Wir haben einen Bezug zu dem Haus: Das Haus selbst - und die Rückseite ebenso wie die Vorderseite (oder die Vorderseite ebenso wie die Rückseite) - ist in Reichweite. Die Technik erweitert unseren Zugriffsbereich und damit den Umfang dessen, was für uns präsent ist oder sein kann. Meine Tausende Kilometer entfernt lebende Mutter ist für mich anwesend, weil sie nur einen Anruf entfernt ist. Das Geld auf meinem Konto in den USA steht mir im Zeitalter des elektro nischen Geldverkehrs hier in Deutschland zur Verfügung, und daher ist beides in diesem Sinne präsent, das heißt, es fühlt sich für mich präsent an. Kurznachrichten sind ein eindrucksvolles Beispiel dieser erweiterten Präsenz. Studien haben gezeigt, dass sich durch Kurznachrichten die Dynamik sozialer Beziehungen zwischen Jugendlichen in Japan geändert hat. Die Jugendlichen schicken sich den ganzen Tag Nachrichten hin und her. Selten senden sie dabei informative oder ausführliche Nachrichten, der In formationsgehalt ihrer Botschaften ist meistens nur gering. Eigentlich »pingen« sie sich nur an: Sie teilen sich gegenseitig mit, dass sie online oder in Reichweite oder »da« sind. Vor der Schule, in der Schule, im Bus nach Hause: Ping, ping, ping das beruhigende Zeichen, dass der Freund für einen da ist. So entsteht durch das Versenden von Kurznachrichten eine neue 104
Modalität sozialer Präsenz. Ebenso wie Werkzeuge das Körper schema verfälschen und mich mit etwas verbinden können, indem sie es faktisch zu einem Teil von mir machen, können durch die Kurznachrichten einzelne Personen, die sich in To kio an den verschiedensten Orten aufhalten, trotzdem den Umgang miteinander pflegen. Sie sind füreinander virtuell präsent. Man könnte natürlich dafür plädieren, dass die gemein same Anwesenheit in einem gemeinsamen physischen Raum die beste Art von Präsenz ist. Wir sind verkörperte biologische Wesen und durch die Evolution perfekt darauf konditioniert, uns an einen realen Lebensraum anzuen. Wir sind natür lich auf unsere physische Umgebung und aufeinander ab gestimmt. Der physische Kontakt umfasst mehrere Sinnes modalitäten: Wir hören Worte, sehen Gesichtsausdrücke, spüren gegenseitig die Wärme unseres Atems und widmen uns gemeinsam den Vorgängen in unserer Umgebung. Vir tuelle Welten zeichnen sich dagegen durch eine Spärlichkeit aus, die ganz typisch für das Digitale ist. Damit meine ich nicht, dass die virtuelle Präsenz rein illusorisch ist. Es handelt sich um eine reale, durch neue und andere Methoden erwei terte Präsenz. Der Gedanke, dass iv am Computer zu sit zen, zu lesen und zu schreiben, eine wirklich aktive, kontakt freudige, soziale Lebensform sein könnte, mag vielleicht verstörend wirken. Aber genauso ist es.
Der Fall der französischen Fluglotsen In Frankreich und der ganzen Welt verwenden Fluglotsen Pa pierstreifen stellvertretend für Flugzeuge. Das Rattern des Druckers beim Ausdrucken der Papierstreifen macht den zu ständigen Fluglotsen darauf aufmerksam, dass ein Flugzeug in seinen Luftraum eindringt. Der Lotse schreibt per Hand weitere Notizen auf den Streifen und legt ihn dann auf eine Ablage oder einen besonderen Tisch zu den Streifen, die für 105
die anderen Flugzeuge in seinem Verantwortungsbereich ste hen. Während der Fluglotse den Kurs des Flugzeuges verfolgt, werden die Papierstreifen mit Kommentaren versehen und auf der Ablage herumgeschoben. Wenn ein Flugzeug den Luft raum eines Fluglotsen verlässt und in den Luftraum eines Kol legen eindringt, wird der Papierstreifen weitergereicht (oder -geworfen). Mit Übergabe dieses Flugzeugstellvertreters geben die Fluglotsen auch die Verantwortung weiter. Auf dem Pa pierstreifen befinden sich alle (natürlich durch die Radardaten ergänzten) Informationen über das Flugzeug, die der nächste Fluglotse braucht, um es sicher durch den Luftraum zu gelei ten. Es gibt kleine Unterschiede im Notationssystem der ein zelnen Fluglotsen und in der Art, wie die Kollegen einer be stimmten Flugsicherung die Streifen und damit im weiteren Sinne die Flugzeuge handhaben, und von Land zu Land sind die Unterschiede sicherlich noch größer. Aber die Arbeits praxis der meisten Fluglotsen auf der Welt sieht so ähnlich aus, wie ich sie gerade beschrieben habe. Wendy Mackay und ihre Kollegen in Frankreich sahen sich die Rolle der Papierstreifen bei der Flugsicherung in einer Stu die genau an. Spannend fanden sie zunächst einmal, dass die Fluglotsen jeden Versuch von Ingenieuren und Entscheidungs trägern abwehrten, die Technik der Flugsicherung zu moder nisieren. Auch der Vorschlag, die Routenverfolgung der Flug linien zu digitalisieren, wurde von den Fluglotsen abgelehnt. Die simple Papierlösung gefiel ihnen besser. Noch interessan ter war aber, dass es zumindest in den Neunzigerjahren, als Mackay ihre Studie durchführte, in Frankreich keinen ein zigen durch einen Fluglotsen verursachten tödlichen Absturz gab. Die Fluglotsen waren in Wirklichkeit also deshalb gegen Neuerungen, weil sie befürchteten, dass eine Umstellung der Arbeitsgewohnheiten Flugreisen eher unsicherer machen könnte als sicherer. Da es die Fluglotsen sind, die am Ende die Verantwortung tragen müssen, sollte man ihre Einwände ernst nehmen. Mackay und ihre Kollegen stellten fest, dass es sich bei dem 106
Papierstreifensystem - so simpel es auch ist - eigentlich um eine äußerst gut durchdachte Methode handelte. Die Papier streifen trugen nicht nur Informationen über die Flugzeuge, sondern waren deren Stellvertreter. Durch die Papierstreifen war es einfacher, die Route der Flugzeuge zu verfolgen, eben so wie es beim Scrabble einfacher ist herauszufinden, welche Worte man legen kann, indem man verschiedene Möglichkei ten mit den Spielsteinen durchgeht. Auf den Papierstreifen standen auch Informationen über die Flugzeuge, diese wur den aber von dem für das Flugzeug zuständigen Fluglotsen kommentiert. Der Akt des Papierbeschreibens sowie die Tat sache, dass der Streifen bearbeitet, gesehen, gelesen, auf einer Ablage im Verhältnis zu den anderen Streifen positioniert wurde und somit stellvertretend für ein Flugzeug stand, ver einfachte die Aufgabe der Fluglotsen wesentlich - also in Echt zeit viele verschiedene Flugzeuge zu verfolgen, die landen oder starten, steigen oder sinken und eine wertvolle Fracht, nämlich Menschen, befördern. Zudem beobachtete Mackay, dass die Streifen, weil sie für alle sichtbar aufbewahrt und ver arbeitet wurden, für die Fluglotsen als gemeinsam genutztes analoges Mittel dienten. Durch sie war jeder der Fluglotsen im Team auch ständig darüber informiert, was in den Berei chen des Flugraumes vor sich ging, für die er nicht direkt zu ständig war. Das Gespräch der Fluglotsen miteinander sowie die Funkkommunikation mit den Flugzeugen, das Geräusch beim Drucken neuer Streifen sowie die Platzierung, Verarbei tung und Weitergabe der Streifen - all das bildete eine ge meinsam genutzte Umwelt, in der die Fluglotsen als Gruppe ihre Aufgabe erfolgreich ausführen konnten. Am Papierstreifensystem lassen sich zwei wichtige Dinge beobachten. Erstens spielten die Papierstreifen eine entschei dende und unverzichtbare Rolle im kognitiven Repertoire der Fluglotsen. Ohne die Streifen konnten die Fluglotsen ihrer Aufgabe nicht nachkommen. Ihre aktive Beschäftigung mit den Papierstreifen war eine Art der kognitiven Auseinander setzung mit den Flugzeugen. Sie dachten mithilfe der Streifen 107
über die Flugzeuge nach. Und zweitens erledigten die Flug lotsen ihre Arbeit gemeinsam. Der lautstarke, vollgepackte Ar beitsplatz mit dem gemeinsam genutzten Tisch für die Pa pierstreifen und den gemeinsam genutzten Radargeräten ermöglichte etwas, das man sozial verteilte Kognition nennen könnte. Der modernen Aufassung zufolge sind wir Denkende, die jeweils individuell eine innere Repräsentation und ein Ver ständnis von der Welt erwerben oder zumindest von einer Welt, die jenseits unserer persönlichen Grenzen liegt oder zu liegen scheint. Der Geist entsteht durch die Vorgänge im je weiligen Gehirn, das Gehirn ist das Organ unseres Geistes. Aber nicht alle Erfahrung und Erkenntnis beruht auf derart allein stehenden, kontemplativen und individualistischen Pro zessen. Für unser kognitives Leben - wie den Großteil unseres sprachlichen Lebens sowie für unser wie bei den Fluglotsen gemeinsam ausgeübtes Arbeitsleben - brauchen wir nicht nur Orientierungspunkte und Werkzeuge (wie Sprache oder Papier streifen), sondern auch andere Menschen.
Den Geist erweitern Wir haben uns damit auseinandergesetzt, wie der Körper und damit faktisch auch der Geist durch Werkzeuge und andere Gegenstände erweitert werden. Neue Technologien wie etwa die »neuen Medien« liefern uns dafür wichtige und reizvolle Belege. Aber für die Erweiterung menschlicher Gedanken über die Grenzen der inneren, persönlichen Ressourcen des Individuums hinaus gibt es keine robustere Methode als die Sprache. Dafür lassen sich leicht Beispiele finden. Ohne Sprache wäre es sicher unmöglich, über die Frage nachzudenken, ob ich am Morgen des 1. November 1974 gefrühstückt habe oder nicht, denn es ist die Sprache selbst, die mit ihrem impliziten System von Zeitdatierung, Zeitzählung und Zeitbegriff das 108
Mittel liefert, mit dem ein solcher Gedanke Form annehmen kann. Ein Tier ohne Sprachvermögen könnte diesen Gedan ken, also diese bestimmte Beziehung zur Welt, nie hervorbrin gen, denn diese Beziehung hat eine sprachliche Struktur. Oder denken wir daran, wie die arabische Erfindung eines Zei chens für »Null« den Begriff der Ganzzahlen überhaupt erst möglich machte - obwohl die Menschen auch schon lange da vor eine Vorstellung von »Nichts« besaßen. Das arabische Zah lensystem ist dem römischen System zweifellos weit über legen, und diese Tatsache hatte große Auswirkungen auf die Rechenkünste der Völker des Altertums. Auch heute noch gibt es sehr verschiedene sprachlich-begriffliche Methoden für die Abbildung von Zahlen. Die Franzosen sagen quatre-vingt dix (»vier-zwanzig zehn«) für neunzig. Die Erkenntnis, dass die Begriffsvorstellung dieser Zahl im Deutschen als »neun Zeh ner« zumindest in manchen Situationen zu einem Unterschied in unserem jeweiligen Rechenvermögen führt, mag nicht son derlich überraschen. Dem französischen Neurowissenschaft ler Stanislas Dehaene zufolge sind alle europäischen Spra chen dem Mandarin gegenüber benachteiligt. Er behauptet, dass die Chinesen insgesamt besser und schneller im Kopf rechnen sind und das am chinesischen Zeichensystem für Zahlen liegt. So, wie ein Rechen unsere Reichweite ausdehnt und unser Körperschema erweitern kann, so erweitert also die Sprache unser Denkvermögen und damit auch unser Geistesschema. Insofern die Sprache eine soziale Praxis innerhalb einer Sprachgemeinschaft ist, sind auch unsere kognitiven Fähig keiten auf eine solche soziolinguistische Umwelt angewiesen. Unsere Geister überqueren die Grenze des Schädels und wer den von einem gemeinsamen soziolinguistischen Gerüst ge tragen. Wir müssen also einsehen, dass unsere geistigen Fähig keiten - beispielsweise unsere Fähigkeit, über Zahlen nach zudenken, zu rechnen und abstrakt zu schließen - keine Leis tungen sind, die wir isoliert, innerhalb der Grenzen unseres 109
Gehirns durch einen innerlichen Kraftakt erbringen können. Wir verwenden Hilfsmittel zum Denken, und manchmal han delt es sich dabei nicht nur um äußere Hilfsmittel (die sich buchstäblich außerhalb des Kopfes befinden), sondern häufig auch um gemeinsam genutzte und kollektive Hilfsmittel (wie die Sprache oder die Papierstreifen der Fluglotsen). Die Ma schinerie, die uns das Denken, Planen und Rechnen ermög licht, befindet sich vielleicht teilweise, aber eben nicht voll ständig in unserem Inneren.
Die Bedeutung ist nicht im Kopf Skeptiker mögen einwenden, dass, selbst wenn die Sprache ein kollektives kulturelles Instrument ist, doch jeder von uns die Sprache verinnerlicht, denn nichts anderes bedeutet es ja schließlich, eine Sprache zu beherrschen. Nicht jeder Mensch beherrscht jede Sprache. Wenn wir eine Sprache lernen, ler nen wir ein Regelwerk, mit dessen Hilfe wir in dieser Sprache denken, Abbilder schaffen und argumentieren können. Das Denken, Argumentieren usw. findet in uns statt. Daher liefert das Phänomen der Sprache genau genommen keinen Beleg dafür, dass der Geist nicht im Kopf sitzt. Dieser Einwand stützt sich auf das, was man als klassische Auffassung von Wörtern, Bedeutungen und Sprache bezeich nen könnte. Diesem Ansatz zufolge gebrauchen wir die Spra che, um die Welt zu beschreiben und wahre Aussagen zu tref fen. Wörter beziehen sich auf Dinge oder Eigenschaften. Die Bedeutung eines Wortes zu kennen heißt zu wissen, worauf es sich bezieht. »Wasser« bezieht sich beispielsweise auf Was ser oder H2O, also auf die durchsichtige Flüssigkeit, die in Flüssen oder Bächen fließt und aus dem Wasserhahn kommt. »Gold« bezieht sich auf ein verformbares gelbes Edelmetall. »Buche«, »Ulme« und »Eiche« sind die Namen von Bäumen. Eine Sprache zu beherrschen heißt, die Bedeutung ihrer Wör ter zu kennen, diese Bedeutungen im Kopf zu haben. Sie legen 110
fest, worüber wir reden, wenn wir uns mithilfe der Sprache verständigen. Die Philosophie der letzten sechzig Jahre hat diese klas sische Vorstellung von Sprache vollkommen widerlegt. Ich könnte eine Ulme nicht von einer Buche unterscheiden, selbst wenn mein Leben davon abhinge - aber trotzdem kann ich wahre Aussagen über Ulmen treffen, wie beispielsweise, dass Ulmen in den USA durch die Holländische Ulmenkrankheit aussterben. Wie kann ich mich mit dem Wort »Ulme« genau auf Ulmenbäume beziehen, obwohl ich nicht in der Lage bin, Ulmen zu erkennen? Die Antwort ist: Ich bin nicht persönlich dafür verantwortlich, meinen Worten eine Bedeutung zu ver leihen. Sie haben eine Bedeutung dank der Existenz einer gesellschaftlichen Sprachpraxis, an der ich teilhaben darf. Es ist für den Fortbestand dieser Praxis entscheidend, dass es Fachleute gibt, die eine Ulme von einer Buche unterscheiden können. Aber dank der sprachlichen Arbeitsteilung in der Ge sellschaft - so nennt es Hilary Putnam, der Urheber dieses An satzes - muss nicht jeder Einzelne von uns dafür sorgen, dass sich Wörter sinnvoll auf etwas beziehen. Wir verlassen uns dabei auf andere. Und das können wir, weil die Bedeutung nichts Innerliches ist, weder für uns noch für die Fachleute. Die Bedeutung hängt vom Gebrauch ab, ebenso wie das Poten zial des Turms beim Schachspiel von dessen Gebrauch ab hängt. Das alles soll nicht heißen, dass wir nicht wissen müssen, worüber wir reden, um zu reden! Wir müssen die Sprache schon verstehen. Aber Putnams auf Wittgenstein basierende Sprachtheorie zeigt uns: Sprachverständnis (also dass man weiß, was die Wörter »Ulme« und »Buche« bedeuten) heißt nicht, dass man die Regel für den Wortgebrauch kennen muss. Vielmehr geht es darum, ein Wort korrekt anwenden zu können (das heißt, an der Sprachpraxis teilhaben zu kön nen), und wenn einem das gelingt, dann weiß man, praktisch gesehen, was eine Ulme ist. Putnam vertritt nicht nur den Ansatz der sprachlichen Ar 111
beitsteilung in einer Gesellschaft, sondern geht auch davon aus, dass die Bedeutung von Sprache von der Einbettung des Sprechers in eine Umwelt abhängt. Noch bevor wir gelernt ha ben, dass es sich bei Wasser um H2O handelt - das heißt, noch bevor es Fachleute gab, die Wasser von anderen, auf den ers ten Blick ähnlichen Flüssigkeiten unterscheiden konnten -, waren wir in der Lage, das Wort »Wasser« in Bezug auf die Erscheinung Wasser zu verwenden. Das liegt daran, dass wir uns damit schließlich auf dieses Zeug beziehen, das wir trin ken, mit dem wir uns waschen und das wir zum Kochen ver wenden. Es ist unser täglicher Umgang mit Wasser, durch den dieses Zeug zu dem wird, worauf wir uns beziehen, wenn wir das Wort »Wasser« benutzen. Das Wort ist in eine Praxis ein gebettet, in der echtes Wasser verwendet wird. Dieser Gedanke lässt sich noch weiter ausführen. Wenn wir eine Sprache lernen, eignen wir uns natürlich auch Wis sen an. Aber sprachliches Wissen ist zu einem erheblichen Teil kein Wissen um einen konkreten Sachverhalt, sondern vielmehr eine erworbene Fähigkeit im Umgang mit Wörtern und Dingen. In vielen Fällen hängen unsere Sprachkenntnisse von der aktiven Auseinandersetzung mit unserer Umgebung ab. Daher stützt die Realität der Sprache in keinerlei Hinsicht den Ansatz einer eher cartesianischen, individualistischen Linguistik.
Das geheime Leben der Schnecken Eine der ältesten Vorstellungen von uns Menschen ist, dass wir ein Selbst haben, ein inneres »Ich«, das in uns wohnt und unsere Bewegungen und Handlungen steuert, leitet und be herrscht. Im 20. Jahrhundert wurde diese Vorstellung immer wieder angefochten. So argumentierte Freud beispielsweise, dass das Bewusstsein überhaupt nichts beherrscht, sondern bestenfalls Geschichten über sich erfindet. Und diese Auffas sung wird häufig auch von der modernen Kognitionswissen112
Schaft vertreten. An der Mehrzahl der Neurowissenschaftler scheint diese Erkenntnis vorbeigegangen zu sein: In ihren grundlegenden Annahmen über das Gehirn und dessen Stel lung in unserem Leben gehen sie von einem recht simplen Be griff des Selbst aus. So gebrauchen sie zum Beispiel häufig die Metapher des Gehirns als Kontrollzentrum. Das Gehirn über wacht, sammelt und wertet geheime Daten aus, es sendet und empfängt Übertragungen, Befehle und Warnungen, es bewäl tigt den Drahtseilakt zwischen Reizinput und Verhaltens output, der das Leben ausmacht. Das Bild vom Gehirn als Kontrollzentrum ist irreführend. Um zu verstehen, was daran nicht stimmt, sehen wir uns zu nächst einmal das erstaunliche neurokognitive Leben von Meeresschnecken an. Wenn man den sogenannten Kalifor nischen Seehasen (Aplysia californica) anfasst, weicht er der Be rührung aus. Die Schnecke zieht sich zurück, etwa so, wie wir die Hand von einem heißen Gegenstand zurückziehen. Bei wiederholter Berührung entspannt sich die Meeresschnecke. Sie gewöhnt sich an die Berührung und weicht nicht mehr automatisch aus. Diese Gewöhnung der Schnecke an eine Berührung ist ein Lern- und Erinnerungsprozess. Im Gegensatz dazu steht ein anderer Lernprozess, den man Sensibilisierung nennt. Wenn eine Meeresschnecke statt einer sanften Streicheleinheit einen Stromschlag erhält, schnellt sie zurück. Durch wieder holte Stromschläge lernt die Meeresschnecke recht bald, vor jeder Art der Berührung auf der Hut zu sein, und zieht sich nun bei der leichtesten Berührung sofort zurück. Man kann sich leicht in die Schnecke hineinversetzen: Nach einem elek trostatischen Schlag zögern wir zunächst, den Türgriff anzu fassen, obwohl sich die Spannung ja schon entladen hat. Eric Kandel und seine Kollegen an der Universität New York und später der Columbia-Universität untersuchten die neuro nalen Grundlagen dieses Lernprozesses bei Meeresschnecken. Sie fanden heraus, dass sich die Meeresschnecke hervorragend für derartige Untersuchungen eignet. Sie hat nur ungefähr 113
20 000 Neuronen, und diese sind ziemlich gut sichtbar. Daher kann man leicht beobachten, was geschieht, wenn die Meeres schnecke eine der oben genannten Situationen bewältigen muss. Vereinfacht ausgedrückt, fanden Kandel und seine Kol legen heraus: Meeresschnecken haben sensorische Neuronen, die auf Berührungen reagieren, und motorische Neuronen, die Bewegungen hervorbringen. Die sensorischen und moto rischen Neuronen sind miteinander verknüpft. Ein Berüh rungsreiz aktiviert die sensorischen Neuronen, die wiederum direkt die motorischen Neuronen aktivieren, was zu einer Rückzugsreaktion führt. Die Gewöhnung funktioniert folgen dermaßen: Bei wiederholten harmlosen Berührungen wird die Verbindung zwischen den sensorischen und motorischen Zellen schwächer. Wiederholte Stimulation verändert die Phy siologie. Wenn die Wiederholung oft genug durchgeführt wird, dann ändert sich die Physiologie quasi ein für alle Mal. (Deshalb spüren wir unsere Kleidung auch nicht mehr.) Die Sensibilisierung funktioniert genau andersherum: Schmerz hafte Berührungen verstärken die Synapsenverbindung zwi schen dem sensorischen Input und dem motorischen Output. Die Meeresschnecke lernt, sie erinnert sich, sie ändert ihr Verhalten durch diesen Lernprozess. Nun stellt sich die Frage: Wo in dieser Geschichte kommt das Kontrollzentrum vor? Wo findet dieser Lernprozess statt? Wo wird die Entscheidung ge troffen, vor einer Berührung zurückzuschnellen oder sich an gesichts einer wiederholten Berührung zu entspannen? Die Antwort ist: Es gibt kein Kontrollzentrum. Der Lernprozess ist über das gesamte Nervensystem des Lebewesens verteilt. Die Meeresschnecke lernt, und dafür ist das verkörperte Nerven system des Tieres als komplexes Netzwerk zuständig. Noch bemerkenswerter ist, dass der gesamte Prozess der physiologischen Umgestaltung von der stimulierenden Um gebung herbeigeführt wird. Die neurophysiologische Anpas sung hängt natürlich von der genetischen Beschaffenheit des Tieres und der molekularen Chemie ab, die den Prozess der Verstärkung oder Schwächung von Synapsenverbindungen 114
steuert. Aber was die Veränderungen anstößt, ist die Einwir kung der Umwelt auf das Tier. Die Veränderungen sind ein Re sultat der Umweltsituation. Wodurch lässt sich also der Lern- und Erinnerungsprozess des Tieres erklären? Um die Leistung des Tieres zu verstehen, müssen wir das kontinuierliche Wechselspiel zwischen dem Tier und seinem Nervensystem auf der einen Seite und der Umwelt auf der anderen Seite untersuchen. Wo hört die Meeresschnecke auf, und wo fängt die übrige Welt an? Auf den ersten Blick liegt die Grenze eindeutig an der Körperoberfläche der Meeresschnecke. Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch heraus, dass die Meeresschnecke erst da durch, wie sie an eine bestimmte Situation gebunden, von ihr beeinflusst und an sie gekoppelt ist, zu dem wird, was sie ist. Die Welt wirkt auf die Meeresschnecke ein, das Tier reagiert darauf. Wie es agiert, hängt von der Einwirkung der Umwelt ab. Die Meeresschnecke ist ein Vektor der unterschiedlichen Kräfte des Körpers, des Nervensystems und der Welt. Sie ist, was sie ist, weil ihre Vergangenheit in diesem Umweltkontext stattgefunden hat - und weil sie mit dieser Umwelt auch wei terhin interagiert.
Wo hören wir auf? Unterscheiden wir uns so sehr von der Meeresschnecke? Das könnte man glauben - schließlich haben wir ein Bewusstsein. Unsere Handlungen sind nicht einfach Reaktionen der Synap sen auf Sinnesreize. Wir können wahrnehmen, die Welt zeigt sich uns, wir denken und planen, unsere Handlungen werden von unserem Wissen, unseren Gefühlen, unseren Bedürfnis sen und unseren Wünschen geformt und geleitet. Im fünften Kapitel werde ich erörtern, warum dies eine falsche Sicht auf das Bewusstsein und dessen Rolle in unserem Leben ist: Ich werde zeigen, dass man das Bewusstsein nicht als Bestimmer und Berater verstehen kann. 115
Vorerst steht jedoch die Metapher des Gehirns als Kontrollzentrum auf dem Prüfstand. Unser Nervensystem ist mit Sicher heit viel komplexer als das einer Meeresschnecke; ebenso komplex sind die unzähligen Arten, durch die die Welt auf uns einwirken und uns Handlungsmöglichkeiten einräumen kann. Aber wie die Meeresschnecken sind wir an die Welt ge bunden, und was wir sind und erreichen können, hängt im gleichen Maße von dem ab, was uns geschieht, wie von dem, was wir tun. Wir haben mit der Meeresschnecke eines ge mein: Wir sind nicht autonom. Wir sind in der Welt und ein Teil von ihr. Das zeigt sich auch an einer einfachen und wohlbekann ten Tatsache. Wir Säugetiere haben die erstaunliche Eigen schaft, dass wir zumeist unreif zur Welt kommen. Wir errei chen unsere Reife und alle damit verbundenen Fähigkeiten erst nach einer langen Kindheit. Aber was ist die Kindheit an deres als der Prozess, durch den die Umwelt auf uns einwirkt und uns zu dem macht, was wir werden (wie im dritten Kapi tel erörtert)? Nehmen wir einmal das visuelle System der Säugetiere: Wenn man einen Säugling daran hindern würde, die Augen zu benutzen - beispielsweise, indem man ihm die Augenlider zunäht, ihn in der Dunkelheit aufzieht oder wenn er grauen Star hätte -, dann blieben aufgrund fehlender Reize unzählige neuronale Verbindungen unentwickelt, die für ein voll ausgebildetes Sehvermögen Voraussetzung sind. Das Er leben selbst ist also erforderlich, damit ein Säugling das neurophysiologische Rüstzeug für ein voll entwickeltes Erleben erwerben kann. Diese Art der Formbarkeit während der Entwicklung scheint mit der Metapher des Kontrollzentrums gerade noch vereinbar zu sein. Die Geschichte wird dadurch eben nur ein kleines bisschen komplizierter: Das Gehirn des Säuglings ist anungsfähig und braucht die Interaktion mit der Umwelt, damit es später zu einem Kontrollzentrum heranreifen kann. Aber viel fesselnder ist doch der Gedanke, dass das Gehirn un sere Handlungen ebenso wenig beherrscht wie ein Surfer 116
die Welle, auf der er reitet. Gehirn, Körper und Welt stehen in einem Prozess dynamischer Interaktion. Und in diesem Pro zess finden wir uns selbst.
FAZIT: Wir sind mit der Welt verwoben Orientierungspunkte, Hilfsmittel und Werkzeuge, gemein sam genutzte Orte und gemeinsam ausgeübte Praktiken gehö ren zur Maschinerie unseres Daseins. Zum Teil bestehen wir aus dem Strom unserer Aktivitäten in unserer Umwelt. Zum Teil bestehen wir aus unserer Umwelt. Was einfach nur hei ßen soll, dass wir nicht von der Welt getrennt, sondern ihr zugehörig, ein Teil von ihr sind. Susan Hurley bezeichnete Menschen als dynamische Singularitäten. Wir sind Orte, an denen etwas geschieht. Wir sind weit. Viele von uns wurden im Glauben erzogen, dass Gewohn heiten etwas Schlechtes sind und man mit ihnen brechen muss. Im nächsten Kapitel versuche ich, Sie davon zu über zeugen, dass Gewohnheiten eigentlich ein wichtiger Bestand teil unseres Geisteslebens sind. Weil Gewohnheiten in höchs tem Maße umweltabhängig sind, belegen sie eindrucksvoll, wie unsere Daseinsform eine kontinuierliche Abhängigkeit von unserer Umwelt mit sich bringt.
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5 GEWOHNHEITEN Wanderer, deine Spuren sind der Weg, sonst nichts; Wanderer, es gibt keinen Weg, Weg entsteht im Gehen. Im Gehen entsteht der Weg. Antonio Machado
Lange Zeit gingen Wissenschaftler davon aus, dass man den ken, rechnen und abwägen können muss wie wir, um einen Geist zu haben wie den unseren. Aber eigentlich braucht man für einen Geist wie den unseren nur Gewohnheiten wie unsere. Gewohnheiten und Fähigkeiten sind umweltbedingt in dem Sinne, dass sie durch Umweltfaktoren ausgelöst werden und ohne ein angemessenes Umfeld verschwinden. Wir müssen die Vorstellung aufgeben, dass wir autonome Inseln der Entschei dungskraft sind, die auf der Basis von sorgfältigen Analysen und einem gesunden Urteilsvermögen handeln. Unsere Natur ist viel enger als gedacht mit unserer Umwelt verwoben.
Gewohnheitstiere Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Gewohnheiten sind von zentraler Bedeutung für die menschliche Natur. Roboteringe nieure sollten aufen: Sie setzen darauf, schlaue Roboter zu entwickeln, die Schach spielen oder Hindernissen ausweichen können. Aber es wäre besser, Roboter mit Gewohnheiten zu konstruieren. Meine Hypothese ist: Nur ein Geschöpf mit Gewohnheiten kann einen Geist wie den unseren haben. 118
Die traditionelle Sicht der Kognitionswissenschaft auf den Geist verkennt die Bedeutung von Gewohnheiten, denn für sie ist die Klugheit des Menschen das eigentlich Interessante. Wir denken, wir treffen Aussagen, wir benutzen den Verstand. Wir nehmen wahr, wir beurteilen, wir planen, wir handeln. Wir sind vernünftige Lebewesen. Diese Auffassung basiert auf Platons Ansicht, dass rechtschaffene Menschen ihre Gefühle dem Verstand unterordnen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Descartes, der darauf bestand, dass jeder von uns intellektuell dazu verpflichtet ist, auch die einfachsten Überzeugungen anzuzweifeln (»Das ist ein Stück Wachs«, »Diese Menschen gehen draußen am Fenster vorbei«). So sollen wir unser Wis sensgefüge von Grund auf und Stück für Stück neu errichten. Descartes glaubte anscheinend, dass es uns so zumindest prin zipiell gelingen könnte, unser Weltbild vollkommen verstan desmäßig zu beherrschen. Was diese Auffassungen gemein und der Kognitionswissenschaft vererbt haben, ist die Vorstel lung, dass wir im Kern unserer Natur Denker sind. Dieser intellektualistische Hintergrund prägt die Sicht der Kognitions wissenschaftler auf den Menschen. Dieser intellektualistischen Sicht zufolge sind wir frei von Gewohnheiten. Unsere besondere Natur offenbart sich in eben jener Tatsache, dass wir wahrnehmen, beurteilen, entschei den, planen und handeln. Wir sind genau deshalb frei, weil wir uns über reine Gewohnheiten erheben und nach Prinzipien handeln. Darin liegt ein Körnchen Wahrheit. Die Freiheit, die aus Überlegungen und Entscheidungen entsteht, hat einen Nutzen, nämlich den, sich von Vorurteilen frei zu machen. Doch genau hier liegt der Hase im Pfeffer: Beurteilungen, Über legungen und Entscheidungen finden immer in einem Kon text, in einem Umfeld statt. Allen Phantastereien Descartes’ zum Trotz können wir nicht nur auf reiner Vernunft und Ur teilskraft aufbauen. Urteile zu fallen, zu kategorisieren, zu in terpretieren - all das erfordert, dass die Begrifflichkeiten und Auffassungen eines Menschen zumindest im Großen und Ganzen gefestigt sind. Aufgrund der halbrunden Oberlichter 119
mag ich zu dem Schluss gelangen, dass es sich bei dem Ge bäude vor mir um Georgianische Architektur handelt, aber indem ich zu einem wohlüberlegten Urteil wie diesem kom me, setze ich schon als gegeben voraus, was ein Haus oder ein Fenster ist. Wenn ich mir über einer kniffligen Rechenaufgabe den Kopf zerbreche, dann geht das nur deshalb, weil ich die dafür notwendigen Grundkenntnisse (etwa das Zählen) sicher beherrsche. Die Phantasie der Emanzipation durch Vernunft ist genau das - eine Phantasie -, zumindest wenn wir damit sagen wollen, dass es eine Form des Geisteslebens gibt, die von Voraussetzungen unabhängig ist. Das eigentliche Problem dieses intellektualistischen Ansat zes ist, dass er rationales Abwägen zum grundlegendsten aller kognitiven Prozesse erklärt - dabei besteht Denken und Ab wägen ja selbst nur in der Ausübung viel grundlegenderer Fä higkeiten, in der Ausübung von erworbenem Expertenwissen. Und ein Experte zeichnet sich vor allem durch Gewandtheit aus. Er ist in der Handlung versunken und denkt eben nicht über sie nach. Er meidet das distanzierte, sorgfältige Über legen, das für den Intellektualisten doch unsere tiefste Natur ausmacht. Für ihn sind wir unser Leben lang Anfänger, un erfahrene Neulinge, die ihrer Umwelt entfremdet sind. Für den Intellektualisten ist die Welt etwas Fremdes, ein Objekt, etwas, das wir ergründen, interpretieren und analysieren müssen. Wir sind für alle Ewigkeit in der Rolle des Mr. Spock gefangen und fragen uns: »Was ist das nur für ein seltsamer Erden brauch?«
Vom Anfänger zum Experten Sehen wir uns das von der Psychologie als »Expertise« bezeich nete Expertenwissen einmal etwas näher an. Wenn wir eine neue Fertigkeit erlernen, wie beispielsweise einen Baseball zu treffen, müssen wir uns sehr auf die Bewegungsabläufe kon zentrieren. Wir lernen, den Schläger zu halten und zu schwin 120
gen, wir konzentrieren uns darauf, uns gleichmäßig zu bewe gen und das Handgelenk richtig zu drehen. Psychologen haben durch Experimente nachgewiesen, dass sich die Leistung eines von der Psychologie als »Novizen« bezeichneten Anfängers durch Konzentration auf die Bewegungsabläufe verbessern lässt. Man wird besser, wenn man sich auf sich selbst und die Handlung konzentriert. Bei einem sogenannten Experten verhält es sich dagegen genau andersherum. Erwiesenermaßen verschlechtert sich die Leistung eines Experten, wenn er sich auf die Bewegungs abläufe einer Aufgabe konzentriert. Die Expertise ermöglicht es dem Experten also nicht nur, sich auf etwas anderes zu konzentrieren (wie beispielsweise auf die Taktik oder die Frage, welcher Wurf als Nächstes zu erwarten ist), sondern sie ist eine der Grundvoraussetzungen dafür. Die Leistung eines Experten läuft reibungslos ab, weil er sich mit den weiter ge fassten Parametern der Aufgabe befassen kann, die einem No vizen verborgen bleiben. Wenn ein Experte sich zu sehr auf die Handlungs- und Bewegungsabläufe konzentriert - sich also wie ein Novize verhält -, bricht der Handlungsfluss ab, und der Experte gerät ins Straucheln. Dass sich Novize und Experte auf qualitativ verschiedene Weise mit ihren Handlungen auseinandersetzen, hat auch die Neurowissenschaft bestätigt. So wurde beispielsweise gezeigt, dass bei hoch qualifizierten Experten wie Musikern und Sport lern die gesamte Hirnaktivität im Vergleich zu Novizen ab nimmt, wenn sie ihr Können zur Schau stellen. Man könnte fast sagen, je besser der Spieler ist, umso weniger gibt es für das Gehirn zu tun! Bei einem erfahrenen Spieler übernimmt die Handlung selbst die Regie. Bei Experten zeigt sich auch eine Verringerung der Muskelaktivität. Ihre Körperpartien be teiligen sich sparsam und elegant an der Ausführung der Handlung. Um es mit der Überschrift eines neurowissen schaftlichen Artikels aus der Expertiseforschung zu sagen: »Der Geist bei einer motorischen Expertiseleistung ist kühl und konzentriert.« 121
Am Anfang war die Situation Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass wir als Individuen keine Novizen oder Fremde in Bezug auf unsere Umwelt sind. Diese intellektualistische Auffassung ist von Grund auf falsch, und daher ist es auch töricht anzunehmen, dass unsere Be ziehung zur Welt der eines Computers oder Roboters ent spricht. Diese werden ja genau dafür gebaut, ebenjene distan zierte, verstandesbetonte Haltung einzunehmen - also ein inneres Abbild von einer Situation zu erstellen, Pläne zu schmieden und diese in die Tat umzusetzen -, die der Intel lektualist fälschlicherweise zur wichtigsten Eigenschaft un seres Geisteslebens erklärt. Der Intellektualist, der vernünftiges Abwägen für die para digmatische Tätigkeit unseres Geistes hält, kann ja nicht ein mal unsere vernunftbetonten Aktivitäten richtig beschreiben. Auch im intellektuellen Bereich, beim Schach, der Mathema tik, dem Sprechen und Lesen, gibt es nämlich einen Gegensatz zwischen dem Experten und dem Novizen; auch hier lässt sich nachweisen, dass wir, um etwas meisterhaft ausführen zu können, eben genau auf die Sorgfalt und Überlegungen verzichten müssen, die der Intellektualist fälschlicherweise zum Gütesiegel unseres Geisteslebens erklärt. Untersuchen wir beispielsweise einmal, wie der Erwerb einer Fremdsprache funktioniert. Am Anfang lernen wir Wör ter, eines nach dem anderen, und kämpfen mit der richtigen Aussprache; wir prägen uns die Regeln für die Deklination, die Konjugation und die Kombination von Wörtern ein. Um eine Fremdsprache zu erlernen, müssen wir uns zumindest am Anfang sehr mit der Sprache selbst auseinandersetzen, das bedeutet, wir werden von dem abgelenkt, was uns beim Sprechen normalerweise interessiert, nämlich worüber und mit wem wir reden. Oft heißt es, dass es für Erwachsene viel schwieriger ist, eine Sprache zu lernen, als für junge Men schen. Das ist zweifelsohne richtig und lässt sich wohl teil weise damit erklären, dass jüngere Menschen einfach eher als 122
ältere dazu bereit sind, ihre normalen Beschäftigungen (mit Aufgaben, anderen Menschen, der Arbeit) zu unterbrechen. Vielleicht haben junge Menschen auch nicht so viel zu tun. Für einen Neunzehnjährigen ist es aufregend, den Tag in einem Café zu verbringen und seine Small-Talk-Kenntnisse zu trai nieren. Ein Erwachsener wird wahrscheinlich arbeiten müs sen oder sogar wollen! Jemand, der die Sprache schon fließend beherrscht, kann sich nicht mehr im gleichen Maße auf die Sprache selbst und deren Regeln konzentrieren wie ein Anfänger. Er hat wahr scheinlich die Regeln, Verbtabellen und Eselsbrücken verges sen, die für ihn am Anfang so wichtig waren. Außerdem wird der Sprachfluss durch nichts mehr unterbrochen, als wenn wir uns auf die Worte und Laute konzentrieren anstatt auf das, was wir sagen wollen. (Das gilt vermutlich auch für Schau spieler.) Eine Sprache zu beherrschen heißt, nicht mehr an die Regeln denken zu müssen, weil wir sie verinnerlicht ha ben. Entscheidend ist, dass ein geübter Sprecher/Hörer einer Sprache sich in Bezug auf deren Formen und Möglichkeiten qualitativ sogar vom besten Schüler abhebt. Eine Sprache zu beherrschen bedeutet niemals, einfach die Regeln anzuwen den, die wir als Anfänger gelernt haben, nur eben schneller und mit weniger Fehlern. Im Allgemeinen ist die meisterhafte Beherrschung einer Sprache nicht mit einer besonders ausgeprägten Fähigkeit verbunden, über die Sprache nachzudenken, zu sprechen oder deren Regeln und Prinzipien zu erklären. Auch ein guter Gi tarrist weiß ja nicht notwendigerweise, wie man jemandem am besten das Spielen beibringt. In vielen Gesellschaften einschließlich unserer - wird diese unbestreitbare Tatsache gern unter den Teppich gekehrt. Denn unser Bild von der Stel lung der Sprache in unserem Leben wird nicht nur von un serem alltäglichen Sprachgebrauch geprägt, sondern auch sehr grundlegend von der Sprachideologie oder -theorie, die wir in der Schule lernen. Uns wird die Theorie einer Sprache vermittelt, und daher halten wir Sprachen ganz natürlich für 123
ein multifunktionales, kontextunabhängiges Zeichensystem, mit dem wir etwas benennen, beschreiben, wahre Aussagen treffen und Informationen weitergeben können. Uns wird der Umgang mit Wörterbüchern beigebracht, und daher glauben wir ganz natürlich, dass es für jedes Wort eine eindeutige Be deutung oder vielleicht mehrere eindeutige Bedeutungen gibt. Wenn wir eine Fremdsprache lernen, müssen wir Sätze aus der Muttersprache in die Fremdsprache und andersherum übersetzen. So kommen wir zu der Ansicht, dass Sprachen in festgelegten Beziehungen zueinander stehen. Es ist vielleicht schwer oder gar unmöglich, das nachzuvollziehen: Aber Men schen, denen diese Ideologie der Übersetzbarkeit und Dokumentierbarkeit von Sprachen nicht vermittelt wurde, er scheint der Gedanke, von einer Sprache in eine andere zu übersetzen, genauso befremdlich wie die Idee, Fußball in Base ball zu »übersetzen«. In großen Teilen der Welt leben die Men schen in einem extrem vielsprachigen Umfeld. Tatsächlich ist die Vorstellung »ein Volk/eine Sprache« eine kulturelle Erfin dung des 19. Jahrhunderts. Und obwohl ein Mensch in Zinder (Niger) wahrscheinlich mehrere Sprachen spricht - zu Hause Fulani, auf dem Markt Hausa, die Nachrichten hört er auf Französisch -, kommt er nie in die Verlegenheit, übersetzen zu müssen. Warum sollte man sich auf dem Markt auf Fulani verständigen? Und welchen Anlass gäbe es, zu Hause Franzö sisch zu sprechen? Sprachen sind keine abstrakten Zeichen systeme, zumindest nicht ausschließlich. Sprachen sind As pekte eines eingebundenen menschlichen Lebens. Dass Sprache und Handlungen miteinander verflochten, dass Sprachen ein besonderer Aspekt unserer Auseinander setzung mit einer Situation sind, damit werden wir ständig konfrontiert. Jugendliche gebrauchen eine andere Sprache als ihre Eltern, und es ist ein Indiz für die sprachliche und soziale Kompetenz eines Jugendlichen, wenn er im Gespräch mit einem Erwachsenen seinen Sprachgebrauch ant und sich dessen vielleicht noch nicht einmal bewusst ist. (Warum sollte man mit einem Erwachsenen auch wie mit einem Gleichaltrigen 124
sprechen?) Den ganzen Tag variieren wir unsere Sprache, je nachdem, ob wir Brot beim Bäcker kaufen, unterrichten oder uns mit einem Polizisten oder einem Ausländer unterhalten. Unsere Sprache t sich also unseren Interessen und den Erwartungen an unseren Gesprächspartner an. In welche Worte ich den Inhalt meines Gespräches kleide, hängt davon ab, wie ich den Wissensstand meines Gegenübers einschätze. Baseballfans, Computerexperten und Finanzleute sprechen in einem Jargon, der ihren Interessen- und Berufsfeldern ent spricht. Wenn wir also etwas über Computer oder Kricket lernen, lernen wir gewissermaßen eine neue Sprache. Allgemein kann man also sagen, dass das Beherrschen einer Sprache nicht mit sprachtheoretischem Wissen gleich zusetzen ist, obwohl das eine gewöhnlich mit dem anderen einhergeht. Man kann ja auch nicht Baseball spielen, nur weil man sich mit Baseball auskennt. Eine Sprache zu beherrschen ist eine kognitive Leistung, ein Beispiel für Intelligenz und den Gebrauch des Verstandes. Dabei geht es aber nicht darum, diese oder jene Regel auswendig gelernt oder ein komplexes Zeichensystem verinnerlicht zu haben. Wenn wir eine Sprache perfekt beherrschen, nehmen wir an einer bestimmten gesell schaftlichen Praxis teil, oder wichtiger noch, wir nehmen an einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis teil, von der die Sprache nur ein Aspekt ist.
Die Sprache des Schachspiels Für Wissenschaftler, die in der intellektualistischen Tradition von Platon und Descartes stehen, ist das Denken eine Art Rechenprozess, der aus wohlüberlegten, akribischen Kalkula tionen besteht. Da wir denkende Lebewesen sind, ist jeder von uns - zumindest aus Sicht dieses traditionellen Ansatzes - ein von der Evolution hervorgebrachter biologischer Computer. Sehen wir uns jetzt einmal an, was die Kognitionswissen schaft zum Schach zu sagen hat. Schach ist ein kompliziertes 125
und anspruchsvolles Spiel, das von vielen Menschen - und von manchen sogar ganz ausgezeichnet - beherrscht wird. Für An hänger der intellektualistischen Weitsicht ist das eine beein druckende Tatsache, denn das Schachspiel erfordert eine ge waltige Rechenleistung. Der Schachspieler muss aus einer astronomisch hohen Anzahl möglicher, erlaubter Züge den Zug auswählen, der ihn am besten zum Sieg führt. Dafür muss sich der Spieler im Kopf ein akkurates Bild des Spielstandes machen, sich die Konsequenzen der möglichen Züge ausmalen und dann entscheiden, ob diese Konsequenzen wünschens wert sind - und das alles unter Zeitdruck. Außerdem stellt sich dieses Problem bei jedem Zug mehr oder weniger neu! Um Schach spielen zu können - zumindest, um es gut spielen zu können -, müsste man ja geradezu ein Computer sein! Die Tatsache, dass wir so gut Schach spielen können, beweist also, dass wir Computer sind. Vielleicht merken wir es nicht, aber unser Verstand rechnet in unserem Unterbewusstsein die ganze Zeit vor sich hin und sagt uns dann, welchen Zug wir machen sollen. Dass wir in der Lage sind, sehr effektive Schachpro gramme für den Computer zu entwickeln, wird ebenfalls als Beleg dafür gewertet, dass wir Computern ebenbürtig sind; wir lösen Probleme beim Schachspiel auf die gleiche Weise. Und daraus folgt dann ein riesiges Forschungsprogramm für die experimentelle Psychologie. Computerprogramme sind Algorithmen. Wenn wir Computer sind, dann muss es doch möglich sein herauszufinden, welche Programme auf uns laufen. Auf welchem Zeichensystem basiert unser Schachpro gramm? Diesen Fragen können wir mithilfe der experimen tellen Psychologie auf den Grund gehen. Vielleicht lässt sich die augenblickliche Überlegenheit künstlicher Computer da durch erklären, dass sie besser programmiert sind als wir. Oder vielleicht ist es auch eher ein Hardwareproblem ; möglicher weise sind unsere Prozessoren einfach zu langsam oder zu klein. So tönt die Litanei vieler Wissenschaftler, und was ich hier gerade heruntergebetet habe, ist ihr Evangelium. Doch gibt es 126
Gründe dafür, diesem Entwurf eher skeptisch gegenüberzu stehen. Wir menschlichen Schachspieler müssen die brauch baren Züge gar nicht aus einer nahezu unendlichen Anzahl möglicher Züge auswählen. Jeder Schachspieler weiß, dass es nur ein paar Züge gibt, die in einer bestimmten Spielkonfigu ration überhaupt infrage kommen. Außerdem lässt die Stel lung der Figuren auf dem Schachbrett meistens nur bestimmte Züge zu. Selbst wenn es verschiedene Möglichkeiten gibt, auf den Zug eines Gegners zu reagieren, wird es häufig höchstens ein oder zwei Züge geben, über die sich das Nachdenken lohnt. Ein erfahrener Schachspieler steht nicht vor der Rechenauf gabe, aus einer unendlichen Anzahl potenzieller Möglichkei ten einen Zug auswählen zu müssen. Dieses Problem stellt sich einem erfahrenen Schachspieler weder unbewusst noch im Gehirn - es stellt sich ihm gar nicht. Schach ist ein Arte fakt, es hat einen Zweck; wir spielen, um zu gewinnen, wir spielen gegen andere, wir spielen gegen Menschen, die unser Wissen teilen und das gleiche Ziel verfolgen. Das Spiel selbst also die Figuren, das Brett, die Regeln, die Gebräuche, die Ge schichte usw. - ist die Umwelt, in der wir uns beim Schach spiel aufhalten. Natürlich ist Schach ein Denksport, bei dem unser Wissen und unsere Intelligenz getestet werden. Wenn wir den Gedan ken aufgeben, dass die mühseligen, zaghaften Überlegungen eines Anfängers unser Paradigma von Verständnis und Intel ligenz sind - wenn wir stattdessen anerkennen, dass sich wirkliche Kompetenz, wenn nicht sogar wahres Können eben genau dadurch zeigt, dass man nicht überlegen muss oder kann -, dann sehen wir auch ein, dass Schachprogramme gar nicht Schach spielen. Denn es fehlt ihnen am Verständnis, an der Intelligenz, die Schach so anspruchsvoll macht. Schach computer sind keine Schachspieler, genauso wie ein Schlag mann in der Anfängerliga kein richtiger Baseballspieler ist. Ja, eigentlich sind Schachcomputer nicht einmal Anfänger.
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Die Sprache des Denkens Die gleichen Überlegungen können wir auch zur Sprache anstellen. Der übliche Ansatz der modernen »wissenschaft lichen« Linguistik geht davon aus, dass unsere Grundkompe tenz als versierte Sprecher einer »natürlichen« Sprache in unserer Kenntnis der Regeln besteht, mit denen man Wörter grammatikalisch richtig aneinanderreiht, und dass unsere Grundkompetenz als Hörer darin besteht, den Sätzen anderer Sprecher mittels unserer Kenntnis der Wortbedeutungen und Kombinationsregeln eine Bedeutung zuzuordnen. Der Sprach gebrauch - so nimmt man gemeinhin an - hängt von unserer Fähigkeit oder vielmehr der Fähigkeit des Gehirns ab, Satz folgen schnell und zuverlässig zu analysieren, in Teile zu zer legen und zu dekodieren. Dieses Verständnis von Sprache beruht auf einer systema tischen Missachtung des tatsächlichen Phänomens der Spra che - genauso, wie ein Verständnis von Schach als Rechen prozess den tatsächlichen Charakter des Schachspiels verkennt. Denn wir müssen bedenken, dass wir das meiste, was wir sagen und hören, früher schon einmal gesagt oder gehört ha ben. Gespräche führen uns selten auf unbekanntes Terrain; meistens bleiben wir auf dem Schulhof, auf den asphaltierten Wegen durch den Park oder auf dem Trampelpfad, der zu einer Bank führt. Unsere Sprachwelten - so wie unsere ande ren Welten auch - führen an Pfaden entlang, die durch wie derholtes Begehen entstanden sind. Und wie beim Laufen ist es schwierig, vom Weg abzukommen; so wie das Wasser zum tiefsten Punkt fließt, so bewegt sich auch das sprachliche Denken aufgrund einer Anziehung, der wir nur schwerlich widerstehen können, zum tiefsten Tal hin. Mit wem haben wir heute gesprochen? Mit dem Partner, den Kindern, dem Zeitungsverkäufer an der Ecke, der Empfangsdame, als wir die Post abgeholt haben, oder der Kindergärtnerin des Soh nes? Das meiste von dem, was wir sagen und hören, sagen und hören wir jeden Tag in unserem Leben. 128
Das ist kein Grund zur Beunruhigung. Eines der vielen Missverständnisse über die Sprache ist, dass ihre Hauptfunk tion der Austausch von Informationen oder Gedanken ist. Das Sprechen hat viele Funktionen, aber größtenteils entspricht es sicherlich eher der sozialen Fellpflege der Schimpansen oder dem Hüteverhalten von Schäferhunden als einem durch dachten Diskurs unter Parlamentariern. Wir bellen, damit unsere Kinder den Schulbus nicht veren und damit sie sich sicher und geliebt fühlen; wir schnurren, damit unsere Kollegen wissen, dass wir bei der Sache und einsatzbereit sind. Der Großteil dessen, was wir jeden Tag sagen und tun, gleicht eher den Grunzern und Handzeichen, mit denen sich Baseballspieler über den nächsten Schlagball verständigen, als einer echten Konversation. Linguisten zeigen sich häufig beeindruckt von dem, was Noam Chomsky sprachliche Kreativität nennt - also unser Ver mögen, eine unendliche Anzahl von Sätzen zu verstehen und zu bilden, die wir nie zuvor gehört haben. Unser Wissen um fasst eine unendliche Anzahl wohlgeformter Sätze variabler Länge, die aus einer endlichen Anzahl von Wörtern und ent sprechend einer endlichen Anzahl von Regeln gebildet wer den. Das ist eine noch größere Rechenaufgabe als die, vor der ein Schachspieler angeblich steht, und doch kann diese Auf gabe selbst der am wenigsten Redegewandte unter uns mit Bravour lösen. Die Linguisten wollen nun herausfinden, wie wir - oder unsere Gehirne! - diese Aufgabe bewerkstelligen. Doch bewerkstelligen wir diese Aufgabe gar nicht! Und das müssen wir auch nicht. Wie wir bereits festgestellt haben, gleicht ein Großteil unserer Gespräche eher einem Bellen als dem, was sich Linguisten darunter vorstellen. Außerdem kann ich das meiste von dem, was mein Gegenüber sagt, deshalb verstehen, weil ich schon weiß, was er sagen will, bevor er es überhaupt ausgesprochen hat! Ich stehe niemals vor dem Pro blem, dass ich dem Gesagten mittels meiner Wort- und Regel kenntnis erst eine Bedeutung zuordnen müsste. Diese Aufgabe stellt sich nicht. Zum einen, weil ich und mein Gesprächs129
partner sich (normalerweise) in derselben Situation befinden: Wir betrachten gemeinsam ein Bild oder bemerken gleichzei tig ein lustiges Schild. Unser Gespräch entspringt dem, was wir gerade tun und wo wir gerade sind. Wir reden über dies (das Ding, das wir beide sehen) oder jenes (das Ding, das wir gestern sahen oder nicht sehen wollen oder das uns neugierig macht). Was wir sagen, bezieht sich und ist eine Reaktion auf das, was wir gemeinsam erleben. Genau deshalb ist es üb rigens auch so gefährlich, beim Autofahren mit dem Handy zu telefonieren. Um ein Gespräch führen zu können, müssen wir gewissermaßen eine gemeinsame Umgebung postulieren. Der Fahrer muss sich jedoch auf seine tatsächliche physische Umgebung konzentrieren. Interessanterweise tritt dieser Kon flikt nicht (oder zumindest nicht in gleichem Maße) auf, wenn sich der Fahrer mit einem Beifahrer unterhält. Das liegt schlicht und einfach daran, dass nun das Gespräch vor dem Hinter grund einer gemeinsamen Umgebung stattfindet. Es iert fast nie, dass wir mit reinen, aus dem Zusam menhang gerissenen Worten konfrontiert werden und keinen Anhaltspunkt haben, was der Sprecher damit beabsichtigt oder gemeint haben könnte, welchen Sprechakt er damit aus führte oder was er damit erreichen wollte. Wahrscheinlich würden wir in so einer Situation kein einziges Wort ver stehen. Tatsächlich hatte ich neulich ein schönes Erlebnis dieser Art. Ich saß mit meinem sechsjährigen Sohn in der Berliner S-Bahn. Wir waren gerade in Deutschland angekommen, und mein Sohn konnte - und kann - kein Deutsch. Uns gegenüber saß ein Mann und las die Zeitung. Neben ihm saß sein Hund wie ein normaler Fahrgast. Allein dieser Anblick erheiterte uns. Mein Sohn beugte sich vor und fragte den Mann auf Eng lisch: »Is your dog friendly?« Der Mann sah August verständ nislos an. »Is your dog friendly?«, wiederholte August. Noch mehr Verständnislosigkeit. Dann sagte ich auf Deutsch: »Ist er freundlich?« Angesichts dieser bekannten Worte in der Mut tersprache klärte sich das Gesicht des Mannes auf, und er sagte 130
in tadellosem Englisch: »Indeed, he is most friendly!« (Er ist tatsächlich sehr freundlich!) Und fügte dann auf Englisch hin zu: »I must be going deaf!« (Ich werde wohl langsam taub!) Natürlich war das nicht der Fall: Er konnte die Worte meines Sohnes nicht verstehen, weil er in diesem Kontext und zu die ser frühen Morgenstunde nicht in der Lage war, den Lauten, die aus dem Mund meines Sohnes kamen, auch nur im Ent ferntesten einen Sinn beizumessen. Dass mein Sohn Englisch wie ein Sechsjähriger spricht, spielte dabei wohl keine beson dere Rolle. Der Mann konnte Englisch, aber erwartete diese Sprache in dieser Situation nicht, daher war er so gut wie taub. Das gleiche Problem kennen Sie vielleicht auch vom Tele fonieren. Mein Vorname ist etwas ungewöhnlich, und ich habe mittlerweile den Eindruck, am Telefon ist er überhaupt nicht verständlich zu machen. Die Menschen hören das, was sie zu hören erwarten; da sie nie erwarten, den Namen »Alva« zu hören, hören sie ihn auch nicht. In so einem Fall muss man den Namen buchstabieren. Aber hier treffen wir wieder auf das gleiche Problem: Wenn es keinen gemeinsamen Kon text gibt und wir nur einzelne Buchstaben oder Wörter ver ständlich machen wollen, müssen wir zwangsläufig einen Kontext schaffen. Also verwenden wir standardisierte lautein führende Wörter wie »Anton«, »Ludwig«, »Victor«, »Anton«; »Nordpol«, »Otto«, »Emil«. Ohne dieses Hilfsmittel sind wir auf den reinen Sprachklang angewiesen, und der lässt sich er staunlich schwer entschlüsseln! (Deshalb sagt man am Tele fon auch »zwo« statt »zwei«, weil »zwei« und »drei« zum Ver wechseln ähnlich klingen.) Der Neurowissenschaftler und Anthropologe Terrence Deacon hat zur Sprachtheorie von Linguisten in der Tradition Chomskys (also der intellektualistischen, cartesianischen Tra dition) eine wichtige Beobachtung gemacht. Chomsky zufolge stellt uns die Sprache - mehr noch als Schach - vor eine rech nerische Herausforderung. Ein Kleinkind muss innerhalb we niger Jahre herausfinden, wie man Sprache richtig anwendet, und das auf Basis einer dürftigen Faktenlage, wenn man be 131
denkt, wie viele Fehler im täglichen Sprachgebrauch gemacht werden. Und doch gelingt es Kindern irgendwie, die Regeln zu erkennen, die das sprachlich Richtige vom sprachlich Fal schen trennen. Das ist eine Leistung, die man wohl nur einem genialen Wissenschaftler Zutrauen würde, und doch erbringt sie jedes normale Kind. Deacon bietet eine andere Erklärung an. Die Sprache, so meint Deacon, ist eine grafische Benutzeroberfläche wie das Macintosh- oder das Windows-Betriebssystem. Es ist ziemlich klar, warum uns der Umgang mit grafischen Benutzerober flächen so leichtfällt: Sie wurden von uns und für uns gestal tet, und wichtiger noch, sie wurden mit Blick darauf gestal tet, was wir einfach und handhabbar finden. Und so verhält es sich auch mit der Sprache. Die Sprache mag ein äußerst kom pliziertes Zeichensystem sein, aber wir sind nicht einfach so über sie gestolpert. Und es ist auch kein Zufall, dass wir (wie durch Zauberhand!) damit umgehen können. Wir haben die Sprache gestaltet - gemeinsam und über Tausende Jahre hin weg -, und zwar genau so, dass sie unsere Zusammenarbeit und Kommunikation erleichtert.
Die vielen Gesichter der Expertise Der Intellektualismus kann nicht einmal eindeutig geistige Fähigkeiten wie den Sprachgebrauch oder das Schachspiel er klären. Denn Expertise hängt auch im intellektuellen Bereich davon ab, dass wir eben keine überlegte, distanzierte Haltung einnehmen. Durch Kontext und Erfahrung findet sich ein Ex perte einfach zurecht. Dieses »sich zurechtfinden« ist zweifels ohne eine kognitive Fähigkeit, ja sogar eine außerordentliche Leistung. Aber es ist eine Leistung, die zum vernunftbetonten Modell des Intellektualisten einfach nicht t. Ein Experte zeichnet sich nicht durch besonders schnelle, unbewusste Re gelanwendung aus: für einen Experten stellt sich die Frage nach den Regeln meist überhaupt nicht. Sonst könnten wir 132
beispielsweise ja auch Regeln aufstellen, um herauszufinden, wie sich ein anderer Mensch fühlt. Eine solche Regel könnte heißen: »Wenn eine Person schluchzt, dann ist sie traurig.« Das ist ganz offensichtlich sehr unausgegoren: Zum einen müss ten wir wahrscheinlich bereits wissen, dass ein Mensch trau rig oder verzweifelt ist, um zu merken, dass er schluchzt. Aber von diesen Bedenken einmal ganz abgesehen, können wir uns nicht einfach auf Regeln verlassen, um uns in einen anderen Menschen einzufühlen. Schon die bloße Frage »Welches Ge fühl wird durch dieses Verhalten ausgedrückt?« lässt uns eine distanzierte Haltung dem anderen gegenüber einnehmen, die sich nicht mit wirklicher Empathie und Anteilnahme ver trägt. Überlegungen sind hier fehl am Platz, Regeln sind hier fehl am Platz - und erst recht deren schnelle und unbewusste Anwendung. Menschen sind ganz außerordentlich geschickt beim Er kennen von Gesichtern. Selbst dem Einfältigsten unter uns gelingt es mühelos, Freunde, Familie und Kollegen wieder zuerkennen. Es gibt quasi kein anderes Objekt oder Format, auf das wir Menschen derart hervorragend eingestellt sind. Wir erkennen ein Auto, ein Pferd oder ein Röntgenbild, wenn wir eines sehen, aber nur die wenigsten unter uns können ein bestimmtes Pferd wiedererkennen oder die Rasse nennen, der es angehört. Zumindest für den Uneingeweihten sehen alle Pferde im Grunde genommen gleich aus. Doch auffälligerweise sind wir alle Experten, wenn es um Gesichter geht, und dafür brauchen wir anscheinend keine besondere Ausbildung oder jahrelange Erfahrung. Wir könnten diese typisch menschliche Geschicklichkeit bei der Gesichtserkennung natürlich damit erklären, dass doch jeder von uns jahrelange Erfahrung und eine besondere Aus bildung darin hat. Schließlich sind wir von Geburt an unter Menschen. Und ein Gespür für Gesichter ist ja tatsächlich Vor aussetzung für eine normale zwischenmenschliche Kommu nikation. Wie ich im letzten Abschnitt dargelegt habe, kann ich unter anderem deshalb verstehen, worüber jemand spricht. 133
weil ich sehe, wohin diese Person schaut. Durch die Beobach tung von Gesichtern lerne ich, wohin Personen blicken, wie sie sich fühlen, was sie wollen usw. Schweinezüchter können ihre Schweine sehr gut auseinanderhalten, und es ist ein Leichtes für Radiologen, die relevanten Details auf einem Röntgenbild zu erkennen. Und aus dem gleichen Grund ist es auch nicht sonderlich überraschend, dass jeder von uns ein Kenner ist, was Gesichter angeht. In der Neurowissenschaft werden unsere außerordentlichen Fähigkeiten bei der Gesichtserkennung aber ganz anders er klärt. Dass diese Empfindlichkeit unserer Wahrnehmung für Gesichter in unserer Spezies so weit verbreitet ist, hat zu der Annahme geführt, dass Menschen eine angeborene Fähigkeit zur Gesichtserkennung haben, die von der Erfahrung relativ unabhängig ist. Folgende Vorstellung liegt dem zugrunde: Visuelle Informationen der Welt erzeugen zunächst eine Re präsentation von einem Objekt oder Ereignis im Gehirn. Wäh rend der Verarbeitung in den höheren Arealen der Sehrinde werden weitere Informationen hinzugefügt. An einem be stimmten Punkt (dem sogenannten V4-Areal des Gehirns) wer den den visuellen Repräsentationen Farben, in einem ande ren Areal (V5) Bewegungen zugeordnet. Die Objekte werden nicht visuell eingeordnet, bis sie ein noch höheres Areal des extrastriären Kortex erreichen (LO). Ein Objekt wird nur als Gesicht identifiziert, wenn die Repräsentation dieses Objektes einen bestimmten Gesichtserkennungsmechanismus in Gang setzt. Dieses Gesichtserkennungsmodul steht dann wiederum vor einer Rechenaufgabe, nämlich zu entscheiden, ob es sich bei der Repräsentation um ein Gesicht handelt oder nicht. Der Markt für Gesichtserkennungssoftware floriert mittler weile; sie wird beispielsweise auf Flughäfen zur Sicherheits kontrolle eingesetzt. Wenn solche Geräte heutzutage tech nisch realisierbar sind, dann müssten wir doch eigentlich auch erklären können, wie das Gesichtsmodul im Gehirn diese Rechenaufgabe löst. Dieses Gesichtsmodul ist das neuronale Korrelat des Gesichtsbewusstseins. 134
Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Wahrnehmung von Gesichtern im Gehirn tatsächlich so funktioniert? Wie wir be reits festgestellt haben, sind Gesichter zweifelsohne etwas Be sonderes: Sie sind allgegenwärtig und wichtig für uns. Auch in anderer Hinsicht sind Gesichter einzigartige Objekte der Wahrnehmung. Zum einen zeigen wir schon von frühester Kindheit an ein Interesse daran. So ist es beispielsweise nach gewiesen, dass sich Kinder bereits in den ersten Stunden nach der Geburt zu Gesichtern hingezogen fühlen; sie finden Ge sichter spannend, obwohl ihr Sehvermögen zu diesem Zeit punkt erst rudimentär ausgebildet ist und sie höchstens grobe Umrisse ausmachen können. Auch ein anderer Aspekt der Erkennung von Gesichtern ist bemerkenswert; Wir nehmen Gesichter ganzheitlich war. Wir sehen nicht zuerst einzelne Merkmale, sondern erfassen das Gesicht als Ganzes. Daran liegt es nachgewiesenermaßen auch, dass Schnelligkeit und Sicherheit bei der Gesichtserkennung rapide nachlassen, wenn wir Gesichter verkehrt herum sehen. Dieser »Inversionseffekt« wäre nicht erklärbar, wenn wir Gesichter zuerst anhand ein zelner Merkmale identifizieren würden. Wissenschaftler haben im Gyrus fusiformis tatsächlich eine neuronale Struktur oder vielmehr einen Ort gefunden, der nicht nur stark aktiviert wird, wenn die Versuchsperson ein Gesicht sieht, sondern auch, wenn sie darüber nachdenkt oder sich eines vorstellt. Dieses Areal nennt man heute fusi formes Gesichtsareal oder FFA. Das FFA scheint der Ort im Ge hirn zu sein, an dem Gesichter im Bewusstsein repräsentiert sind. Ein Beleg dafür ist auch, dass eine Schädigung des FFA allem Anschein nach die Erkennung von Gesichtern beein trächtigt. Personen, die an dieser seltenen, Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie genannten Störung leiden, können Ge sichter zwar noch erkennen, aber nicht mehr zuordnen. Nancy Kanwisher sieht in dieser Entdeckung eines Systems zur Erkennung von Gesichtern einen Beleg dafür, dass das menschliche Gehirn wie ein Schweizer Taschenmesser »aus zweckbestimmten Komponenten besteht, von denen jede zur 135
Erfüllung einer einzigen Aufgabe konzipiert ist«. Das Modul zur Gesichtserkennung, so glaubt Kanwisher, ist ein bereichs spezifisches System, das »die Inhalte der bewussten Wahrneh mung repräsentiert«. Nun, diese Hypothese des angeborenen Moduls zur Er kennung von Gesichtern - nennen wir sie einmal das Schweizer-Taschenmesser-Modell - hat in der kognitiven Neurowissenschaft sehr an Einfluss gewonnen. Sie gilt als eine Art Paradigma dafür, was man mit der neuen neurowissenschaft lichen Erforschung von Wahrnehmung und Bewusstsein er reichen kann. Klingt das überzeugend? Ich glaube nicht.
»Das vertraute Gesicht eines Wortes« Ein guter Einstieg in dieses Thema ist vielleicht ein Vergleich mit einem anderen Gebiet der Wahrnehmungsexpertise, näm lich dem Lesen. Kinder lernen das Lesen durch einen müh samen und anspruchsvollen Prozess. Zunächst machen sich die Kinder mit den Buchstaben vertraut und lernen die Bezie hung zwischen Buchstaben und Lauten. Sie entziffern Wörter, indem sie jeden Buchstaben einzeln lesen und das Wort so zusammenfügen. Sobald ein Mensch wirklich flüssig lesen kann - also ungefähr im Alter von 13 Jahren -, ändert sich das. Ein erfahrener Leser hat eine qualitativ andere Beziehung zu den Wörtern als ein Anfänger. Vor allem gibt es überzeugende Beweise dafür, dass erfahrene Leser Wörter als Ganzes er fassen: Die Zeit, die wir zum Lesen eines Wortes benötigen, hängt nicht von der Anzahl der darin vorkommenden Buch staben ab, und ein Leser kann die einzelnen Buchstaben eines Wortes besser identifizieren, wenn es sich um ein tatsächlich existierendes Wort und nicht um eine reine Buchstaben ansammlung handelt. Wie wir alle aus Erfahrung wissen, ist es schwierig, einen kopfüber stehenden Text zu lesen, zumindest wenn man darin keine Übung hat. Wissenschaftler haben ein Areal im linken Gyrus fusiformis gefunden (das FFA liegt nor 136
malerweise im rechten Gyrus fusiformis), das auf die visuelle Präsenz von Wörtern reagiert. Dieses Areal wird nicht nur bei Wörtern, sondern auch bei wortähnlichen Aneinanderreihun gen von Buchstaben (also bei Pseudowörtern) aktiviert. Und schließlich gibt es Belege dafür, dass eine Schädigung dieses sogenannten visuellen Wortformareals (VWFA) zu ganz be stimmten Störungen der Wortwahrnehmung führt. Mit diesem Beispiel möchte ich verdeutlichen, dass die Vermutung, dass wir einen angeborenen Mechanismus zur Gesichtserkennung haben, ungefähr ebenso gerechtfertigt ist wie die Vermutung, dass wir einen angeborenen Mechanis mus zur Erkennung von Wörtern haben. Wie wir jedoch wis sen, haben wir keinen angeborenen Mechanismus zur Erken nung von Wörtern: Schließlich ist das Lesen eine kulturelle Praxis, die erst relativ spät in der Evolutionsgeschichte der Menschheit erfunden wurde. Die von Kanwisher vertretene Sicht auf das FFA wird dadurch schon ein wenig zweifelhaft. Es stimmt, dass alle normalen Menschen eine hoch ent wickelte Fähigkeit zur Gesichtserkennung an den Tag legen, während nur erfahrene Leser Wörter wiedererkennen. Das scheint für einen Wahrnehmungsmechanismus bei der Er kennung von Gesichtern zu sprechen. Aber noch besser lässt sich dieser Unterschied dadurch erklären, dass alle Menschen von Kindheit an mit Gesichtern, nur manche jedoch mit Wör tern konfrontiert werden. Erstaunlicherweise können Wörter unsere Aufmerksamkeit ebenso sehr auf sich ziehen wie Ge sichter. Stellen wir uns vor, wir betreten einen Raum und fin den dort ein anstößiges, rassistisches Graffiti an der Wand. Wir sehen es, die Röte steigt uns ins Gesicht, das Herz beginnt zu klopfen, und wir verspüren starke Gefühle. Die Worte auf der Wand sowie ihr Sinn und ihre Bedeutung fällen uns ein fach ins Auge und sind wie ein Schlag ins Gesicht. Auch die Behauptung, dass unser Gespür für Gesichter nichts mit Erfahrung zu tun hat, kann man nicht wirklich ernst nehmen. Hier reicht ein einfaches Beispiel: Als ich auf einer Reise mit einem Freund die Grenze zwischen Niger und 137
Nigeria überquerte, fragten uns die Grenzposten, ob wir Ge schwister seien, so stark, beharrten sie, ähnelten wir einander. Aber tatsächlich bestand für jemanden aus unserem Kultur kreis nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit zwischen uns. Psychologen haben nachgewiesen, dass die Fähigkeit zur Un terscheidung von Gesichtern stark nachlässt, wenn es sich um Gesichter von Menschen einer anderen Hautfarbe handelt. Wir können Gesichter von Menschen, die uns vertrauter sind, besser auseinanderhalten. Diese Beobachtung zeigt, dass un sere Fähigkeit der Gesichtserkennung zumindest teilweise erlernt ist. Zweifelsohne sind Gesichter etwas Besonderes. Daher ist es nicht überraschend, dass wir sie so zuverlässig erkennen kön nen. Aber nichts davon untermauert die Annahme, dass es in unserem Inneren eine besondere angeborene Struktur für die Gesichtserkennung gibt. Es gibt jedoch mehr als genug Beweise dafür, dass unsere Fähigkeit zur Gesichtserkennung - ebenso wie die Fähigkeit zur Worterkennung - eine besondere Aus prägung unserer allgemeinen Fähigkeit ist, Wahrnehmungs expertise zu entwickeln. So stellt sich beispielsweise heraus, dass das FFA auch von Objekten aktiviert wird, die keine Ge sichter sind, wenn diese Objekte einer Kategorie angehören, mit der sich der Wahrnehmende sehr gut auskennt. Vögel aktivieren das FFA von Vogelbeobachtern, Autos aktivieren das FFA von Autonarren usw. Das FFA wird bei der Wahrneh mung von Gesichtern also wohl deshalb aktiviert, weil eben jeder von uns ein Gesichtsexperte ist; aber nur manche von uns sind Vogelbeobachter oder Autonarren, und daher zeigen bei diesen anderen Objekten auch nur manche von uns eine Aktivierung im FFA. Das scheint rein intuitiv recht plausibel zu sein. Wenn wir uns in einem Sachbereich gut auskennen, dann können wir die einzelnen Objekte dieses Bereiches identifizieren; Laien hingegen können keine feinen Unterscheidungen treffen. Ein Primatenforscher weiß bei einem Tier, das der Laie einfach für irgendeinen Affen hält, ob er einen Seidenaffen oder einen 138
Rothandtamarin vor sich hat - und genauso sind wir eben alle in der Lage, einzelne Gesichter auseinanderzuhalten. Wis sen und Erfahrung ermöglichen es uns, die - wenn man so sagen will - Gesichter von Pferden, Autos und Affen zu unterschei den, und auf die gleiche Art ermöglichen es uns Wissen und Erfahrung auch, die Gesichter von Menschen auseinander zuhalten. Die aus der Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie gewon nenen Erkenntnisse sind außerdem alles andere als schlüssig. Zunächst einmal sind diese Defizite nur selten auf den Be reich der Gesichtserkennung beschränkt; normalerweise ist bei den betroffenen Personen die gesamte Wahrnehmung be einträchtigt. Aber wichtiger noch ist, dass bei Menschen, die über Expertenwissen zu anderen Objekten verfügen, eine Schädigung des FFA oft auch zu einer Beeinträchtigung der Wahrnehmung dieses Objekttyps führt. ln meiner Erörterung der Gesichtserkennung will ich die Bedeutung der neuronalen Prozesse, die zur Wahrnehmungs expertise nötig sind, gar nicht schmälern. Es wäre ja unfass bar, wenn unsere Vertrautheit mit Objekten und unsere hoch entwickelte Unterscheidungsexpertise - ob nun im Bezug auf Gesichter, Wörter, Autos, Vögel, Gemälde usw. - nicht mit Ver änderungen im Nervensystem einherginge. Was wir aber auf geben sollten, ist die Vorstellung, dass man ein bestimmtes Stück Hirngewebe (wie das FFA) als Quelle unserer bewussten Wahrnehmung von Gesichtern verstehen kann, denn inzwi schen wissen wir es besser. Um das FFA und dessen Verhalten zu verstehen, dürfen wir nicht außer Acht lassen, welche Rolle Gesichter und andere Wahrnehmungsobjekte in unserem Le ben spielen. Wir können die Wahrnehmungsexpertise des Menschen nicht mithilfe des FFA erklären; trotzdem ist das FFA ein Baustein für ein umfassendes Verständnis des Wahr nehmungslernens.
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Schlechte Gewohnheiten Rauchen, Fernsehen, beim Essen schmatzen, anderen Men schen ins Wort fallen, das alles bezeichnet man als Gewohn heiten - als schlechte Gewohnheiten. Teilweise hält man sie deshalb für etwas Schlechtes, weil sie Gewohnheiten sind. Da hinter steht wohl folgender Gedanke: Wenn wir uns mit über legten Handlungen von unserer besten Seite zeigen, dann zei gen wir uns mit Gewohnheiten von unserer schlechtesten. Gewohnheitsmäßige Handlungen sind gedankenlos und un kontrolliert, in gewissem Sinne also unvernünftig und unwill kürlich. Das ist eine weitere Erklärung dafür, warum Gewohn heiten missbilligt werden: Wenn wir aus einer Gewohnheit heraus handeln, verraten unsere Handlungen etwas über uns, das heißt, wir geben etwas preis. Wer etwas preisgibt, ist be rechenbar. Und wer berechenbar ist, der ist (wie mein Vater gern sagt) durchschaut. Viele Gewohnheiten gehören sich also nicht. Sie sind dazu da, sie sich abzugewöhnen. Und ich nehme an, es hat etwas Gutes und Gesundes, Dinge loszuwerden, indem man die Macht der Gewohnheit bricht. Aber ich lehne die Vorstellung rigoros ab, dass man alle Gewohnheiten ablegen sollte (als ob das überhaupt möglich wäre!). Und das nicht nur, weil es ja auch gute Gewohnheiten gibt, sondern eher deshalb, weil ein Leben ohne Gewohnheiten der Existenz eines Roboters gleich käme. Lassen Sie mich das etwas näher erklären. Erstens braucht man Denk- und Verhaltensgewohnheiten, um abwägen und entscheiden zu können, denn all unser Können beruht auf Gewohnheiten. Bei Sport und Musik wird das am allerdeut lichsten, denn Übung und Wiederholung bilden das feste Fun dament, auf dem das Spiel aufbaut. Aber auch für geistige Tätigkeiten wie Mathematik hat diese Behauptung ihre Be rechtigung. Wir prägen uns die Grundlagen des Rechnens ein (das heißt das Zählen, das Einmaleins, die Rechenarten), und mit diesen Fähigkeiten schwingen wir uns zu mathematischen 140
Höhen auf, die wir sonst nicht erreichen könnten. Also stimmt es, dass Wissenschaft und Lernen ein Fundament brauchen. Das beste Fundament sind aber nicht wahre Überzeugungen oder notwendige Wahrheiten, sondern grundlegende, erwor bene, praktische Fertigkeiten. Während ein Mensch automatisch dahin blickt, wohin wir zeigen, wenn wir etwas erklären, schaut ein Hund oder eine Katze wahrscheinlich eher auf unsere Hand. Für Wittgenstein war unser natürliches Vermögen, uns gemeinsam einem Ge genstand von Interesse zuzuwenden, eine nicht erlernte, primi tive Fähigkeit, ohne die die Kommunikation wahrscheinlich nicht möglich wäre. Die Intellektualisten halten unseren Hang zu Verstand und vernünftigem Diskurs für die kognitive Leistung, die uns Menschen ausmacht. Ich hingegen würde behaupten, dass diese kognitive Virtuosität eine späte Beigabe ist, eine Frucht vom Baum praktischer Fertigkeiten. Und unsere praktischen Fertigkeiten hängen, zumindest was die Grund lagen angeht, nicht von unseren intellektuellen Fähigkeiten ab, was andersherum aber sehr wohl der Fall ist. Zweitens sind Denk- und Verhaltensgewohnheiten selbst häufig ein Ausdruck von Intelligenz und Verstand, sogar dann, wenn sie spontane, automatische Reaktionen auf etwas sind. Eigentlich sind sie ein Ausdruck von Intelligenz und Verstand, eben weil sie gewohnheitsmäßig sind. Gewohnheiten beinhal ten die Grundkenntnisse, mit deren Hilfe wir überhaupt erst zu erfahrenen Gehern, Rednern, Lesern, Köchen, Eltern und Autofahrern werden können; und insofern sind diese grund legenden Bewegungs- und Handhabungsgewohnheiten selbst beträchtliche kognitive Leistungen. Das trifft sogar auf eine so unschöne Gewohnheit wie das Räuspern vor dem Sprechen zu. Wie unhöflich es auch sein mag, geben wir damit zu ver stehen, dass wir den grundlegenden Rhythmus und die Ab folge des Gesprächs im Griff haben. Diese Gewohnheit signa lisiert also für jeden, dass wir uns unserer Gesprächsposition unmittelbar bewusst sind. Drittens wäre ein Leben ohne Gewohnheiten ein Roboter 141
leben. Jeder Tag wäre wie der erste Tag in einem fremden Land. Keine vertrauten Wege oder erprobten Strategien, mit denen man etwas erledigt, keine Routinen stünden als Anker zur Verfügung. Nichts wäre selbstverständlich. Wir würden die Lage sondieren, interpretieren und beurteilen, Entscheidungen treffen, diese umsetzen und neu beurteilen. In Wirklichkeit hat unser Leben mit einer solchen roboterhaft entfremdeten Daseinsform nichts gemein. Denn wir sind immer inmitten des Geschehens. Ebenso wie sich die infrage kommenden Schachzüge aus der Spielsituation heraus ergeben, so redu ziert - allgemeiner gesagt - unsere Einbettung in einen ver trauten Kontext die uns zur Verfügung stehende Anzahl der Wahlmöglichkeiten und den Freiheitsgrad auf ein überschau bares Maß. Wir müssen nicht erst die Festigkeit des Bodens überprüfen, wenn wir morgens aufstehen, und wir wissen, wo sich der Lichtschalter im Bad befindet. Von einem Tag auf den anderen können radikale Veränderungen eintreten: Die Zwil lingstürme des World Trade Center werden angegriffen, es gibt ein Erdbeben, oder ein Angehöriger bekommt einen Herz infarkt. Bemerkenswert an solchen Ereignissen ist, dass sie scheinbar zumindest kurzzeitig die Macht haben, uns zu zer stören oder zu überwältigen. Dass ihnen das nicht gelingt, ist ein Zeugnis für das sichere Netzwerk der Lebensstrukturen, die uns auch angesichts des Undenkbaren aufrecht halten.
Gute Gewohnheiten Wie ich erörtert habe, sollten wir den intellektualistischen Ansatz hinter uns lassen, weil er nicht einmal den Intellekt erklärt. Schach zu spielen heißt, in der Welt des Schachs zu Hause zu sein; eine Sprache zu sprechen heißt, an den Lebens formen beteiligt zu sein, die mit dem Gebrauch der Sprache untrennbar verbunden sind. Ein Grundniveau erworbener Ex pertise ermöglicht es uns überhaupt erst, innezuhalten und Überlegungen anzustellen. Diese Ansicht lässt sich durch ein 142
fache Beispiele der Wahrnehmung anschaulich illustrieren. Stellen wir uns zum Beispiel Folgendes vor: Ich gehe in eine Galerie und setze mich vor eine rätselhafte Skulptur. Was ist das? Ach natürlich, eine menschliche Form. Jetzt sehe ich es auch! Doch halt: Der Körper ist ja ganz gebückt. Diese Skulp tur soll ganz eindeutig als Stuhl dienen. Vergleichen wir nun einmal meine nachdenkliche, fragende, interpretierende Ein stellung zu der Skulptur mit meiner Einstellung zu der Bank, auf die ich mich gesetzt habe, um das Kunstwerk in Ruhe be trachten zu können. Ich habe die Bank wahrgenommen, mich daraufgesetzt und damit wohl einem grundlegenden Ver ständnis, einer Vertrautheit sowie einer Wahrnehmungs- und Begriffskompetenz Ausdruck gegeben. Aber um das Wesen der Bank zu erfassen - nämlich dass es sich um einen Gegenstand handelt, auf den ich mich setzen kann, während ich über das Kunstwerk nachdenke -, bedurfte es keinerlei Überlegung. Hätte ich innegehalten und mich gefragt, ob es sich tatsäch lich um eine Bank handelt oder ob dieses Gebilde zum Sitzen gedacht ist, hätte das gezeigt, dass etwas an meiner Bezie hung zu meinem Umfeld falsch oder zumindest problematisch ist. (Ich vernachlässige hier einmal, dass eine Kunstgalerie durchaus ein Ort sein kann, an dem unsere Beziehung zu ge wöhnlichen Gegenständen bewusst infrage gestellt wird, es sich bei der »Bank« also tatsächlich um ein weiteres Kunst werk handeln könnte.) In normalen, alltäglichen Situationen gibt sich uns die vertraute Welt genau als das zu erkennen, was sie ist. Die Bank zeigt sich uns als eine Einladung zum Hinsetzen und nicht als etwas, das wir anschauen, einordnen, einschätzen und erst dann benutzen können. Heidegger hat ein besonderes Wort für die Art, in der Dinge sich uns zeigen: Meistens erscheinen sie uns nicht als Gegenstände, sondern als »Zeug«. Durch Fertigkeiten können wir unsere Umwelt verstehen. Diese Fertigkeiten - unsere Expertise also - ermöglichen es, dass ein Großteil unserer Handlungen und Äußerungen ungeplant, unmittelbar und unüberlegt ist, aber trotzdem Ver 143
ständnis, Sensibilität, Angemessenheit und Offenheit gegen über unserer Umwelt ausdrückt. Wir begrüßen Menschen im Vorübergehen mit einem Kopfnicken, wir fassen wütende Ges ten als solche auf, wir setzen uns, heben Gläser zum Trinken, schalten das Licht an und gehen Treppen hoch; und all das machen wir ganz selbstverständlich. Wenn wir in ein fremdes Land reisen - selbst in eines, das unserem Heimatland relativ ähnlich ist (wie beispielsweise die Vereinigten Staaten oder das europäische Ausland) -, fühlen wir uns leicht durcheinan der, aus dem Gleichgewicht und entfremdet, als ob alles um eine unbestimmte Achse gedreht worden wäre. Nun funktio nieren Lichtschalter und Toilettenspülungen vielleicht ein wenig anders, die Knöpfe des Fahrstuhles befinden sich nicht da, wo wir sie vermuten, und es ist schwierig, eine Nummer im Telefonbuch ausfindig zu machen. Dieser Bruch mit dem Gewohnten, den wir auf Reisen verspüren, ist ein Zeichen da für, wie gedankenlos wir uns normalerweise auf den Hinter grund der Kenntnisse verlassen, durch die wir in der Welt be stehen.
Pfade Die natürliche Welt wird von den in ihr stattfindenden Lebens prozessen geformt. Indem die Lebewesen ihre Umgebung ver ändern, verändern sie die Landschaft ihrer möglichen Hand lungen; das ist ebenso unvermeidlich wie die Tatsache, dass sie Abfall erzeugen. Dieses Phänomen des Wechselspiels von Organismus und Umwelt kann man auf vielen verschiedenen Ebenen beobachten. Pflanzen und Insekten sind bunt, weil es Tiere gibt, die auf Farben reagieren; bei Tieren hat sich ein Farbempfinden entwickelt, damit sie besser erkennen können, was in ihrer Umgebung iert. Die sauerstoffhaltige Atmo sphäre der Erde ist nicht nur eine Vorbedingung für das Leben: Die Luft, die Mensch und Tier zum Atmen brauchen, haben wiederum lebendige Pflanzen durch Fotosynthese hergestellt. 144
Der Fluss durchschneidet einen Felsen und erschafft so eine konturenreiche Landschaft. Selbst ein geologischer Prozess wie dieser wird von Flora und Fauna beeinflusst. Natürlich könnte von außerhalb des Systems ein Unheil hereinbrechen. So kann ein Meteorit die Erde treffen und auf einen Schlag die Lebensbedingungen auf den Kopf stellen. Doch normalerweise sind die Textur und Beschaffenheit der Umwelt sowohl eine Voraussetzung für das Leben als auch ein Produkt des Lebens, wie wir es kennen. Wege und Pfade sind ein gutes Beispiel für diese gegen seitige Abhängigkeit von Organismus und Umwelt. Ein Pfad entsteht durch den Akt des Laufens: Unsere Bewegungen ebnen die Erde und fegen Steine und Pflanzen beiseite. Ist der Pfad erst einmal entstanden, fallt es uns schwer, ihn nicht zu benutzen. Wir bewegen uns auf Spuren, die durch unsere eigenen wiederholten Handlungen für uns geformt worden sind; unsere Pfade sind ausgetreten, weil wir sie jeden Tag benutzen. Das liegt auch daran, dass ausgetretene Pfade die Wege des geringsten Widerstands sind, und daran, dass es mühsam oder sogar riskant ist, sich auf ungewohnten Pfaden zu bewegen. So wie ein kleines Rinnsal nach und nach eine Furche einschneidet, die dann noch größere Mengen Wasser anzieht, ändert sich durch unsere Fortbewegung der Boden selbst und bedingt unsere nachfolgenden Handlungen. Die meisten Menschen leben in Städten. Aber was ist eine Stadt anderes als eine stark befestigte Struktur aus ausgetrete nen Pfaden und Wegen des geringsten Widerstands? Eine bekannte Metapher bezeichnet Architektur als »gefrorene Mu sik«. Richtiger wäre, dass Architektur und die daraus entstan denen Städte gefrorene Gewohnheiten sind. Unsere potenziel len Bewegungen sind nun ein für alle Mal in Beton gegossen. Natürlich sind Städte nicht wirklich gefroren. Städte und Ge bäude gehören zu unserer natürlichen Umgebung; eine wirk lich statische Stadt wäre aus menschlicher Sicht eine tote oder verlassene Stadt. Außerdem sollten wir lieber von der ro mantischen Vorstellung absehen, dass es Freiheit nur außer 145
halb der Städte gibt. Ein Wanderer tut gut daran, sich nicht abseits der markierten Pfade zu bewegen, es sei denn, er kann sich allein durchschlagen. Probieren Sie einmal Folgendes: Zeichnen Sie Ihre Bewe gungsabläufe während des nächsten Monats auf einer Karte ein. Wenn Sie wie die meisten Menschen sind, werden Sie am Ende des Monats feststellen, dass bestimmte Wege durch die wiederholte Übermalung tiefschwarz sind; hier und da wird eine vereinzelte, dünne Linie von dem dicken Strang der täg lichen Routine abweichen. Große Teile Ihrer Heimatstadt be treten Sie gar nicht. Unser Festhalten an vertrauten Routen ist so vorhersehbar, dass es fast scheint, als ob wir - wie Wasser, das durch ein Flussbett strömt - überhaupt keine Wahl hätten. Was bestimmt unsere Bahnen? Sind wir so phantasielos, dass wir nicht einmal darüber nachdenken, unsere Route zu än dern? Durch das Flussbett der Gewohnheiten wird die Fortbewe gung entlang bestimmter Strecken sicher und zuverlässig, effizient und einfach. Haben Sie auch schon einmal in einer fremden Stadt Urlaub gemacht und dann bereits am zweiten Tag festgestellt, dass Sie sich eigentlich nur auf bewährten und erprobten Strecken bewegen? Sie nutzen denselben Bahn hof, wechseln das Geld in derselben Bank, frühstücken im sel ben Café. Etwas Neues auszuprobieren, ist immer ein Risiko; indem wir uns auf Bewährtes verlassen, sparen wir unsere Energie für die Ausflüge, die uns am wichtigsten sind (wie bei spielsweise einen Besuch im Museum oder Theater).
Die Grenzen der vertrauten Welt Mit den Städten und dem Verkehr verhält es sich wie mit dem Denken, dem Lesen, den Gesprächen, der Freundschaft und der Politik. Wir wandeln auf vertrauten Denk- und Verständ nispfaden - nicht weil wir faul sind, sondern weil wir es müs sen. Es ist fast unmöglich, sich durch Dickicht und Gestrüpp 146
einen Weg zu bahnen; wenn wir an einen bestimmten Ort wollen und ein bestimmtes Ziel verfolgen, müssen wir auf dem Weg bleiben. Und das Gleiche gilt für unser Geistesleben. Die Wege, die wir uns ebnen, sind mit den Kenntnissen gepflastert, die wir für unser Vorankommen brauchen. Schachspieler prä gen sich Eröffnungen und Endspiele ein, damit sie die impro visierten Teile in der Mitte des Spiels in eine Struktur ein betten können. Wissenschaftler beschäftigen sich mit dem, was schon gesagt und geschrieben wurde, denn nur so wissen sie, ob ihre Gedanken überhaupt neu sind. Auch Künstler, Schriftsteller und Filmemacher sind durch bereits Geschaffe nes eingeschränkt, denn das legt fest, wo man in einem Genre oder mit einem Medium noch etwas erreichen kann. Es ist nahezu unmöglich, etwas komplett Neues zu erfinden, und wenn wir zufällig auf so etwas stoßen würden, könnten wir darin nur mit einiger Anstrengung und Mühe etwas von Wert erkennen. Die Herausforderung für einen Künstler besteht darin, etwas Neues zu erschaffen, das verständlich ist; damit es verständlich ist, muss es aber zumindest teilweise schon alt bekannt sein. Dieses Dilemma begegnet uns eigentlich in je dem Bereich unseres Lebens. Jazz als eine auf Improvisation beruhende Musikform lie fert dafür ein besonders anschauliches Beispiel. Alle Auffüh rungen unterscheiden sich voneinander; doch das Neue und die Variation, also die Improvisation, finden nach mehr oder weniger explizit festgelegten Regeln statt. Das Außerordent liche an einem guten Solo ist, dass es innerhalb eines höchst vorhersehbaren und stilisierten Schemas Akzente setzt und etwas Überraschendes bietet. Das gilt wohl auch für Musik formen, bei denen weniger improvisiert wird. Damit will ich nicht sagen, dass Neuerungen unmöglich sind (obwohl es praktisch unmöglich ist, etwas vollständig Neues zu erschaffen). Sondern ich will mit diesem Beispiel verdeutlichen, wie Fortschritt überhaupt zustande kommen kann. Um in »Galaxien vorzudringen, die nie ein Mensch zu vor gesehen hat«, müssen wir uns erst einmal an die Grenzen 147
der vertrauten Welt begeben. Wir müssen die Fertigkeiten und Gewohnheiten beherrschen, die Grundlage allen Lebens sind.
Die Ökologie der Gewohnheit Gewohnheiten sind elementare, grundlegende Aspekte unse res Geisteslebens. Ohne Gewohnheiten gibt es kein Rechnen, keine Sprache, kein Denken, kein Wiedererkennen, kein Spie len. Nur ein Wesen mit Gewohnheiten wie unseren kann einen Geist wie den unseren haben. Doch sind Gewohnheiten - oder zumindest viele davon - situations- oder umweltbedingt. Eine Gewohnheit ist wie ein Pfad, der durch unsere wiederholten Handlungen entstanden ist. Eine Gewohnheit ist nicht nur eine reine Handlungsdisposition oder eine automatische, un willkürliche Tendenz; sie ist eine Reaktion auf unser Umfeld. Wenn der Pfad oder vertraute Orientierungshilfen verschwin den, werden damit oft auch unsere Gewohnheiten ausgelöscht. Im letzten Kapitel haben wir untersucht, wie sich durch den geschickten Einsatz von Werkzeugen und Hilfsmitteln sowie Techniken (einschließlich der Sprache) nicht nur unser Hand lungsspielraum, sondern auch unsere Selbstwahrnehmung verändern kann. Im Umkehrschluss zerstören wir durch die Entfernung dieser äußeren Werkzeuge und Strukturen die Ex pertise, von der unsere Handlungsweise abhängt. Das sieht man besonders gut am Beispiel der Sprache. Wir können davon ausgehen, dass wir bestimmte geistige Leistun gen ohne die Sprache nicht vollbringen könnten, dass also Sprachkenntnisse das Substrat einer Vielzahl kognitiver Fä higkeiten (wie etwa der, Zahlen und andere abstrakte Größen, entfernte Orte und Zeiten erfassen zu können) sind. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir mit der Auslöschung der Sprache unsere geistigen Fähigkeiten verlieren würden, und zwar deshalb, weil man Sprache nicht auslöschen kann. Wenn wir erst einmal eine Sprache beherrschen, dann gehört sie uns; 148
sie ist ein Teil von uns. Selbst wenn alle anderen Menschen auf der Welt, alle Bücher, Zeitungen und das Internet über Nacht verschwinden würden, würden wir unsere Sprachkenntnisse nicht verlieren. Ich habe mir eine Sprache angeeignet, und insofern hat das, was mit anderen geschieht, keine direkten, drastischen Auswirkungen auf meine Kenntnisse. Damit ist jedoch nicht bewiesen, dass die Sprache eigentlich etwas Innerliches ist. Wenn wir in ein abgeschiedenes Leben hineingeboren worden wären und keinen Kontakt zu anderen hätten, würden wir niemals eine normale kognitive Kompetenz und mit Sicher heit auch keine Sprache entwickeln. Doch wir müssen be denken, dass es eine empirische Frage ist, in welchem Maße unser Sprachvermögen auch ohne soziale, äußere Sprachressourcen überleben könnte. Zweifelsohne würden unsere elementarsten Sprachkenntnisse bestehen bleiben. Aber es könnte durchaus zu einer prägnanten Verschlechterung kom men, die sich weniger auf unsere Anwendung der Sprache auswirkt, sondern vielmehr auf das, was wir mit ihr erreichen könnten. Um noch einmal auf Putnams Beispiel aus dem vier ten Kapitel zurückzukommen: Ich kann eine Buche nicht von einer Ulme unterscheiden; in einer Welt, in der alle Infor mationsquellen darüber, was eine Buche von einer Ulme un terscheidet, vernichtet worden wären, würden all meine Ver suche, über Ulmen und Buchen nachzudenken, nach und nach bedeutungslos; das heißt, dieser spezielle Teil der Spra che würde für mich absterben. Natürlich könnte ich mich noch daran erinnern, was ich oder ein anderer einmal über Ulmen gesagt hatte. Aber wie eine Münze einer ungültig gewordenen Währung hätte das Wort keine Bedeutung mehr, es wäre ein Fossil aus einem früheren Leben. So viel von unserem Sprach gebrauch wird nur durch unseren Zugang zu anderen Men schen, Büchern, Bibliotheken, zum Fernsehen und zu Filmen aufrechterhalten; durch sie können wir uns mit Worten auf etwas beziehen, das über unsere Erfahrungen hinausgeht. Ohne diese Strukturen, mit denen die Sprache sich normaler 149
weise auf so vielfältige Art und Weise in die Welt einhakt, würde die Sprache wohl verkümmern. Ein einzelnes Indivi duum in einer Welt ohne Schriftstücke oder Aufzeichnungen anderer könnte eine Sprache nur in einer rudimentären Form aufrechterhalten. Und mit der Verkümmerung der Sprache würde auch eine Verschlechterung des Denkvermögens ein hergehen. Ein weiteres gutes Beispiel ist der Sport. Meine Fähigkeit, Baseball zu spielen, würde ohne andere Menschen und die üb liche Ausrüstung nicht verloren gehen. Aber da Baseball eine Beschäftigung ist, die von der Beteiligung anderer und vom eigentlichen Spiel lebt, liegt es auf der Hand, dass unter die sen Umständen auch meine kognitive Beziehung zum Base ball leiden würde. Wir können Sprache durchaus als ein Werkzeug verstehen, wenn auch als ein sehr subtiles. Die Abhängigkeit unserer Fer tigkeiten vom Gebrauch viel direkterer Werkzeuge wie Häm mer und Autos ist dementsprechend viel größer. Der Verlust eines Werkzeugs oder Hilfsmittels kommt einer Amputation gleich und geht zumeist mit dem Verlust der Gewohnheit und der Fertigkeit einher. Die Verwirklichung und Erhaltung un serer von Gewohnheiten bestimmten Lebensweise hängt von der Verfügbarkeit der richtigen Umgebung ab.
FAZIT: Wir sind Gewohnheitstiere, und Gewohnheiten beziehen die Welt mit ein Wenn wir geübt und erfahren sind, handeln wir nicht über legt. Unsere Fertigkeiten ermöglichen es uns, auf die Welt angemessen und automatisch zu reagieren. Wenn wir nachdenken würden, würden wir unseren Handlungsfluss unter brechen und damit unsere Expertise untergraben. Wir würden uns verhaspeln. Wenn man anerkennt, wie wichtig Gewohn heiten und praktische Kenntnisse für unser Geistesleben sind, dann zeigt sich, dass die intellektualistische Weitsicht unsere 150
Fähigkeiten - sogar die geistigen - falsch versteht. Gewohnhei ten und Fertigkeiten beziehen die Welt mit ein. So, wie mein gewohnter Arbeitsweg teilweise von der Landschaft beeinflusst wird, in der ich mich befinde, so werden unsere Gewohnhei ten ganz allgemein durch die Beschaffenheit der Welt ermög licht (auch wenn wir natürlich wiederum die Welt durch un sere Handlungen formen). Die Vorstellung, dass das Gehirn allein die Beschaffenheit unseres bewussten Lebens erklären kann, erscheint somit immer dürftiger und abwegiger. Durch die neuronale Aktivität können wir die Arten der Expertise entwickeln, mit denen wir in der Welt zurechtkommen - aber das Gehirn ist immer nur ein Teil der Erklärung, wie das alles funktioniert. Die Tatsache des Bewusstseins bei Mensch und Tier - also dass wir denken und eine Welt sich uns zeigt - lässt sich nur durch die Annahme erklären, dass wir Fertigkeiten besitzen, die uns den Zugang zur Welt ermöglichen. Im Gegensatz zu dem, was die Kognitionswissenschaft seit Jahren propagiert, müssen wir nicht alles von den Anfangsgründen her auf schlüsseln. Unser Leben hängt von sogenannten kognitiven Pfaden und anderen kognitiven Gewohnheiten ab (dieser Be griff stammt von Adrian Cussins, einem britischen Philoso phen, der derzeit an der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá tätig ist). Für ihre Aktivierung müssen wir uns in einer Umwelt befinden, die für uns günstig ist. Warum halten immer noch so viele Denker daran fest, dass sich das Bewusstsein - also das Denken, die Wahrnehmung, die Tatsache, dass sich uns eine Welt zeigt - allein unter Be zugnahme auf innere neuronale Ereignisse erklären lässt? Gibt es überhaupt etwas, das für diese Vorstellung spricht? Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie beharrlich man immer noch an dieser Überzeugung festhält. Diesem Thema werde ich mich in den nächsten drei Kapiteln zuwenden.
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6 DIE GRANDIOSE ILLUSION Menschen sind leere Köpfe, gerichtet auf eine einzige, evidente Welt.
Maurice Merleau-Ponty
Die Vorstellung, dass unser Wahrnehmungsbewusstsein bloß eine grandiose Illusion ist, wird durch Ergebnisse der empi rischen Wissenschaft scheinbar gestützt. Darin liegt eine der Quellen des Widerstands gegen den Gedanken, dass unser Ge hirn nur ein Element in der komplexeren Dynamik unseres Bewusstseins ist. In diesem Kapitel wende ich mich zwei maß geblichen Argumenten dieser umstrittenen Hypothese zu und zeige auf, dass keines von beiden überzeugend ist. In Wirk lichkeit gibt es keine empirische Grundlage für die Auffas sung, dass die Welt eine grandiose Illusion ist.
Das Gehirn als Schöpfer Einige Neurowissenschaftler halten das Gehirn für die Kraft, die die Welt erschafft, und sie glauben, dass es dabei entspre chend seiner eigenen Konzeption vorgeht. Wir sind Gehirne im Tank, das heißt, wir sind Gehirne in biologisch entwickel ten Gefäßen aus Haut und Knochen. Und wir fällen einer ge waltigen Sinnestäuschung zum Opfer, denn wenn wir etwas sehen, berühren und hören, nehmen wir fälschlicherweise an, dass wir mit der Art, wie die Dinge hier und jetzt vor uns erscheinen, in Verbindung stehen. Viele Wissenschaftler sind regelrecht begeistert von diesen fragwürdigen Erkenntnissen und verkünden sie im Brustton 152
der Überzeugung. Wir nehmen demnach nie mehr wahr als ein vom Gehirn nach eigenen Regeln konstruiertes Bild oder Modell. In ihrem Standardwerk Essentials of Neural Science and Behavior (dt: Neurowissenschaften - Eine Einführung) schreiben Kandel, Schwartz und Jessell: »Unser Gehirn zeichnet die äußere Welt nicht einfach in Form eines dreidimensionalen Photos auf. Es kon struiert vielmehr eine interne Repräsentation externer physikalischer Ereignisse, nachdem es sie in ihren ein zelnen Komponenten analysiert hat. Indem unser Ge hirn das Gesichtsfeld ›abtastet‹, analysiert es gleichzei tig, aber in getrennten Bahnen die Form von Objekten, ihre Bewegungen und ihre Farbe, bevor es schließlich ein Bild zusammenstellt.... Daß uns unsere Wahrneh mungen als direkte und präzise Bilder der uns umgeben den Welt erscheinen, ist also eine Illusion.« Chris Frith, ein bekannter britischer Neurowissenschaftler, wiederholt diesen Gedanken in einem Kapitel seines Buches Making Up the Mind (dt.: Wie unser Gehirn die Welt erschafft), das die Überschrift »Unsere Wahrnehmung der Welt ist eine Fan tasie« trägt. Sind wir also fiktive Charaktere, die ihre Rollen in einer vom Gehirn erdachten Geschichte spielen, wie es diese Wissen schaftler nahelegen? Und gibt es dafür tatsächlich empirische Beweise, wie es die oben zitierten Neurowissenschaftler glau ben machen wollen?
Das Sehen: Eine Fallstudie Immer wenn Psychologen und Neurowissenschaftler einen besonders publikumswirksamen Beweis dafür brauchen, dass die Welt eine grandiose Illusion ist (und zwar eine, die das Ge hirn »für uns« erzeugt), dann widmen sie sich dem Sehvermö 153
gen. Das Sehen nimmt eine zentrale Stellung in der Wissen schaft des Geistes ein. Keine andere sensorische oder kognitive Fähigkeit ist so gut erforscht wie das Sehvermögen. Wissenschaftliche Theorien über das Sehvermögen reichen bis ins Altertum zurück, gediehen im Mittelalter und erleb ten mit der Geburtsstunde der modernen Wissenschaft ihre Blütezeit. Viele der wichtigsten Denker der Geschichte haben sich das Sehen zum Steckenpferd erkoren: Platon, Aristoteles, Euklid, Ptolemäus, Alhazen, Galileo Galilei, Leonardo da Vinci, Kepler, Descartes und Newton. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, wurde die neurophysiologische Erforschung des Sehapparates der Säugetiere vor einigen Jahren auch mit einem Nobelpreis für Physiologie und Medizin bedacht. Die ses enorme Interesse am Sehen entspricht vielleicht einfach unserer natürlichen Neigung. Schließlich sind wir visuelle Geschöpfe: Unser elementarstes Verständnis des Wesens der Dinge - was ein Baum oder wer die Mama ist - ist visueller Natur. Dem Sehvermögen kommt angeblich sogar eine einzigartige Stellung unter unseren Sinnen zu. Während uns unser Hör vermögen über Klänge informiert, die von Ereignissen in un serem Umfeld hervorgerufen werden, und während uns der Geruchssinn beispielsweise über Chemikalien in Kenntnis setzt, die in unserer unmittelbaren Umgebung freigesetzt werden, zeigt uns nur das Sehvermögen die Objekte und Ge schehnisse selbst. Einen Einbrecher hören wir nicht direkt wir vernehmen nur seine Geräusche. Sehen wir den Einbre cher jedoch, dann sehen wir ihn direkt, nicht bloß ein Bild oder eine optische Erscheinung. Mag das Sehvermögen nun etwas Einzigartiges sein oder nicht. ln jedem Fall stimmt man darin überein, dass eine Be trachtung der Sinneswahrnehmung im Allgemeinen und des Sehens im Besonderen die stärksten Anhaltspunkte dafür lie fert, dass das Gehirn ein Schöpfer und die Welt eine grandiose Illusion ist. Also begeben wir uns auf eine kurze Reise durch die gemeinhin vertretenen Vorstellungen über das Sehen und 154
das Gehirn und fragen uns: Folgt aus der Natur des Sehens tatsächlich, dass die Welt ein Hirngespinst ist?
Das Wunder des Sehens Seit ein paar Jahrhunderten trägt man sich in der Wissen schaft des Sehens mit der Vorstellung, dass das, was wir sehen, bei Weitem über das hinausgeht, was wir in Form von Sinnes reizen empfangen. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir von unserer Umwelt in Form von verlässlichen, informativen Sinnesreizen erhalten. Es ist Aufgabe des Gehirns, so glaubt man, diese Lücke zu schließen und die Dürftigkeit der visuellen Reize wieder wettzuma chen. Diese Strategie - also sich darauf zu berufen, dass es eine Diskrepanz zwischen der Beschaffenheit unseres Sehens und der Beschaffenheit der im Netzhautbild enthaltenen Infor mationen gibt, und daraus zu schlussfolgern, dass es Aufgabe des Gehirns ist, diese Lücke zu schließen - ist in der Theorie der visuellen Wahrnehmung allgegenwärtig. Hier sind einige der wichtigsten Beispiele für diese Argumentierweise.
Das invertierte Netzhautbild und das zyklopische Auge Nachdem man im Mittelalter viele Mutmaßungen dazu an gestellt hatte, entschlüsselte schließlich Kepler die Optik des Auges, also die Art, in der das einfallende Licht gebrochen und schließlich gebündelt wird. Insbesondere wies Kepler nach, dass auf der Netzhaut zwangsweise ein invertiertes Bild entstehen muss: Die gesehene Szene erzeugt aufgrund der Optik des Auges ein auf dem Kopf stehendes Bild auf der In nenseite des Augapfels. Nun scheint sich sofort folgende Frage aufzudrängen, die sicherlich auch Kepler umtrieb: Wie können wir die Welt richtig herum sehen, wo doch das Bild in unse rem Auge auf dem Kopf steht? Die Sache wird noch verzwick155
ter, wenn wir in Betracht ziehen, dass es zwei Netzhautbilder und nicht nur eines gibt. Und diese invertierten Bilder stim men nicht überein. Warum sehen wir die Dinge nicht doppelt und ein wenig verschwommen? Denn das iert ja tatsäch lich, wenn wir ein Auge mit dem Finger zuhalten und damit das Zusammenspiel beider Augen unterbrechen. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen dem, was wir sehen (ein einzelnes, richtig herum stehendes, scharfes Bild), und dem, was erzeugt wird (zwei voneinander abweichende, auf dem Kopf stehende Bilder). Irgendwie muss das Gehirn - so vermuten es jedenfalls die Wissenschaftler seit Keplers Zei ten - diesen Unterschied ausgleichen, indem es die Bilder he rumdreht und sie zu einem einzigen, richtig herum stehenden Abbild der Welt macht, das dem entspricht, was wir tatsäch lich sehen. Dieser Gedankengang - also die Vorstellung, dass das Gehirn eine Diskrepanz ausgleicht - ist die Grundlage fast aller wissenschaftlichen Erforschung des Sehvermögens.
Die Ränder des Sehbereichs sind unscharf
Das Auflösungsvermögen des Auges ist nicht homogen. Es gibt mehr Stäbchen und Zapfen in der Mitte des Auges (in der Fovea centralis oder Sehgrube) als am Rand. Tatsächlich kann das Auge nur im Blickmittelpunkt ein scharfes Bild erstellen. Das lässt sich leicht demonstrieren. Schauen Sie sich eine Textseite an, die Sie zuvor noch nicht gelesen haben. Schlie ßen Sie ein Auge, und blicken Sie auf ein Wort in der Mitte der Seite. (Das funktioniert auch mit beiden Augen.) Versuchen Sie nun, das Auge nicht zu bewegen. Wenn Ihnen das gelingt, werden Sie feststellen, dass Sie an dieser Stelle nur ein paar Wörter entziffern können. Außerdem hat man herausgefun den, dass es im Randbereich unserer Augen nur sehr wenige Farbrezeptoren gibt und wir im Randbereich des Gesichtsfel des also quasi farbenblind sind. Auch das lässt sich einfach nachweisen. Schauen Sie geradeaus. Wenn Sie nun eine Spiel karte in etwa 30 Zentimeter Entfernung von links, rechts. 156
oben oder unten in Ihr Sichtfeld halten, dann können Sie nicht erkennen, ob die Karte rot oder schwarz ist. Natürlich nehmen wir eine gesehene Szene in durchgängig normaler Schärfe und mit vollständigen Farben wahr, obwohl die Infor mation für diese Wahrnehmung - also das Netzhautbild kein derartig scharfes und farbiges Abbild enthält. Die Schluss folgerung und Erklärung sind: Das Gehirn muss die Farbe in den Randbereichen hinzufügen, und es baut auch die Schärfe in ein inneres, selbst erzeugtes Bild ein.
Das Netzhautbild ist instabil Die Angelegenheit wird dadurch noch verschlimmert, dass sich die Augen fast ununterbrochen bewegen. Mehrmals in der Sekunde flackern sie hin und her. Außerdem vollführen sie Sakkaden und Mikrosakkaden, also abrupte, ruckartige Bewegungen. Als Ergebnis davon hüpft das Abbild eines un bewegten Gegenstandes auf unserem Augapfel herum. Wenn wir aber einen sich bewegenden Gegenstand mit den Augen verfolgen, steht sein Abbild auf der Netzhaut still, während das des unbewegten Hintergrundes über die Augen rast. Und wie derum scheint sich die Tatsache, dass wir gesehene Szenen als stabile Bilder wahrnehmen, damit zu erklären, dass diese Sta bilität zu einem späteren Zeitpunkt bei der Verarbeitung des Netzhautbildes erzeugt wird.
Der blinde Fleck In jedem Auge gibt es einen blinden Fleck, auf dem sich keine Fotorezeptoren befinden. Und doch nehmen wir in unserem Gesichtsfeld keine Lücke oder Unterbrechung wahr. Schließen Sie ein Auge, und betrachten Sie die gleichförmige Ausdeh nung der Farbe, beispielsweise an der Wand. Sehen Sie dort irgendeine Lücke? Und dennoch gibt es eine solche Lücke auf dem Netzhautbild der Wand. Unser Empfinden, eine durch gängige Welt wahrzunehmen, muss dem nun schon vertrau157
ten Argument zufolge also daraus resultieren, dass unser Ge hirn das lückenhafte Bild auffüllt.
Hindernisse Durch den Augapfel ziehen sich Äderchen. Organische Teil chen schweben durch das Auge. Diese Teilchen behindern und stören den Weg des Lichts zur Netzhaut. Noch absonder licher ist es, dass die Netzhaut im hinteren Teil des Auges ist, also sich der eigentliche Sinnesrezeptor hinter einem Netz aus Nervenfasern befindet, die sich schließlich zum Sehnerv vereinigen. So muss sich das Licht einen Weg durch diesen Morast aus Axonen und Dendriten bahnen. Und trotzdem werden wir beim Sehen dadurch nicht beeinträchtigt - oder jedenfalls nur ganz selten, beispielsweise wenn wir »fliegende Mücken« wahrnehmen.
Die dritte Dimension Haben Sie auch schon einmal gedacht, da liefe ein Rasen mäher draußen vorm Haus, und dann festgestellt, dass Sie eigentlich eine Fliege an Ihrem Ohr summen hören? Auch das Auge unterliegt solchen Fehleinschätzungen. Ein kleiner Ge genstand in der Nähe kann die Netzhaut auf gleiche Weise wie ein großer Gegenstand in der Ferne stimulieren. Beim Sehen steht uns nur ein zweidimensionales Bild zur Ver fügung. Wie können wir die Größe oder Entfernung eines Ge genstandes von einer zweidimensionalen Projektion ableiten? Wir können es nicht: Es ist rein mathematisch unmöglich. Anscheinend können wir Raumverhältnisse, also Größen und Entfernungen, nicht oder jedenfalls nicht direkt sehen. Die uns zur Verfügung stehenden Daten enthalten diese Informa tion einfach nicht.
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Farbe Wie wir bereits festgestellt haben, gibt es nur wenige Farbrezeptoren (Zapfen) im Randbereich des Gesichtsfeldes. Trotz dem nehmen wir die gesehene Szene als durchgehend farbig wahr. Außerdem ändert sich die Farbe der Gegenstände für uns nicht, selbst wenn sich die Lichtbedingungen radikal ändern. Die Farbe eines Buches beispielsweise scheint kaum zu variieren, wenn wir von der grellen Mittagssonne draußen ins Kunstlicht unseres Wohnzimmers gehen - obwohl die phy sikalische Zusammensetzung des Lichts, das von der Ober fläche des Buches in unser Auge dringt, sich drastisch ver ändert.
Zeit Es ist allseits bekannt, dass die Sterne, die wir am Nachthim mel zu sehen glauben, vielleicht schon gar nicht mehr existie ren, und wenn, dann vielleicht nicht mehr in der Form oder an dem Ort, an dem sie uns erscheinen. Das kommt daher, dass das Licht Zeit benötigt, um die riesige Entfernung zwi schen dem Stern und uns zurückzulegen. Weniger bekannt, aber ebenso erwiesen ist die Tatsache, dass der Prozess des Sehens erst dann in Gang gesetzt wird, wenn das Licht von einem Gegenstand, sei er nun nah oder weit entfernt, am Auge ankommt. Das Licht erzeugt elektrochemische Veränderungen in der Sinnesperipherie, die sich dann relativ langsam über die Fasern des Nervensystems ausbreiten. Erst wenn die ent sprechenden Signale an ihrem letztendlichen Bestimmungs ort im Gehirn angekommen sind, können wir sehen! Daher sehen wir nicht zu dem Zeitpunkt, an dem wir zu sehen glau ben. Das Sehen ist zwangsläufig eine Art Zeitreise, ein Zugang zu den Dingen, wie sie Augenblicke zuvor waren, und nicht, wie sie jetzt sind. Ich habe versucht, die gemeinsame Struktur dieser Beispiele aufzuzeigen. Sie alle sollen demonstrieren, dass die Beschaf 159
fenheit unserer Erfahrung über das Gegebene »hinauszugehen« scheint, und sie alle führen uns daher genau an den Punkt, an dem das Gehirn ins Spiel kommt: Es liefert das, was die Welt auslässt. Die Wissenschaft des Sehens, wie sie seit Keplers Zei ten praktiziert wird, soll also hauptsächlich den Mechanismus erklären, mit dem das Gehirn uns in die Lage versetzt, viel mehr zu sehen, als das Netzhautbild liefert. Irgendwie können wir auf der Grundlage zweier winziger, nicht übereinstim mender, verzerrter, springender, auf dem Kopf stehender, un gleichmäßig aufgelöster, nur teilweise farbiger, zeitverzöger ter Abbilder im Auge ein einheitliches, stabiles, durchgehend farbiges und dreidimensionales Bild der Gegenstände und Merkmale in unserem Umfeld sehen. Aufgabe der Wissen schaft des Sehens ist es - so wird es seit Kepler bis hin zur Ge genwart gehandhabt - zu verstehen, wie das Gehirn dieses scheinbare Wunder vollbringt. Es ist Ihnen sicher aufgefallen, dass in dieser Geschichte die Welt selbst, also wie die Dinge jenseits unserer Wahrneh mung sind, gar nicht vorkommt. Wenn man dieser Geschichte glaubt, dann geschieht das Sehen »hier drin«, irgendwo zwi schen dem Einfall des Lichts im Auge und dem Hinterkopf. Die Welt spielt in dieser Geschichte bestenfalls hinter den Kulissen eine Rolle. Die Welt bringt gelegentlich das Nerven system an der Peripherie (also den Sinnen) durcheinander und erzeugt daher die Ereignisse, durch die wir zu sehen scheinen. Aber dass man angeblich eine Welt außerhalb der Sinne sehen kann, ist reine Einbildung!
Bilder der Welt vor dem geistigen Auge Wir haben gerade erörtert, wie scheinbar durch die Verarbei tung visueller Informationen im Gehirn schließlich ein de tailreiches Abbild der Welt entsteht. Wissenschaftler legen sehr viel Wert auf die Vielfalt, Detailliertheit und Brillanz un seres Sehens. Der Wissenschaft des Sehens stellt sich die Frage, 160
wie wir durchgehend detaillierte, hochaufgelöste, leuchtend farbige Abbilder der Welt wahrnehmen können, wo wir doch in Wirklichkeit so wenig sehen. Zauberkünstler und Bühnenbildner haben schon lange be griffen, dass unsere visuelle Erfahrung nicht so vielfältig ist, wie es scheint. Die erste Regel des Bühnenhandwerks lautet: Die Hand ist schneller als das Auge. Anscheinend sehen wir in einem erstaunlichen Ausmaße das, was wir zu sehen erwar ten. Deshalb sind wir sehr beeinflussbar. Wenn ein Zauberer uns glauben lässt, dass er die Münze von einer Hand in die andere genommen hat, nun, dann werden wir genau das sehen. Man glaubt, was man sieht, weil man genau das sieht, was man glaubt. Wissenschaftler haben sich in letzter Zeit dieser uralten Erkenntnis wieder angenähert. In einer Reihe eindrucksvoller Experimente auf den Gebieten der sogenannten Verände rungsblindheit (change blindness) und Unaufmerksamkeits blindheit (inattentional blindness) wurde nachgewiesen, dass wir einen Großteil des Geschehens in unserem Umfeld nicht sehen können oder zumindest nicht bemerken, dass wir es sehen - außer natürlich, ein Detail ist relevant für den Gegen stand, dem wir uns gerade zuwenden, oder verändert unsere Wahrnehmung des Gesamteindrucks einer Szene. Nehmen wir einmal an, ein mächtiger Dämon möchte Sie hinters Licht führen und tauscht die Person, die Ihnen im Zug gegenübersitzt, wie von Zauberhand aus, sobald Sie zwinkern. Würden Sie das bemerken? Aber natürlich! Denn meistens lenkt bei einer solchen Veränderung ja die Veränderung selbst unsere Aufmerksamkeit auf den sich verändernden Zu stand. Wir reagieren sehr empfindsam auf das Flackern oder die plötzlichen Bewegungen, die mit abrupten Veränderungen einhergehen. Aber was, wenn die Veränderung und die damit verbundenen aufmerksamkeitserregenden Bewegungen statt finden, wenn Sie gerade nicht hinschauen, weil Sie beispiels weise zwinkern? Das ist wie bei dem alten Streich. Ich sage: »He, was ist denn das da drüben?« Und während Sie weg 161
schauen, stibitze ich mir ein Pommes frites. Wenn Sie mich nicht auf frischer Tat dabei ertappen, würden Sie es dann be merken? Nicht, wenn sich auf Ihrem Teller immer noch ein ordentlicher Berg Pommes frites befindet, sodass eines weni ger nicht ins Gewicht fällt. Zurück zum verschwindenden Mitreisenden im Zug: Würden Sie sein Verschwinden bemer ken, wenn der Austausch genau zu dem Zeitpunkt stattfindet, an dem Sie wie bei den Pommes frites nicht hingeschaut ha ben? Vielleicht würde es Ihnen auffallen, wenn die neue Per son sich sehr von der ausgetauschten Person unterscheidet (beispielsweise ein kleines Kind anstelle eines alten Mannes). Aber in der Regel würde es Ihrer Aufmerksamkeit entgehen. So lassen es zumindest aktuelle Arbeiten auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie vermuten. Nun ist es nicht so einfach, mächtige Dämonen für die Mitarbeit an einem solchen Experiment zu gewinnen. Doch mit ein wenig Erfin dungsreichtum (und Computern) ist es Wissenschaftlern ge lungen, diese Hypothese zu testen. In einer bekannten auf Video aufgenommenen Experimentreihe hält ein junger Stu dent einen älteren Mann, der wie ein Professor aussieht, mit ten auf dem Campus an und fragt nach dem Weg. Der junge Mann zeigt dem Professor eine Karte und zeigt, wohin er möchte. Während der Professor den Weg erklärt, trägt eine Gruppe Arbeiter eine Tür zwischen dem Professor und dem Studenten hindurch. Der Professor fährt mit seiner Beschrei bung fort, und dann gehen beide Männer ihrer Wege. Es stellt sich heraus, dass der Student und die Arbeiter bei diesem Ex periment Verbündete waren und einer der Arbeiter den Platz des Studenten einnahm, als dieser für einen Moment von der Tür verdeckt war. Dem Professor fiel gar nicht auf, dass er das Gespräch mit einer anderen Person beendete als der, mit der er es begonnen hatte. (Dieses Experiment führten Dan Simons und sein Team Ende der Neunzigerjahre an der Universität Harvard durch.) Weitere Beispiele lassen sich nennen, wie dieses ebenfalls von Simons’ Team durchgeführte Experiment: Man zeigt Ihnen 162
ein Video, auf dem sich Kinder einen Ball zuwerfen, und Sie sollen zählen, wie oft sich zwei bestimmte Kinder den Ball Zuspielen. Danach teilt man Ihnen mit, dass eine Person in einem Gorillakostüm durch das Bild getanzt ist. Doch das war Ihnen gar nicht aufgefallen, weil Sie sich auf etwas anderes konzentriert hatten. Wenn Sie das Video noch einmal ansehen, werden Sie schallend lachen und nicht glauben kön nen, dass Ihnen der Gorilla entgangen ist. Ein drittes Beispiel: Sie sollen farbige Klötze so anordnen, dass sie einem Muster auf einem Computerbildschirm gleichen. Jedes Mal, wenn Sie den Blick vom Monitor wenden, um die Klötze in die richtige Reihenfolge zu bringen, ändert sich das Muster auf dem Bild schirm. Die Aufgabe fällt Ihnen zwar schwer, aber es dauert lange, bis Sie merken, dass sich das Muster verändert. Was sagen uns die Phänomene der Veränderungsblindheit und Unaufmerksamkeitsblindheit über uns selbst? Einige Theoretiker halten diese Studien für einen weiteren Beweis dafür, dass die visuelle Welt eine grandiose Illusion ist. Tradi tionelle Verfechter dieser Auffassung betonen, dass das Gehirn ein inneres Bild der Welt gestaltet, also das, was wir wahrneh men, ein inneres, vom Gehirn erdachtes Abbild und nicht die Welt selbst ist. Die Argumentation, auf die ich mich nun be ziehe, beruht jedoch auf einer noch viel bestürzenderen, radi kaleren, skeptischeren These. Laut diesem neuen Skeptizis mus erstellt das Gehirn gar kein inneres Modell der Welt. Dass es uns aber so erscheint, als würde das Gehirn ein inneres Mo dell erzeugen, zeigt nur, dass wir uns in der Natur unserer Er fahrung sogar noch viel grundlegender täuschen. Wir glauben, dass wir durch unsere visuelle Wahrnehmung die ganze Welt scharf und in allen Einzelheiten sehen können. Aber das ist falsch. Der alte Skeptizismus ging noch davon aus, dass wir viel mehr sehen können, als uns an Information zur Verfügung steht. Der neue Skeptizismus behauptet hingegen, dass wir nicht mehr sehen können, als uns an Information zur Ver fügung steht, es aber fälschlicherweise glauben. Aus Sicht des neuen Skeptizismus nimmt die Wissenschaft 163
des Sehens eine neue Form an. Dem alten Ansatz zufolge hatte sie die Aufgabe zu ergründen, wie das Gehirn ein inneres Ab bild konstruiert. Die neue Wissenschaft des Sehens beschäf tigt sich damit, warum es uns so scheint, als würde das Ge hirn ein inneres Abbild konstruieren - wo dies doch gar nicht der Fall ist.
»Die Welt ist ihr eigenes Modell« Eloquente Vertreter des neuen Skeptizismus sind unter ande rem Daniel Dennett und Susan Blackmore. Doch hat die Theo rie von vornherein schon einen Haken. Uns als Wahrnehmen den kommt es nicht so vor, als würde das Gehirn ein inneres Modell von der Welt erzeugen - sondern vielmehr, als wäre die Welt hier und wir in ihr. Wenn ich aus dem Fenster schaue, kommt es mir nicht so vor, als ob alle Einzelheiten meines Umfeldes in meinem Bewusstsein abgebildet würden, son dern so, als ob sich alle Einzelheiten dort im Garten, hinter dem Zaun, auf der anderen Straßenseite befanden. Wenn ich beschreiben möchte, was ich sehe, wende ich meine Aufmerk samkeit nicht dem Modell im Inneren, sondern der Welt zu. Ich sehe nie den Inhalt eines geistigen Schnappschusses; mir scheint es nie so, als ob in meinem Inneren ein Abbild der Welt geschaffen würde. Vielmehr - und das ist entscheidend scheint die Welt für mich verfügbar zu sein. Diese Verfügbar keit wird zunächst einmal dadurch sichergestellt, dass diese Welt tatsächlich da ist, und zweitens dadurch, dass ich die Fähigkeiten besitze, mit denen ich auf die Welt zugreifen kann. Ich erfasse die benötigten Einzelheiten, indem ich den Kopf drehe oder meinen Aufmerksamkeitsschwerpunkt ver lagere. Natürlich spüre ich gerade die Präsenz der gesamten gesehenen Szene, und es scheint mir nicht so, als ob die ge sehene Szene dadurch entstünde, dass ich sie mir gerade an schaue. Aber das lässt sich dadurch erklären, dass ich, obwohl ich nicht alle sichtbaren Einzelheiten auf einmal abbilden 164
kann, Zugang zu diesen Einzelheiten habe. Und dessen bin ich mir auf eine ganz elementare, praktische Weise bewusst. Wenn ich beispielsweise diese Tomate auf dem Ladentisch vor mir anschaue, woraus besteht dann mein Empfinden, dass die To mate auch eine Rückseite hat? Nur aus meinem praktischen, körperlichen Verständnis, dass ich, wenn ich den Kopf und die Augen bewege, die Rückseite der Tomate sehen kann. Also befindet sich die Wissenschaft des Sehens, selbst in ihrer neuen, radikal skeptischen Ausprägung, auf dem Holzweg. Es gilt nicht zu erklären, wie es unser Bewusstsein schafft, alle Einzelheiten sofort zu erfassen, weil es das gar nicht tut. Und es erscheint uns nicht einmal so, als ob es das könnte! Und falls das Gehirn es uns nicht ermöglicht, alle Einzelheiten so fort im Bewusstsein abzubilden, dann beweist das nicht, dass wir auf eine grandiose Illusion hereinfallen. Um es noch ein mal zu verdeutlichen: Die Welt zeigt nicht sofort ihre gesam te Präsenz in meinem Geist. Sie zeigt sich als erreichbar, als mehr oder weniger in der Nähe, als mehr oder weniger anwesend. Die Veränderungsblindheit demonstriert nicht, dass wir den Detailreichtum, den wir anscheinend sehen, gar nicht wahrnehmen können. Sie veranschaulicht etwas anderes, nämlich dass unsere Fähigkeit, unsere Umwelt über die Zeit beständig wahrzunehmen, nicht darauf beruht, dass es in unserem Gehirn irgendeine Repräsentation der gesehenen Szene gibt, sondern vielmehr darauf, dass wir einen Zugang zur Welt haben. Und dieser Zugang hängt wiederum von un seren Fertigkeiten ab. So brauchen wir beispielsweise für das Sehen ein praktisches Verständnis davon, wie die Bewegun gen der Augen, des Kopfes und des Körpers unsere Relation zu Umweltereignissen verändern: und das Sehen setzt natürlich voraus, dass wir keine Welt voller Dämonen bewohnen, wie sie im vorherigen Abschnitt beschrieben wurde. Unsere Fähig keit, uns mit der Welt zu verbinden und mit ihr in Verbindung zu bleiben, also unser stabiler Zugang zur Welt durch unsere Wahrnehmung, hängt nicht nur von unseren Fertigkeiten, sondern auch davon ab, dass die uns umgebende Welt be 165
stimmten kausalen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Unser Wahrnehmungsbewusstsein von der Welt als einem kausal, räumlich und zeitlich wohlgeordneten, regel mäßigen und berechenbaren Ort hängt davon ab, dass die Welt tatsächlich so ist. Und das sollte uns nicht im Mindesten überraschen. Schließlich ist unser Wahrnehmungsbewusstsein eine bio logisch entwickelte Fähigkeit, und die Evolution findet immer innerhalb einer bestimmten ökologischen Nische statt. Un sere Wahrnehmungsfähigkeiten haben sich für ein Leben auf der Erde und nicht für ein Leben in einer Umwelt herausgebil det, in der Gegenstände je nach Laune eines mit übernatür lichen Kräften gesegneten Taschenspielers (oder Ingenieurs) auftauchen oder verschwinden. Dass wir uns bei psycholo gischen Experimenten oder im Kino leicht täuschen lassen, beweist also lediglich eine Einschränkung unserer Wahrneh mungsfähigkeit in einem bestimmten Kontext, aber nicht, dass wir in unserer Wahrnehmung komplett hinters Licht ge führt werden! Es ist keine Illusion, dass sich uns die Welt in beständigen und vielfältigen Einzelheiten zeigt, auch wenn wir keine be ständigen und vielfältigen inneren Repräsentationen dieser äußeren Welt in uns tragen. Aber so kommt es uns ja auch nicht vor. Die Welt selbst ist vielfältig, und wie wir sie wahr nehmen, hängt nicht nur vom Gehirn, sondern auch von un seren körperlichen Fähigkeiten und von der Welt selbst ab. Wir sind, um es noch einmal mit Merleau-Ponty zu sagen, leere Köpfe, die auf die Welt gerichtet sind. Die Welt ist weder ein Konstrukt des Gehirns noch ein Produkt unserer eigenen bewussten Anstrengungen. Sie ist für uns da, wir sind in ihr. Das Bewusstsein ist nicht in unserem Inneren, sondern es ist vielmehr eine Art aktive Einstimmung auf die Welt, eine er lernte Integration. Die uns umgebende Welt bestimmt die Natur unserer bewussten Wahrnehmung.
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Zurück zum Sehvermögen Obwohl die Wissenschaft des Sehens schwerlich beweisen kann, dass die visuelle Welt ein Produkt des Gehirns ist oder dass wir auf eine grandiose Illusion hereinfallen, gehen viele ihrer Vertreter genau davon aus. Zumindest die Verfechter eines traditionelleren Ansatzes glauben, dass das Sehen eine Tätigkeit ist, bei der das Gehirn eine Repräsentation einer ge sehenen Szene aufbaut, die dem entspricht, was wir wahrneh men. Das ist das theoretische Organisationsprinzip, das ist der Ausgangspunkt. Darüber hinaus wird angenommen, dass sich die für das Sehen notwendigen Informationen - also die Grundlagen - auf der Netzhaut des Auges befinden. Sehen ist demnach ein Prozess, der sich zwischen den Augen und dem Hinterkopf abspielt; die Welt ist nur irgendein Etwas da draußen. Wenn wir uns von dieser Vorstellung trennen, dann zeigt sich, dass die ach so publikumswirksamen Beweise für das konstruktive Walten unseres Gehirns die Vorstellung vom Ge hirn als einem Schöpfer nicht untermauern können. Nehmen wir beispielsweise einmal das Problem des inver tierten und doppelten Netzhautbildes. Weder wir noch unser Gehirn, noch sonst irgendjemand (außer vielleicht unser Augenarzt) bekommen das Netzhautbild je zu Gesicht, warum also sollte dessen Ausrichtung überhaupt eine Bedeutung da für haben, wie sich uns die Welt zeigt? Das Netzhautbild ist ein Bild im mathematischen Sinne, es ist eine Projektion oder Abbildung. Das Netzhautbild ist kein eigentliches Bild, und falls doch, dann nur rein zufällig. Wie es aussieht oder zu in terpretieren ist, spielt für die Ausübung seiner neurophysiologischen Aufgabe keine Rolle. Sobald wir uns verdeutlichen, dass wir das Netzhautbild nicht sehen, können wir auch nicht mehr sagen, was es bedeutet, dass es auf dem Kopf steht. »Auf dem Kopf« in Bezug worauf? Angesichts der Aufgaben des Ner vensystems wird ja wohl kaum jemand festlegen wollen, was im Kopf als »verkehrt herum« gilt. 167
Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler würde jemals öffentlich die Vorstellung vertreten, dass das Netzhautbild ein Bild ist, das gewissermaßen vom geistigen Auge analysiert wird. Denn jedem Wissenschaftler ist klar, dass dieser Ansatz auf einem Fehlschluss beruht: Schließlich hätten wir damit das Sehen erst dann erklärt, wenn wir erklären, wie das geis tige Auge es schafft, das Netzhautbild zu »sehen«. Durch ein weiteres Bild im Inneren des geistigen Auges? Schon Descartes beschrieb diesen Fehlschluss: Wir sehen, weil es in unserem Inneren etwas gibt, das gesehen wird. Das wurde als Homunculus-Theorie bekannt. Aber lesen wir einmal das folgende Zitat aus dem Fachbuch von Kandel, Schwartz und Jessell: »Die obere Hälfte des Gesichtsfeldes wird auf die untere (oder ventrale) Hälfte der Retina proji ziert, die untere Hälfte des Gesichtsfeldes auf die obere (oder dorsale) Retinahälfte.« Bezeichnenderweise wird in Klam mern folgende Bemerkung hinzugefügt, als ob diese keiner weiteren Erklärung bedürfte: »Das Gehirn korrigiert diese In version.« Wenn wir uns ein für alle Mal von der irrigen Auffassung trennen, dass das Netzhautbild überhaupt ein Bild ist, müs sen wir das Netzhautbild nicht mehr als Mysterium betrach ten, geschweige denn davon ausgehen, dass das Gehirn dessen »Inversion korrigieren« muss. Das Problem des Netzhautbildes ist also kein wirkliches Problem, sondern ein Pseudoproblem, das letztlich auf der Vorstellung beruht, dass das Gehirn etwas über die Welt er fährt, indem es das Netzhautbild analysiert. Das Gleiche gilt für das Problem des Zyklopischen Auges. Da wir die Netzhaut bilder nicht direkt sehen, macht es im Bezug auf das, was wir sehen, keinen Unterschied, ob es zwei oder hundert Netzhaut bilder gibt. Und falls doch, dann hat dieser Unterschied jeden falls sicher nichts mit der Frage zu tun, wie wir eigentlich mit zwei Augen eine einzige Welt sehen können. Oder nehmen wir das Problem, dass wir die visuelle Welt scharf und in allen Einzelheiten wahrnehmen, obwohl das 168
Auge durch sein ungleichmäßiges Auflösungsvermögen nicht in der Lage ist, ein solches Abbild herzustellen, zumindest nicht ohne die Unterstützung des Gehirns. Auch hier kann ich nur entgegnen, dass wir das Netzhautbild nicht sehen, ja dass wir in diesem Sinne überhaupt kein Bild sehen. Wir neh men die Weit wahr. Und das tun wir nicht, indem wir sie innerlich abbilden, sondern indem wir uns Zugang zu ihr ver schaffen. Wenn wir uns auf einen Punkt oder einen Gegen stand konzentrieren, können wir natürlich nicht erkennen, was sich im Randbereich des Gesichtsfeldes befindet. Aber das heißt nicht, dass wir eine verschwommene Wahrnehmung im Randbereich haben oder dieser uns als leer erscheint. Die Be schränktheit dessen, was wir durch eine einzige Fixation er kennen können, zeigt uns lediglich, dass Fixationen keine Seheinheiten sind, dass wir also gewissermaßen nicht sehen, indem wir Fixationen wie einzelne Standbilder zu einem Film aneinanderreihen. Wir sind nicht auf die Wahrnehmung mit hilfe von Fixationen beschränkt, es sei denn, wir befinden uns beim Augenarzt. Das Sehen ist ein aktiver Prozess. Wenn wir ins Theater oder zu einem Baseballspiel gehen, richten wir uns auf, schauen umher, bewegen die Augen und den Kopf. So neh men wir an den Geschehnissen vor uns teil. (Selbst wenn wir versuchen stillzuhalten, bewegen sich die Augen von alleine und vollführen drei- oder viermal pro Sekunde Sakkaden.) Das Sehen ist ein Weg der Verbindung mit der Umwelt, der Aufmerksamkeit, Energie und meistens auch Bewegung erfor dert. Und so verhält es sich auch mit all den anderen Phäno menen, die angeblich zeigen, dass visuelle Wahrnehmungen vom Gehirn erzeugt werden. Nehmen wir einmal das Pseudo problem der visuellen Stabilität. Warum sollten wir anneh men, dass die Bewegungen des Auges (oder des Netzhautbildes) zu einer Beeinträchtigung des visuellen Reizes führen? Dafür müssten wir ja davon ausgehen, dass unser Gehirn Bewegun gen in der Welt durch einen Code abbildet, bei dem die Be wegungen des Netzhautbildes den Bewegungen der Dinge um 169
uns herum entsprechen. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass das Gehirn einen solchen Code verwendet? Kurz gesagt: nein. Die Wissenschaft des Sehens glaubt also, erklären zu müs sen, wie das Gehirn das Netzhautbild in das Wahrnehmungs objekt umwandelt. Und dieser Ausgangspunkt bringt es mit sich, dass man das Sehen als einen inneren Prozess - ähnlich der Verdauung - versteht. Die erörterten Beispiele rund um das Sehen sind allesamt weit davon entfernt, diese Schluss folgerung zu stützen, sondern sind vielmehr Resultate der Ausgangshypothese. Sobald wir diese Hypothese aufgeben, ver liert das Sehen für uns seine Rätselhaftigkeit.
Ohne den Schöpfungsmythos auskommen Die Vorstellung vom Gehirn als Schöpfer hat etwas Primitives. Sie beflügelt die Phantasie der Wissenschaftler. Viele Menschen finden es ja auch natürlich, an einen göttlichen Schöpfer der natürlichen Welt zu glauben. In diesem Kapitel habe ich ver sucht aufzuzeigen, dass es für die Vorstellung vom Gehirn als Schöpfer keine empirischen Beweise gibt. Es handelt sich um eine nicht hinterfragte Ausgangshypothese, von der wir uns meiner Meinung nach trennen können. Wenn uns das ge lingt, dann verschwinden viele der Rätsel um das Sehvermö gen - das heißt, wir verstehen, dass wir sie nicht lösen müs sen, weil sie auf falschen Prämissen beruhen. Nun kann sich eine alternative Sicht auf uns und unsere Umwelt entfalten. Diesen alternativen Ansatz habe ich im dritten Kapitel eingeführt. Das Sehen ist eine Aktivität der Welterkundung, die von der Welt und der gesamten Beschaf fenheit unserer Verkörperung abhängt. Die Welt ist bei Wei tem keine grandiose Illusion, sondern wir sind in der Welt zu Hause, wir sind ein Teil von ihr, und das Wahrnehmungs bewusstsein entsteht durch unsere Verflochtenheit mit ihr. Die Wissenschaft kann nicht beweisen, dass wir auf eine grandiose Illusion hereinfallen. Das liegt teilweise daran, dass 170
die Wissenschaft selbst ein geistiges, von Menschen durch geführtes Vorhaben ist. Sie ist eine Art der Reflexion über ebenjene Realität, die wir alle täglich erfahren. Die Wissen schaft kann zwar den einen oder anderen gängigen Irrtum über die Welt aufklären. So kann sie uns lehren, dass Gewebe aus Zellen besteht und dass die Sonne nicht wirklich am Him mel aufsteigt, obwohl es so scheint. Aber nichts von dem, was die Wissenschaft uns lehrt, kann widerlegen, dass das Wahr nehmungsbewusstsein eine Art der Begegnung mit der uns umgebenden Welt ist. Denn jeder einzelne Wissenschaftler muss von der Voraussetzung ausgehen, dass eine solche Be gegnung möglich ist.
FAZIT: Die grandiose Illusion aufgeben Die Hypothese der »grandiosen Illusion« ist schlechte Philoso phie, und eine Kognitionswissenschaft, die angeblich Beweise dafür findet, ist schlechte Wissenschaft. Ausgezeichnete Ar beiten auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie (wie die Experimente zur Veränderungsblindheit) bieten - wenn man sie richtig interpretiert - eigentlich sehr gute Gründe für die Vorstellung, dass wir nicht auf eine grandiose Illusion herein fallen, sondern dass wir offen für eine Umwelt sind, die uns wichtig ist.
7 ENTDECKUNGSREISEN Die meisten Neurophysiologen stehen bis heute unter dem Einfluss dieses Dualismus, obwohl sie von der Phi losophie nichts wissen wollen. Sie leben in der An nahme, dass das Gehirn der Sitz geistiger Vorgänge sei. Modern ausgedrückt, ist das Gehirn sozusagen ein Computer mit einem Programm, sei es nun ange boren oder erworben, der eine willentliche Aktion plant und dann das Kommando zur Bewegung an die Muskeln weitergibt. Das klingt zwar ein wenig besser als Descartes’ Theorie, aber bleibt immer noch an der Grenze zur Reaktionsdoktrin. ].]. Gibson
In diesem Kapitel erzähle ich, wie Hubel und Wiesel mit ihrer Erforschung des Sehvermögens von Säugetieren den Nobel preis gewannen. Wie ich nachweisen werde, beruht ihre Ar beit auf der unhaltbaren Hypothese, dass das Sehen und an dere geistige Fähigkeiten Rechenprozesse sind, die im Gehirn ablaufen. Das Hauptproblem dieser Vorstellung vom Geist als einem Computer ist, dass sie fälschlicherweise davon ausgeht, dass der Geist aus Vorgängen im Gehirn entsteht. Daher muss also das Vermächtnis von Hubels und Wiesels Forschung in frage gestellt werden.
Die Sehrinde in Aktion 1981 wurde David Hubel und Torsten Wiesel für ihre Erfor schung der neurophysiologischen Grundlagen des Sehens der 172
Nobelpreis verliehen. Diesem Thema hatten sie sich vom Ende der Fünfzigerjahre bis ungefähr 1980 zuerst an der Johns-Hopkins-Universität, später an der Universität Harvard gewidmet. Hubels und Wiesels Forschungsarbeiten und die damit ver bundene höchste Anerkennung durch das wissenschaftliche Establishment gelten als ein wichtiger Meilenstein in der Wis senschaft des Bewusstseins. Das Sehen ist schließlich zualler erst eine Bewusstseinsart von Mensch und Tier. Und zumin dest für die bewussten Lebensaktivitäten von uns Menschen spielt das Sehen eine enorme Rolle. Die Welt ist offen für unsere visuellen Erkundungen, und wir verlassen uns auf das Sehen, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen und uns zu orientieren. Aber darüber hinaus ist die Welt für uns Men schen eine visuelle Welt. Es ist eine Welt voller Konturen, Farben und Ansichten. Die visuelle Beschaffenheit von Gegen ständen bestimmt, wie diese von uns wahrgenommen wer den: So haben sie für uns beispielsweise eine Vorderseite, eine Rückseite und nicht sichtbare Aspekte. Denken Sie nur ein mal daran, wie schwierig es wäre, die Geschehnisse in un serem Umfeld zumindest annähernd zu erfassen, wenn wir nicht sehen könnten. Manche behaupten, dass wir mehr darüber wissen, wie das Gehirn uns das Sehen ermöglicht, als über alle anderen geis tigen Funktionen des Gehirns. Wer diese Auffassung vertritt, denkt dabei gewöhnlich an die Arbeiten von Hubel und Wie sel. Während des Großteils der Menschheitsgeschichte war es nicht möglich, die Vorgänge im Gehirn eines lebenden Men schen oder Tieres zu untersuchen. Wie hätte man das auch bewerkstelligen sollen? Das Gehirn ist nicht sichtbar, es liegt unter der Schädeldecke verborgen. Und selbst wenn der Schä del transparent wäre, bliebe die Funktionsweise des Gehirns doch verborgen und in seiner Komplexität undurchsichtig. Hubel und Wiesel sind deshalb so bedeutsam, weil sie scheinbar einen Weg fanden, die Vorgänge im Gehirn auf eine verständliche Art sichtbar zu machen: Sie zeigten, wie das Gehirn unsere visuelle Wahrnehmung ermöglicht. Ihr Werk 173
ist bis heute eigentlich die Norm, an der sich das gesamte For schungsgebiet orientiert. Wie ich nun erläutern werde, hat auch die aktuelle Forschung zur neuronalen Basis des Be wusstseins die Schwächen von Hubels und Wiesels Ansatz noch nicht überwunden.
Der Ausgangspunkt Die Reise, auf die Hubel und Wiesel sich begaben, ist faszinie rend und lehrreich. Aber fangen wir am Anfang an. Zunächst stachen Hubel und Wiesel dünne Mikroelektroden in die Sehrinde von Katzen und Affen, um das elektrische Verhalten einzelner Zellen aufzuzeichnen. Die Tiere wurden dabei ver letzt, denn schließlich musste sich die Elektrode einen Weg durch das Gewebe bahnen. Doch die Schädigung konnte lokal eingegrenzt werden, und so schien es durch dieses Verfahren zumindest eine Zeit lang möglich, das mehr oder weniger normale Verhalten einzelner Zellen zu erforschen. Hubel und Wiesel waren nicht die Ersten, die auf diese Weise Daten aus dem Kortex gewannen. Vernon Mountcastle an der Johns-Hopkins-Universität hatte schon früher Daten aus dem somatosensorischen Kortex aufgezeichnet. Andere, unter ihnen besonders der große australische Physiologe Sir John Eccles, waren Wegbereiter einer Technik, bei der die Aktivität einzelner Zellen im Rückenmark gemessen wurde. Jerome Lettvin, Mitarbeiter am MIT und Altersgenosse von Hubel und Wiesel, frohlockte, dass Eccles die Neurophysiolo gie von der Vorstellung des »Sherrington’schen Urschleims« befreit habe. Damit meinte Lettvin wohl, dass es Eccles als Ers tem gelungen war, die neurophysiologischen Erkenntnisse von Sir John Scott Sherrington von einer makroskopischen auf eine mikroskopische Ebene zu übertragen. Mitte der Fünfzigerjahre hatten Stephen Kuffler - Hubels und Wiesels Mentor an der Johns-Hopkins-Universität - sowie ihr Altersgenosse Horace Barlow von der Universität Cambridge 174
wichtige Erkenntnisse über das Verhalten von Netzhautzellen gewonnen. Das rezeptive Feld einer Sehzelle ist der Bereich auf der Netzhaut, durch dessen Stimulation die Zelle ihre Feuerrate ändert. (Wir können uns das rezeptive Feld einer Zelle auch räumlich als den Bereich vor einem Lebewesen vor stellen, auf den eine Zelle reagiert.) Kuffler fand heraus, dass die Ganglienzellen der Netzhaut rezeptive Felder haben, die aus konzentrischen Kreisen bestehen. Fällt bei diesen »OnZentrum«-Neuronen ein Lichtpunkt auf die Mitte des rezep tiven Feldes, wird die Zelle aktiviert, fallt jedoch ein ring förmiger Lichtkranz auf die Peripherie des rezeptiven Feldes, wird die Feuerrate der Zelle gehemmt. Wenn ein diffuses Licht gleichmäßig auf das gesamte rezeptive Feld fällt, wird eine schwächere Reaktion hervorgerufen, als wenn ein Licht punkt direkt auf das Zentrum fällt. Off-Zentrum-Neuronen verhalten sich genau andersherum. Hubel und Wiesel waren von Kufflers Entdeckung beein druckt, und so stand ihr Vorhaben von Anfang an fest. »Die Strategie... schien auf der Hand zu liegen«, schrieb Hubel. »Torsten und ich wollten Stephen Kufflers Erforschung des Gehirns weiterführen. Wir wollten Daten von den Zellen des Corpus geniculatum laterale und vom Kortex aufzeichnen, rezeptive Felder mit kleinen Punkten kartografieren und die Weiterverarbeitung visueller Information untersuchen.« An dere hatten das auch schon versucht, aber ohne nennenswer ten Erfolg. Wie sich zeigte, war es schwierig herauszufinden, welche Reize die Kortexzellen aktivierten, oder besser gesagt, war es schwierig, die Kortexzellen überhaupt zu stimulieren. »Die Zellen reagierten einfach nicht auf die Punkte und Ringe«, klagte Hubel. Schließlich konnten die Forscher das Problem doch noch lösen. Hubel und Wiesel waren die ersten Wissen schaftler, die die Zellen der Sehrinde zum Reden brachten, wie es manchmal ausgedrückt wird. Ihre erste Entdeckung machten sie jedoch zufällig. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, eine Kortexzelle zu stimulie ren, warfen sie mithilfe von Glasobjektträgern Punkte an eine 175
vor einem Versuchstier befindliche Leinwand. Doch wohin sie die Punkte auch projizierten - die Zellen, deren Aktivität ge rade gemessen wurde, reagierten einfach nicht. Hubel schrieb: »Dann riefen wir allmählich undeutliche und unbestän dige Reaktionen hervor, indem wir einen Bereich in der mitt leren Peripherie der Netzhaut stimulierten. Als wir den Glas objektträger mit dem schwarzen Punkt in den Schlitz des Ophthalmoskops steckten, knatterte über den Audiomonitor die Zelle plötzlich los wie ein Maschinengewehr. Nach einiger Aufregung fanden wir heraus, was iert war. Die Reaktion hatte nichts mit dem schwarzen Punkt zu tun. Als wir den Glasobjektträger in das Ophthalmoskop steckten, warfen seine Ränder einen schwachen, aber scharfen Schatten, eine gerade dunkle Linie auf einem hellen Hintergrund. Das war es, was die Zelle brauchte, und zudem reagierte sie darauf nur in einem kleinen Orientierungsbereich.« Hubel und Wiesel hatten eine Zelle entdeckt, die auf Li nien in einer bestimmten Orientierung, also Ausrichtung, reagierten. Nach dieser anfänglichen Entdeckung verlief der Fortschritt stetig, wenn auch mühsam. Die beiden Forscher entdeckten Zellklassen in der Sehrinde von Katzen, deren re zeptive Felder sich auffallend von denen in der Netzhaut oder im Corpus geniculatum laterale (dem seitlichen Kniehöcker, einer Zwischenstation im Thalamus zwischen der Netzhaut und dem Kortex) unterschieden. So fanden sie beispielsweise Zellen, die - ähnlich wie die von Kuffler entdeckten Zentrum/ Peripherie-Ganglienzellen - als Gegenspieler organisiert wa ren, aber nicht die ringförmige Symmetrie der Netzhautzellen aufwiesen. Der optimale Reiz für diese Zellen waren unbewegte Linien und Balken in bestimmten Positionen und mit einer ziemlich präzisen Orientierung. Diese Zellen nannten sie »ein fach«. Außerdem entdeckten sie Zellen, die ebenso wie ein fache Zellen am besten auf Linien oder Kanten mit einer be stimmten Orientierung reagierten, aber im Gegensatz zu den einfachen Zellen nicht auf die Position der Linie innerhalb des rezeptiven Feldes. Hubel schrieb, dass sich das Verhalten 176
dieser Zellen »am einfachsten mit der Annahme erklären lässt, dass komplexe Zellen Inputs von vielen einfachen Zellen erhalten, deren rezeptive Felder alle die gleiche Orientierung haben, aber deren Position leicht voneinander abweicht«. Hu bel und Wiesel kamen zu dem Schluss, dass das Netzwerk der Zellen insgesamt hierarchisch organisiert ist, das heißt, dass die komplexen Zellen von den Netzwerken der einfachen Zel len angetrieben werden. Das war nur der Anfang. Zu den Höhepunkten der fast funfundzwanzigjährigen gemeinsamen Forschungsarbeit von Hubel und Wiesel kann man die Entdeckung zählen, dass komplexe Zellen besonders stark reagieren, wenn sich eine Linie über das rezeptive Feld bewegt, wobei die Feuerrate einiger Zellen bei einer bestimmten Bewegungsrichtung be sonders stark ansteigt. Ein anderer Höhepunkt war die Ent deckung von noch weiter spezialisierten »hyperkomplexen« Zellen, von denen behauptet wird, dass sie sowohl auf Orien tierungen als auch auf Bewegungsrichtungen reagieren. Hubel und Wiesel machten beachtliche Fortschritte bei der Beschreibung der »funktionalen Architektur« der Sehrinde. Sie fanden beispielsweise heraus, dass Zellsäulen mit ähnlich gearteten rezeptiven Feldern funktionale Einheiten bildeten. Außerdem entdeckten sie sogenannte Orientierungssäulen, die Hubel als »eine kleine Maschine, die sich um die Konturen einer bestimmten Orientierung in einem bestimmten Bereich des Gesichtsfeldes kümmert«, beschrieb. Des Weiteren erforschten sie die Entwicklung des Kortex, indem sie neugeborenen Katzen und Affen die Lider zunähten und ihnen so das Augenlicht nahmen. Hubel und Wiesel wie sen nach, dass der Entzug des Sehvermögens während dieser sensiblen Periode zu einem irreversiblen Mangel an Verbin dungen im Kortex führte und die Tiere dauerhaft erblindeten. Damit zeigten die Forscher, dass das Sehvermögen auf der Er fahrung beruht. Wenn den Tieren in einer kritischen Phase der Entwicklung das Sehen verwehrt blieb, konnten sie auch später nicht mehr sehen. 177
Christoph Kolumbus und das Gehirn Die Erkenntnisse von Hubel und Wiesel sind beeindruckende, unumstößliche Tatsachen, die für sich selbst sprechen. So sahen es anscheinend zumindest die beiden Forscher selbst. Hubel schrieb: »Unsere Arbeits- und Denkweise beruhte fast ausnahmslos nicht auf Hypothesen, zumindest nicht auf ex pliziten. Wir sahen unsere Forschungsarbeit hauptsächlich als Entdeckungsreise, und obwohl einige Experimente zur Beantwortung bestimmter Fragen dienten, führten wir den Großteil im Geiste Kolumbus’ durch, der auf gut Glück den Atlantik überquerte.« Und er fuhr fort: »Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, dass wir überhaupt keine Vor stellung davon hatten, welche Aufgaben die Kortexzellen im Alltagsleben von Mensch und Tier erfüllen könnten.« Was für eine sonderbare und bemerkenswerte Feststellung von Hubel! Christoph Kolumbus segelte nicht auf gut Glück über den Atlantik. Er hatte eine sehr genaue und - wie wir heute wissen - falsche Vorstellung davon, was er auf der an deren Seite vorfinden würde. Aber einmal ganz abgesehen von dem legendären Entdecker, können wir die Behauptung un möglich ernst nehmen, dass sich Hubel und Wiesel nicht von einer Theorie und deren Anforderungen leiten ließen. Wie könnte es denn auch anders sein? Schließlich gibt es Milliar den Zellen im Gehirn, die kreuz und quer miteinander ver bunden sind. Um sich einen Begriff davon zu machen, was die einzelnen Zellen zur Funktionsweise des Gehirns beitragen, braucht man vorher eine einigermaßen klare Vorstellung da von, wie das Gehirn überhaupt funktioniert. Und tatsächlich folgten Hubel und Wiesel einem solchen Leitprinzip. In dem 1995 veröffentlichten Buch Eye, Brain and Vision (dt: Auge und Gehirn. Neurobiologie des Sehens) schrieb Hubel über die Sehrinde: »Wir wissen ziemlich genau, was ihr >Zweck< ist, das heißt, was ihre Zellen im alltäglichen Leben eines Menschen die meiste Zeit über tun und welchen Beitrag sie zur Analyse visueller Information ungefähr leistet.« Er fügt hinzu: »Dieser 178
Kenntnisstand ist erst vor Kurzem erreicht worden, und ich erinnere mich noch genau, wie ich in den Fünfzigerjahren einen Objektträger mit einem Präparat der Sehrinde betrach tete - Millionen von Zellen, wie Eier in einer Schachtel zusam mengepackt - und mich fragte, was denn all diese Zellen wohl tun könnten und ob man je in der Lage sein würde, das herauszufinden.« Als sich Hubel und Wiesel 1958 auf ihre Entdeckungsreise begaben, wusste niemand, welche Rolle die Neuronen bei der Analyse visueller Information spielten. In diesem Sinne ist es wahr, dass man damals die Funktion der Sehrinde nicht kann te. Aber dass die Sehrinde an der Analyse visueller Informa tion (wie Hubel es ausdrückte) beteiligt war und daher ein zelne Neuronen irgendwie ihren Beitrag dazu leisten mussten, das wussten Hubel und Wiesel von dem Moment an, in dem sie die Segel setzten. Oder vielmehr nahmen sie es als gegeben an. Sehen wir uns noch einmal Hubels im letzten Abschnitt schon zitierte Bemerkung an - jetzt mit meiner Hervorhebung: »Die Strategie (...) schien auf der Hand zu liegen. Torsten und ich wollten Stephen Kufflers Erforschung des Gehirns weiter führen. Wir wollten Daten von den Zellen des Corpus geniculatum laterale und des Kortex aufzeichnen, rezeptive Felder mit kleinen Punkten kartografieren und die Weiterverarbeitung visueller Information untersuchen.« Mit ihrer Vorstellung vom Gehirn als Informationsverar beiter oder Prozessor standen sie nicht allein da: Ende der Fünfzigerjahre vertrat man unter Neurowissenschaftlern ge meinhin die Auffassung, dass das Sehen für das Gehirn eine Aufgabe der Informationsverarbeitung darstellt und dass man sich die Teile des Gehirns, die für das Sehen zuständig sind, als ein System von Netzwerken und Schaltkreisen oder - wie Hubel und Wiesel es manchmal ausdrückten - als Maschinen vorstellen kann, die die in einem Neuronensystem repräsen tierten »Informationen« in immer detailliertere und kom plexere Repräsentationen des Gesehenen »umwandelten«. Für Hubel und Wiesel bestand das visuelle System aus Zellen, und 179
diese wurden durch die Eigenschaften des rezeptiven Feldes faktisch zu Symbolen für Eigenschaften wie Kanten, Orientie rungen, Bewegungsrichtungen und Farben. Man nahm an, dass die Zellen spezialisiert sind, damit sie »stellvertretend« für Eigenschaften stehen und diese repräsentieren können. Die Übertragung der Informationstheorie auf das Gehirn war nicht neu, als Hubel und Wiesel mit ihrer Forschungsarbeit begannen. Rafael Lorente de Nó, ein Student von Santiago Ramón y Cajal, hatte bereits in den Dreißigerjahren die Bezie hungen der Neuronen untereinander als Netzwerk dargestellt und damit direkt die Arbeiten von Warren McCulloch, Walter Pitts und dadurch wiederum die von John von Neumann beeinflusst. (Der Neurowissenschaftler Walter Freeman be zeichnet Lorente de Nó gern als den geistigen Vater des Digi talcomputers.) Interessanterweise war Claude Shannon, einer der Begründer der Informationstheorie in der Mathematik, nicht davon überzeugt, dass das Gehirn Informationen ver arbeitet. Er ging davon aus, dass man für die Verarbeitung von Informationen einen Sender, einen Empfänger und einen ver einbarten Code braucht und nichts davon im Gehirn zu fin den ist. Doch konnte Shannons Skepsis den allgemeinen Enthusiasmus für den neuen Ansatz nicht dämpfen. Und so wurde Hubel und Wiesel fünfundzwanzig Jahre nach dem Be ginn ihrer Zusammenarbeit der Nobelpreis verliehen - »für ihre Entdeckungen über Informationsverarbeitung im Seh wahrnehmungssystem«. Hubel und Wiesel interessierten sich von Anfang an dafür, wie das Verhalten einzelner Zellen und deren Zusammen schluss zu größeren Gruppen die Informationsanalyse mög lich macht, auf der das Sehen beruht. Sie nahmen es als ge geben hin, dass das Sehen ein Prozess der Informationsanalyse ist. Es ist bemerkenswert, dass ihre bahnbrechenden Erkun dungen der Neurobiologie des Sehens auf einer erschreckend unbiologischen, technischen Vorstellung vom Sehen beruhen.
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Der Geist als Computer David Marrs Grundlagenwerk Vision (»Sehen«) erschien 1982, also ein Jahr nach Hubels und Wiesels Nobelpreis. Die theoretische Vorstellung vom Sehen, auf die Hubel und Wiesel sich implizit stützten, stellte Marr darin ganz expli zit dar. Marr erklärte, dass das Sehen ein Prozess der Infor mationsanalyse sei, der im Gehirn iere. Diese Auffassung hatten Hubel und Wiesel natürlich schon von Anfang an ver treten. Das Sehen ist ein Prozess, bei dem man mithilfe von Abbildern im Auge feststellt, was im Blickfeld iert. Das heißt, es ist ein Prozess, bei dem aus Informationen über die Beschaffenheit des Lichts, das auf die Rezeptoren des Auges fällt, eine Repräsentation gewonnen wird, aus der sich dann wiederum ableiten lässt, wo sich im Blickfeld was befin det. Wie wir festgestellt haben, war es Ende der Fünfzigerjahre bereits gang und gäbe, die Thesen der Informationstheorie zur Erklärung auf die Vorgänge im Gehirn zu übertragen. Schon im 19. Jahrhundert verstand Helmholtz die Wahrneh mung als »Inferenz«: Das Gehirn stellt Hypothesen darüber auf, welche Ereignisse in der Welt unsere Eindrücke hervorrufen, und überprüft sie. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, war dies in den letzten hundert Jahren tatsächlich ein Leitprinzip für die Erforschung des Sehens. Neu an Marrs Arbeit - und das hat er Hubel und Wiesel voraus - waren seine theoretische Ausrichtung und seine be griffliche Klarheit. Marr schrieb: »Wenn man das Sehen ver stehen will, indem man nur die Neuronen untersucht, ist das so, als wolle man den Flug der Vögel verstehen, indem man nur die Federn untersucht. Es ist einfach nicht möglich.« Wir brauchen eine theoretische Vorstellung davon, was die Neu ronen (oder Federn) tun, damit wir überhaupt entscheiden können, welche Fakten relevant sind. Das bedeutet, dass wir die Funktionsweise des Systems auf eine abstraktere Weise be schreiben müssen. Und zwar nicht deshalb, weil das Sehen 181
etwas Besonderes ist, sondern weil es schwierig ist, einen Me chanismus der Informationsverarbeitung zu erklären. Verdeutlichen wir das an einem einfachen Beispiel. Wir können nicht verstehen, wie eine Kasse funktioniert, wenn wir ihren Zweck nicht kennen, nämlich, Zahlen zu addieren, um den ausstehenden Betrag zu ermitteln. Wenn wir die Aufgabe dieser Maschine verstanden haben, dann können wir berech tigterweise fragen: Wie macht sie das? Und dann müssen wir herausfinden, wie diese Maschine - oder irgendeine Maschine aufgebaut sein muss, um Zahlen addieren zu können. Es gibt dafür viele verschiedene Vorgehensweisen oder Re zepte - die Mathematiker nennen sie Algorithmen. Wenn wir einen Algorithmus auswählen, wählen wir damit faktisch eine Art aus, das Problem darzustellen und es zu lösen. So sind wir beispielsweise alle vertraut mit den Algorithmen der Addi tion von Zahlen mithilfe von Stift, Papier und dem arabischen Notationssystem. Wir müssen die Addition nicht bis ins Letzte verstanden haben, um Zahlen zusammenzählen zu können. Es gibt unterschiedliche Additionsalgorithmen, und wir wür den anders Vorgehen, wenn wir Zahlen in römischer Schreib weise oder Binärschreibweise notieren. Auch gibt es viele ver schiedene physikalische Mechanismen für das Addieren: Man kann Papier und Stift, einen Abakus, eine mechanische Kasse oder einen Computer verwenden. Um die Funktionsweise einer bestimmten Maschine zu erklären, müssen wir drei Fragen verstehen und beantworten: Erstens, welche Funktion führt die Maschine aus? Zweitens, welche Algorithmen oder Regeln werden dafür eingesetzt? Drittens, wie werden diese Algorithmen im Mechanismus physikalisch umgesetzt? Das Schöne an diesem Ansatz ist, dass wir damit einen in formationsverarbeitenden Mechanismus selbst dann unter suchen können, wenn wir seine Physik, Elektronik oder Phy siologie noch nicht ganz verstehen. Wenn das Sehen also der Prozess ist, bei dem eine Repräsentation einer Szene anhand von Informationen über die Wellenlänge oder der Intensität von Lichtpunkten, die auf das Auge fallen, aufgebaut wird. 182
dann können wir nun untersuchen, welchen Regeln diese Analyse visueller Information folgt, ohne viel über das Verhal ten der Zellen im Auge und ihre Vernetzung zu wissen. Wenn wir geistige Vorgänge, insbesondere den des Sehens, als Pro zesse der Informationsverarbeitung verstehen, dann können wir sowohl anerkennen, dass diese Prozesse in einem physi kalischen Medium (im Gehirn, in einem Computer oder wo auch immer) ausgeführt werden, als auch, dass die Prozesse selbst an sich nicht physikalisch, sondern informationstheo retischer oder rechnerischer Natur sind. Und hier stoßen wir wieder auf die Ironie, dass die Neuro physiologie das Sehen nur untersuchen kann, indem sie das Sehen an und für sich nicht als biologischen, sondern als rechnerischen Prozess einstuft, der beim Menschen nun ein mal im Gehirn stattfindet. Dass wir nur durch das Walten unseres feuchten, klebrigen, fleischlappigen Gehirns sehen können, macht das Sehen ebenso wenig zu einer intrinsisch neuronalen Aktivität wie das Schachspiel. Um verstehen zu können, wie das Gehirn Schach spielt, müssen wir zunächst das Schachspiel und dessen verschiedene Fragestellungen ver stehen. Und entscheidend ist, dass wir dazu nicht einmal be greifen müssen, wie das Gehirn oder die Elektronik von Com putern funktioniert. Schach wird zwar nur von Systemen (Menschen und Maschinen) gespielt, die aus Atomen und Elek tronen bestehen. Aber auf dieser Ebene können wir Schach nicht verstehen - und das Gleiche gilt für das Sehen. Wenn wir uns auf dieses Bild vom Gehirn als Informationsverarbei ter oder Prozessor einlassen, dann können wir das Sehen nur als einen Prozess begreifen, der ebenso gut auch auf einem Computer ablaufen könnte.
Ist das Gehirn wirklich ein Prozessor? Marr, Hubel und Wiesel halten das visuelle System - also die Teile des Gehirns, die der Sehwahrnehmung Vorbehalten sind 183
für einen Informationsverarbeiter: Es gewinnt aus dem Netz hautbild Informationen über die Umwelt und konstruiert auf diese Weise eine innere Repräsentation dieser Umwelt. Wenn das Gehirn beispielsweise an manchen Stellen deut liche Brüche in der Lichtintensität feststellt, ordnet es sie bei der inneren Repräsentation dieser Szene als »Kanten« ein. Und genauso funktioniert das Sehen: Es ist ein Prozess, bei dem das Gehirn Lichtmuster von der Netzhaut abnimmt und sie in eine Repräsentation dessen umwandelt, was sich in der Szene vor den Augen befindet. Die Sicht auf das Gehirn und das Sehen als ein Instrument und ein Prozess der Informationsverarbeitung ist in der Wis senschaft seit fast einem Jahrhundert fest verwurzelt. Wir können das Radio an jedem beliebigen Wochentag anstellen und hören, wie ein Journalist - als sei es das Natürlichste der Welt - emotionslos verkündet, dass die Sprache in der linken Gehirnhälfte »verarbeitet« werde oder der Neokortex höhere kognitive Funktionen berechne. Und es erstaunt uns nicht im Geringsten, dass Marr, Hubel, Wiesel und andere das Sehen für einen neuronalen Prozess halten, bei dem das visuelle Sys tem Informationen aus dem Netzhautbild gewinnt. Aber ist das Gehirn wirklich ein Prozessor? Es gibt einen ganz offensichtlichen Grund, diese Schlussfolgerung zu hin terfragen. Betrachten wir einmal folgenden Fall: Wir wissen, was es bedeutet, wenn beispielsweise ein Detektiv von einem Fußabdruck Informationen über einen Einbrecher gewinnt oder wenn ein Meereskundler Informationen über das urzeitliche Klima sammelt, indem er am Meeresgrund Fossilien ein zelliger Organismen ausgräbt. Diese Beispiele illustrieren, wie wir von einem Gegenstand Informationen über einen ande ren »gewinnen« können. Dass der Fußabdruck und die Fossi lien Informationen über den Einbrecher beziehungsweise das Klima enthalten, liegt daran, dass es zwischen den Merkmalen des Einbrechers und den Eigenschaften des Fußabdrucks - be ziehungsweise zwischen dem Klima vor Millionen Jahren und der chemischen Zusammensetzung der urzeitlichen Foramini 184
feren - einen bestimmten kausalen Zusammenhang gibt. Und Detektive und Meereskundler können diese Informationen ge winnen, weil sie wissen, wie das, was sie jetzt sehen können (Fußabdruck oder Fossilien), durch das geformt wurde, wo nach sie suchen. Beim Gehirn und dem Netzhautbild verhält es sich jedoch anders. Zweifelsohne ist das Netzhautbild reich an Informa tionen über die Szene vor den Augen. Schließlich gibt es ver lässliche und wohlbekannte Mechanismen, die von A nach B führen. Ein fähiger Wissenschaftler wird also wohl in der Lage sein, diese Informationen zu gewinnen. Aber das Gehirn ist kein Wissenschaftler oder Detektiv, es weiß nichts und hat keine Augen, um das Netzhautbild zu untersuchen. Es ist nicht in der Lage, überhaupt irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen und erst recht nicht Rückschlüsse auf die entfernten, umweltbedingten Ursachen für den beobachtbaren Zustand der Netzhaut. Was sollen wir dann mit der Vorstellung an fangen, dass das Gehirn ein Prozessor ist? Diese Vorstellung vom »Geist als Computer« kann leicht ins Leere führen. Wir wollen die biologische Grundlage des Geis tes entschlüsseln. Das wird aber kaum funktionieren, wenn wir annehmen, dass unsere eigenen geistigen Fähigkeiten nur unter Bezugnahme auf die kognitiven Kräfte des Gehirns er klärt werden können. Wir - also erwachsene Menschen und andere Lebewesen - denken; wir sehen, wir fühlen, wir ur teilen, wir treffen Schlussfolgerungen. Es ist einfach nur ein Zirkelschluss, wenn wir behaupten, dass wir unsere wunder baren geistigen Fähigkeiten allein dadurch erklären können, dass unsere Gehirne wie schlaue Wissenschaftler dazu in der Lage sind, die entfernten Ursachen des Netzhautbildes zu ent schlüsseln. Denn damit nehmen wir die Natur der mentalen Fähigkeiten einfach als gegeben hin, ohne sie zu erklären. Können wir der Kognitionswissenschaft daher vorwerfen, dass sie so argumentiert, als ob bewusste Handlungsträger (Ho munculi) in unserem Inneren am Werk wären?
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Das Gehirn als Computer Sie glauben vielleicht, dass die Existenz von Digitalcomputern - damit meine ich die allgegenwärtigen Verbrauchergeräte ein Beweis dafür ist, dass ein bloßer Mechanismus wie das Gehirn Informationen verarbeiten kann. Schließlich führen Computer Berechnungen durch, sie erzeugen dreidimensio nale Modelle aus Strichzeichnungen, korrigieren die Recht schreibung und spielen Schach, und wie wir wissen, können sie das ohne Zauberei oder die Hilfe kleiner Männchen im In neren. Ist das nicht Grund genug für den Gedanken, dass Ge hirne organische Computer sind? Wie rätselhaft die Vorstel lung auch sein mag, dass das Gehirn ein schlussfolgernder, denkender Prozessor ist, so scheint sie doch gar nicht mehr so seltsam, wenn wir bedenken, dass sogar viel einfachere, vom Menschen geschaffene Artefakte wie Computer solche Denk leistungen vollbringen können. Manche Probleme lassen sich rein mechanisch lösen. Wenn wir wissen wollen, wie viele Personen sich in einem Raum befinden, können wir sie zählen. Um zum richtigen Ergebnis zu kommen, müssen wir lediglich immer wieder Eins da zuzählen. Auch die schriftliche Division müssen wir nicht verstanden haben, um Aufgaben durch schriftliche Division lösen zu können, sondern wir müssen einfach nur sorgfältig vorgehen. Den Lösungsweg haben wir in der Schule gelernt: Wir müssen dafür schreiben können, das arabische Notations system und die Grundrechenarten beherrschen. Auch ein Dummkopf kann das mit der entsprechenden Sorgfalt be werkstelligen. Eine Maschine kann es auch. Wir müssen ja auch kein Gourmetkoch sein, um Gourmetrezepte nachzukochen, und wir müssen die unzähligen Kombinations- und Permuta tionsmöglichkeiten eines Zauberwürfels nicht erfassen, um die Tricks zu lernen, mit denen der Würfel blitzschnell zu »lösen« ist. Ein Algorithmus ist ein Rezept oder ein Verfahren der Pro blemlösung. Er ist gewissermaßen ein Programm, mit dem 186
man (ein Kind, ein Dummkopf, eine Maschine) in einer end lichen Anzahl von Schritten zu dem gewünschten Schluss ge langen kann. Manche Probleme lassen sich mit Algorithmen lösen, andere hingegen nicht. Es gibt kein allgemeingültiges Verfahren, mit dem man feststellen könnte, ob ein bestimmtes Rätsel oder Problem durch rein »mechanische«, formale Methoden »entscheidbar« ist (wie die Mathematiker sagen). Man hat jedoch gezeigt, dass jedes Problem, das mechanisch (oder »effektiv«) entscheidbar ist, von jedem formalen System berechnet werden kann. Die heutigen Digitalcomputer sind ein Beispiel für die physika lische Umsetzung eines solchen formalen Systems. Aber es wäre falsch zu glauben, dass diese Erkenntnisse in der Mathematik der Berechenbarkeit oder die Errungenschaf ten der technischen Informatik beweisen, dass auch unsere Gehirne eigentlich Computer sind. Denn diese Behauptung beruht auf einem Fehler. Kein Computer führt tatsächlich eine Berechnung durch, nicht einmal eine einfache. Natürlich können wir eine Aufgabe lösen, indem wir uns blind und ohne Verstand an einen vorgegebenen Lösungsweg halten. Doch eine Regel blind zu befolgen heißt noch lange nicht, dass man eine Fragestellung oder einen Rechenprozess tatsächlich versteht. Wenn wir an unsere Schulzeit zurückdenken, merken wir, dass es einen himmelweiten Unterschied dazwischen gibt, ob man einen Lösungsweg wirklich verstanden hat oder ob man nur deshalb eine gute Note bekommt, weil man ihn auswen dig gelernt hat. Computer können wohl eine Antwort generie ren, aber nur, indem sie stur Regeln befolgen, und nicht, weil sie die Aufgabenstellung verstanden hätten. Eigentlich befolgen Computer nicht einmal stur die Regeln oder einen Lösungsweg. Ebenso wenig, wie eine Armbanduhr weiß, wie spät es ist, obwohl wir von ihr die Uhrzeit ablesen, versteht ein Computer die Rechenvorgänge, die wir mit ihm ausführen. Wir denken mit Computern, aber Computer selbst denken nicht: Sie sind Werkzeuge. Wenn Computer Informa tionsverarbeiter sind, dann auf die gleiche Art wie Armband 187
uhren. Und damit können wir die menschliche Kognition nicht erklären.
Der Geist sitzt nicht im Kopf Nun gäbe aber doch die Tatsache, dass Computer nicht den ken, einen guten Grund für die Annahme, dass Gehirne eben falls nicht denken - eben weil sie Computer sind. Der Philosoph John Searle, mein Kollege an der Universität Berkeley, hat die sen Gedanken überzeugend präsentiert. Searle behauptet, dass Bewusstsein und Kognition aus der intrinsischen Natur der neuronalen Aktivität selbst entstehen. Sie werden »durch das menschliche Gehirn verursacht und in ihm vollführt«. Computer lösen Probleme und repräsentieren die Welt nur derivativ, also weil wir sie so behandeln, als ob sie es täten. Aber die Kräfte des Gehirns sind keine Derivate oder Ableitun gen, sondern entstammen dem Gehirn selbst. Das Gehirn denkt und repräsentiert. Doch ist das genau der falsche Schluss aus der Erkenntnis, dass Gehirne nicht denken, indem sie rechnen. Das tun sie tatsächlich nicht. Aber nicht etwa deshalb, weil sie auf andere Art denken. Gehirne denken überhaupt nicht. Die Vorstel lung, dass das Gehirn die Welt eigenständig repräsentieren könnte, ist ebenso wenig plausibel wie die Vorstellung, dass reine Schriftzeichen eigenständig (das heißt unabhängig von einer umfassenderen gesellschaftlichen Lese- und Schreib praxis) eine Bedeutung haben könnten. Die Welt zeigt sich uns dank unserer Wechselwirkung mit ihr. Die Welt wird nicht im Gehirn oder durch das Gehirn geschaffen. Sie ist für uns da, und wir haben Zugang zu ihr. Die Ausrichtung mei ner Gedanken auf eine Aufgabe (wie das Schachspiel) oder einen Gegenstand (wie ein Glas Wasser) liegt nicht in der in trinsischen Natur einer Rechenleistung in meinem Inneren, ln diesem Punkt stimme ich mit Searle überein. Sie liegt viel mehr darin, dass meine Gedanken durch meine Auseinander188
Setzung mit der Welt einen Inhalt erhalten. Auf keinen Fall reicht meine innere Beschaffenheit aus, um meinen geistigen Zuständen eine Bedeutung und einen Bezug zu verleihen. Be deutung ist nicht intrinsisch, wie der Philosoph Daniel Den nett ganz richtig argumentiert hat, sie ist nicht intern. Be deutung ist bezugsabhängig. Und der Bezug selbst, durch den unsere Gedanken, Vorstellungen und Bilder sich auf Ereig nisse, Menschen und Probleme der Welt richten, besteht in der Tatsache, dass wir in unsere Umwelt eingebettet sind und in einem dynamischen Wechselspiel mit ihr stehen. Die Welt ist unsere Grundlage; die Welt sorgt für Bedeutung. Das Bild vom »Geist als Computer« hat wie jede Vorstellung vom Geist, die sich auf die inneren Zustände eines Indivi duums beschränkt, gewisse Grenzen. Die Kognitionswissen schaft wollte auf der Grundlage der Annahme, dass das Ge hirn eine Art Computer ist, das Gehirn als denkendes Subjekt erklären. Aber nun stellt sich heraus, dass Computer nicht denken (oder sehen oder Schach spielen) können, und aus genau demselben Grund können es Gehirne auch nicht. Die zentrale These dieses Buches lautet, dass das Gehirn keine eigenständige Quelle der Erfahrung oder Kognition ist. Erfah rung und Kognition sind keine Nebenprodukte des Körpers. Die Zustände von Lebewesen erhalten ihre Bedeutung durch die dynamische Interaktion der Lebewesen mit ihrer Umwelt.
Das Leib-Seele-Problem bei Robotern Der im zweiten Kapitel kurz besprochene Film Blade Runner verdeutlicht, was unbestreitbar zu sein scheint: Es gibt keinen prinzipiellen Grund, den aufständischen Arbeitssklaven den Respekt und die Rücksichtnahme zu verweigern, die wir un seren Mitmenschen zugestehen. Die Vorgänge im Inneren der Replikanten liefern uns dafür sicherlich keine Rechtferti gung. Ja, die Replikanten wurden erschaffen. Aber in gewisser Hinsicht wurden wir das auch. Und ja, sie sind nicht wirklich 189
unabhängig. Aber das sind wir auch nicht. Bis weit in das Erwachsenenalter hinein brauchen wir unsere Eltern, unsere Familie, unsere Freunde und die Gesellschaft, um zu über leben. Natürlich haben die Replikanten keine organischen Inne reien, sie sind nicht aus demselben Holz geschnitzt wie wir. Aber genau darum geht es: Es gibt keinen notwendigen Zu sammenhang zwischen dem, was wir sind, und dem, woraus wir bestehen. Auf solch einen Zusammenhang zu beharren wäre ein reines Vorurteil. Natürlich gibt es jede Menge praktischer Gründe für die Annahme, dass man ein Gehirn haben muss wie das unsere, um einen Geist zu haben wie den unseren. Eine Technik, die als Träger für künstliche Intelligenz dienen könnte, ist noch Zukunftsmusik. Doch verstehen wir die Funktionsweise von uns Menschen nicht so gut, dass wir heute noch vor einer Be trachtung des Einzelfalls schon sagen könnten, ob wir eines Tag in der Lage sein werden, verschiedene Arten von Intelli genz zu entdecken oder gar zu erschaffen. Aus dieser Argumentation ergibt sich ein interessantes Ergebnis: Selbst wenn Searle recht damit hat, dass Computer nicht denken, und daher Gehirne - eben weil sie Computer sind - auch nicht denken, so bleibt es doch eine ungeklärte empirische Frage, ob wir einen bewussten Roboter mit einem Computergehirn bauen könnten. Und deshalb bleibt es auch eine offene Frage, ob unser Gehirn in gewisser Hinsicht ein Computer ist.
Risse im Fundament Vielleicht hatten Marr, Hubel und Wiesel recht mit der Be hauptung, dass wir Einsichten in die Funktionsweise des Ge hirns gewinnen können, wenn wir es uns als Informations verarbeiter vorstellen. Denn es ist ja durchaus sinnvoll, mit einem funktionalen Ansatz an das Gehirn heranzugehen und zu fragen: Welche Probleme löst das Gehirn? Was tut es? Me 190
thodisch ist es durchaus angemessen, das Sehen und andere mentale Fähigkeiten als Fähigkeiten zur Informationsverarbei tung zu verstehen. Doch scheinen die Verfechter dieser Theo rie gänzlich übersehen zu haben, dass aus dieser metho dischen Entscheidung noch nicht notwendigerweise folgt, dass die Informationsverarbeitung im Gehirn stattfindet. Man muss dafür auch nicht annehmen, dass das Sehen ein Prozess ist, der sich zwischen dem Augapfel und dem Hinterkopf abspielt. Und genau durch diese Annahme - dass die Grundlagen für das Verständnis des Sehens, wie immer man es auch beschrei ben mag, im Inneren des Gehirns zu finden sind - ist der An satz zum Scheitern verurteilt. Neuronale Aktivität kann nie mals gleichbedeutend mit Bewusstsein sein, nicht einmal, wenn wir diese neuronale Aktivität mit Begriffen aus der Informatik umschreiben. Hubels und Wiesels Sicht auf das Sehen beruht auf der Vor stellung, dass das Gehirn sieht, indem es bestimmte Signale oder Symbole verarbeitet. Das Gehirn sieht, indem es ein in neres Abbild konstruiert. Aber das Gehirn kann nicht sehen, und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass das Sehen im Gehirn geschieht. Und wozu taugen Symbole, wenn keiner da ist, der sie interpretieren kann? Während einige Wissenschaftler unbedacht waren und lautstark die Existenz von »Großmutterneuronen« verkün deten, also von Neuronen, die nur auf einen einzigen Reiz wie das Gesicht der Großmutter reagieren, gingen Hubel und Wiesel viel vorsichtiger zu Werke. Sie zögerten sogar, ihre linien- und orientierungsselektiven Zellen als Kanten- oder Orientierungsdetektoren zu bezeichnen, obwohl sie sie wohl genau dafür hielten. Lesen wir einmal dieses widersprüch liche Zitat aus Hubels Nobelpreisvorlesung: »Orientierungsspezifische einfache oder komplexe Zellen ›ermitteln‹ die Richtung eines kurzen Linien abschnitts. Daher sollte man diese Zellen lieber nicht als ›Liniendetektoren‹ bezeichnen; sie sind ebenso wenig 191
Liniendetektoren, wie sie Kurvendetektoren sind. Wenn unsere Wahrnehmung einer bestimmten Linie oder Kurve von einfachen oder komplexen Zellen abhängt, hängt sie wahrscheinlich von einer ganzen Gruppe dieser Zel len ab, und wie die Informationen aus solchen Zellgrup pen in den darauffolgenden Stationen zusammengefugt werden, um daraus die sogenannten Perzepte von Linien oder Kurven zu erzeugen (wenn überhaupt so etwas ge schieht), ist immer noch ein absolutes Rätsel.« In diesem bemerkenswerten Abschnitt drückt Hubel eine tie fe und meiner Meinung nach berechtigte Sorge über den the oretischen Bezugsrahmen aus, auf dem ihre preisgekrönte Forschungsarbeit ruht und innerhalb dessen sie zu verstehen ist. Wenn das visuelle System kein von Hubel so bezeichnetes »Perzept« auf der Grundlage der von den beiden Forschern be schriebenen Informationsverarbeitung bildet, dann wird fol gende Frage gestattet sein: Warum ist es für das Verständnis des Sehens überhaupt relevant, dass es »spezialisierte« Zellen im Kortex gibt, die in der von Hubel und Wiesel entdeckten Weise auf bestimmte Reize reagieren? Wenn man davon aus geht, dass die Sehrinde eine Repräsentation der gesehenen Szene auf der Grundlage der Informationen in der Netzhaut erzeugt, dann scheint die Existenz reizselektiver Zellen ja durchaus ein Beweis dafür zu sein, dass hier Rechenprozesse ablaufen. Wenn es jedoch - wie Hubel eingesteht - ein »abso lutes Rätsel« ist, wie und ob das Gehirn diese Rechenleistung durchführt, dann gibt es wohl keinen Grund für die Annahme, dass Hubels und Wiesels Entdeckungen uns irgendetwas über die neuronale Grundlage des Sehens sagen. Das ist eine harsche, jedoch kaum zu vermeidende Schluss folgerung. Die ganze Vorstellung, dass Signale von den Rezep toren zu den Ganglienzellen in der Netzhaut, weiter zu den Geniculatum-Zellen und dann zu einfachen, komplexen und hyperkomplexen Zellen übertragen werden, die schließlich die visuelle Wahrnehmung der Welt auslösen, kann und sollte 192
hinterfragt werden. Wie in einem früheren Kapitel erörtert, wissen wir mittlerweile, dass es mehr Verbindungen von »hö heren« visuellen Arealen zu niedrigen visuellen Arealen gibt als umgekehrt. Das heißt, es gibt eine Rückkopplung. Welche Vorgänge also auch immer hier stattfinden, es ist jedenfalls nicht der einfache hierarchische Prozess, den Hubel und Wie sel sich vorstellen. Heute wissen wir, dass das Verhalten der Zellen im Kortex variiert, je nachdem, was ein Lebewesen macht oder worauf es sich konzentriert. Die Veränderung im Verhalten der Zellen in Abhängigkeit von der Aktivität des Lebewesens haben Hu bel und Wiesel bei ihren Experimenten nicht berücksichtigt, und das konnten sie auch nicht, denn sie untersuchten Tiere, die mit keiner Aufgabe beschäftigt waren: Sie waren bewusst los. Das heißt, sie waren betäubt, gelähmt und wurden künst lich beatmet. Ihre Augen wurden Reizen ausgesetzt, indem man die Augenlider zurückzog und mit Klammern befestigte. Mit Kontaktlinsen hielt man die Augen feucht und sauber. Ein solcher Versuchsaufbau zur Erforschung des Sehens lässt sich nur durch die Annahme rechtfertigen, dass das Sehen ein Vor gang ist, der iv im Gehirn stattfindet. Doch haben wir allen Grund, diese Annahme infrage zu stellen. Wie bereits er örtert, haben wir keine Ahnung, wie visuelle Erfahrungen durch neuronale Aktivität ausgelöst werden oder werden könnten. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass die Lebe wesen ihr Sehvermögen nicht deshalb herausgebildet haben, damit sie die Welt im Kopf repräsentieren können, sondern damit sie sich aktiv am Leben beteiligen können - indem sie beispielsweise eine Beute verfolgen, sich paaren oder Raub tieren und anderen Gefahren ausweichen.
FAZIT: Der Geist ist nicht die Software des Gehirns Computer können ebenso wenig eigenständig denken, wie ein Hammer eigenständig einen Nagel einschlagen kann. Ein Ge193
hirn ist ein Werkzeug, das wir zum Denken benutzen. Des halb können wir nicht erklären, wie Gehirne denken, indem wir sie mit Computern vergleichen. Gehirne denken nicht, denn sie haben keinen Geist, Mensch und Tier hingegen schon. Wenn wir den Beitrag des Gehirns zu geistigen Vor gängen verstehen wollen, müssen wir uns ein für alle Mal von der Vorstellung trennen, dass unser Geist in unserem Inneren und durch innere Vorgänge erzeugt wird. Und wenn wir uns das vergegenwärtigt haben, müssen wir selbst den Aussage gehalt von Forschungsarbeiten überdenken, die mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Das mag eine beunruhi gende Konsequenz sein, aber wir müssen wohl oder übel mit ihr leben, wenn wir ein wahrhaft biologisches Verständnis unseres Selbst anstreben.
8 EIN NICHTS, DAS FÜR ALLES RESERVIERT IST Manchmal werde ich in die höhere Wachsamkeit hin eingeschockt, ich biege um eine Ecke, sehe den Ozean, und mein Herz läuft über vor Glück - es fühlt sich so frei! Dann habe ich die Vorstellung, daß ich nicht nur erschaue, sondern auch von drüben erschaut werden kann und daß ich kein gesondertes Objekt bin, son dern einverleibt in das übrige, in den allumfassenden Saphir, von rötlichem Blau. Denn was tut dies Meer, diese Atmosphäre in dem 25 Zentimeter großen Durchmesser deines Kopfes? (Ich sage nichts von der Sonne und der Milchstraße, die auch darin sind.) Im Zentrum des Beschauers muß Raum für das Ganze sein, und dieser Nichts-Raum ist nicht ein leeres Nichts, sondern ein Nichts, das für alles reser viert ist. Saul Bellow, Humboldts Vermächtnis
Das Bewusstsein findet nicht in unserem Gehirn statt, es ist kein Produkt des Gehirns. Es gibt mit Sicherheit keine so liden, empirischen Beweise für die Vorstellung, dass das Gehirn allein ausreichend für Bewusstsein ist. Aber gibt es vielleicht einen allgemeineren Grund für die von zahlreichen Neurowissenschaftlern vertretene Annahme, dass ein Gehirn allein doch hinreichend für menschliches Bewusstsein ist? Dieser Frage wende ich mich nun zu.
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Das Grundlagenargument 1996 schrieb Francis Crick, der damals noch am Salle Institute arbeitete, dass »es nicht ausgeschlossen ist, dass wir mit ein bisschen Glück noch vor dem Ende des Jahrhunderts einen Lösungsansatz [für das wissenschaftliche Problem des Be wusstseins) zu sehen bekommen«. Dabei dachte er natürlich an das vergangene Jahrhundert. Eines der Hauptanliegen die ses Buches ist es, dass wir uns auf ewig in den verschiedens ten Theorien über das Bewusstsein verlieren werden, wenn wir die von der Neurowissenschaft als gegeben angenomme nen Hypothesen über die Natur des Bewusstseins nicht hin terfragen. Darauf möchte ich nun etwas ausführlicher eingehen. Stellen wir uns also einmal folgende Frage: Gibt es irgend einen ernsthaften Grund für die Vorstellung, dass das Gehirn allein unser Bewusstsein erzeugt? Man kann dieses Dogma als das cartesianische Erbe der etablierten Neurowissenschaft verstehen. Zwar hat Descartes nicht geglaubt, dass das Gehirn das denkende Ding (die Res cogitans) in unserem Inneren ist, das gewissermaßen unser Selbst ausmacht. Aber aus der Sicht, die ich in diesem Buch entwickele, ist das lediglich eine tech nische Feinheit. Die etablierte Neurowissenschaft ist der cartesianischen Doktrin verpflichtet, der zufolge es in unserem Inneren ein Ding gibt, das da denkt und fühlt. Sie bricht mit Descartes, wenn sie annimmt, dass dieses denkende Ding das Gehirn ist. Spricht irgendetwas für die Annahme, dass das Gehirn allein unser Bewusstsein hervorruft oder dass das Bewusst sein (das Denken, das Fühlen, die Wahrnehmung) in unserem Inneren, in unserem Gehirn entsteht? Wir verbringen unser gesamtes Leben als verkörperte, in einer Umwelt verortete und mit dieser Umwelt interagierende Wesen. Wie könnten wir da ernsthaft annehmen, dass das Bewusstsein nur von den Vorgängen im Gehirn abhängt? Für Science-Fiction mag das ja noch ausreichend sein, aber warum sollten wir zulassen. 196
dass diese Vorstellung den Bezugsrahmen dafür bildet, wie wir uns selbst sehen? Dieses Problem wird noch deutlicher, wenn wir uns ver gegenwärtigen, dass sich unser Gehirn ebenso wie unser Herz und unsere Hände in einer bestimmten Umweltsituation und einem bestimmten Selektionsdruck entsprechend heraus gebildet hat. Eigentlich folgt unsere individuelle Entwicklung im Mutterleib und nach der Geburt Umwelt- und Evolutions zwängen. Und wieder können wir uns fragen : Wie kommen wir überhaupt auf die Idee, dass das Gehirn allein ausrei chend für unsere Bewusstseinsaktivitäten ist? Meine Position ist einfach: Die cartesianische Neurowissenschaft verfügt über keine empirischen Beweise für ihre Grund these, dass die bewusste Erfahrung ein gänzlich neuronales Phänomen ist. Also müssen wir an anderer Stelle nach den Grundlagen dieser nicht hinterfragten Annahme suchen. Wir werden merken, dass die Wissenschaftler sich unter Druck meistens auf etwas zurückziehen, was eigentlich ein traditio nelles philosophisches Argument ist. Und das sieht so aus: Die Tatsache, dass wir träumen und dass wir Vorgänge im Be wusstsein erzeugen können, indem wir das Gehirn direkt stimulieren, beweist, dass das Gehirn allein für ein Bewusst sein ausreicht. Nennen wir das einmal das Grundlagenargu ment. Es ist einfach und kann sehr überzeugend wirken. In diesem Kapitel werde ich erklären, warum dieses Argument nicht funktioniert.
Schwache Grundlagen Dem Grundlagenargument zufolge zeigt die Tatsache, dass wir durch die direkte Stimulation des Gehirns Erfahrungen erzeugen können, dass das Gehirn unabhängig von einem größeren Kontext agiert und Grundlage der Erfahrung ist. Doch das ist vollkommen unbefriedigend. Erstens ist es ein fach nicht wahr, dass wir verstanden hätten, wie man durch 197
direkte Stimulation des Gehirns Erfahrungen hervorruft. Ja, wir können bestimmte Ereignisse im Bewusstsein auf diese Weise erzeugen. Wenn wir beispielsweise Elektroden an der richtigen Stelle im Gehirn einer Person anbringen, die bei Be wusstsein ist, können wir Lichtempfindungen (sogenannte Phosphene) auslösen. Und wenn wir bereits eine visuelle Wahrnehmung haben, kann ein an der richtigen Stelle aus geübter magnetischer Impuls (die sogenannte transkranielle Magnetstimulation) die Beschaffenheit des Sehens ändern. So kann etwa die Illusion einer Bewegung erzeugt werden, in dem man Zellen im Gyrus temporalis médius, dem sogenann ten GMT, stimuliert. Aber aus der Tatsache, dass wir eine be stimmte Erfahrung durch eine direkte Manipulation des Ge hirns erzeugen können, folgt nicht, dass sich alle bewussten Erfahrungen derart hervorrufen lassen. Etwas anderes zu be haupten wäre schlichtweg falsch. Nehmen wir zum Zweiten einmal an, wir könnten mit einer Technik, die heute noch nicht erfunden und noch nicht einmal vorstellbar ist, komplexe Halluzinationen erzeugen, die all unseren normalen Sinneswahrnehmungen entsprechen. Auch das würde nicht beweisen, dass das Gehirn allein für diese halluzinatorischen Erlebnisse ausreicht, geschweige denn für das Bewusstsein. Bestenfalls würde es beweisen, dass das Gehirn zusammengenommen mit den Eingriffen des Wis senschaftlers ausreicht, um halluzinatorische Ereignisse im Bewusstsein zu erzeugen. Bei diesem Szenario hätten wir es also mit einem aus dem Gehirn und dem Wissenschaftler be stehenden System zu tun, das in der Lage ist, eine Art Bewusst sein zu erzeugen. Wir stellen uns dabei jedoch nicht vor, dass es ein Bewusstsein ähnlich dem unseren geben könnte, das allein aufgrund der neuronalen Aktivität des Gehirns entsteht. Und drittens lässt sich anmerken, dass wir, wenn wir be wusste Episoden durch direkte Manipulation des Gehirns her vorrufen, damit eigentlich nur einen bereits existierenden Be wusstseinszustand modulieren. Wir beeinflussen die bereits ablaufenden geistigen Vorgänge einer Person, deren Gehirn 198
wir manipulieren. Indem wir auf diese Art eingreifen, modi fizieren wir das Bewusstsein, erzeugen es jedoch nicht aus dem Nichts. Aus diesen Erwägungen kann man also höchs tens folgern, dass sich durch eine direkte Einwirkung auf das Gehirn das Bewusstsein verändern lässt. Man kann daraus aber nicht schließen, dass das Bewusstsein selbst nur von Hirnvorgängen abhängt.
Der Teufel steckt im Detail Die Verfechter des Grundlagenarguments bestehen darauf, dass man die Auswirkungen im Bewusstsein, die normaler weise durch das Einwirken der Welt auf das Gehirn entstehen, zumindest prinzipiell auch im Labor erzeugen könnte. Die Welt und unsere Wechselbeziehung mit ihr werden dabei ver nachlässigt. Wir können das Bewusstsein bestimmen, indem wir die Zustände des Gehirns bestimmen. Ich vermute, dass dieses Argument unter anderem deshalb so überzeugend scheint, weil es nicht zu Ende gedacht ist. Neh men wir einmal an, es wäre möglich, das Gehirn einer Ver suchsperson zu kontrollieren und damit zu erreichen, dass das Gehirn dieser Versuchsperson die Zustände und Wandlun gen durchläuft, die im Gehirn einer normal verkörperten Per son stattfinden, die sich in normaler wahrnehmender Inter aktion mit der Welt befindet. Nun müssen wir jedoch einmal explizit erklären, was genau wir uns da gerade vorstellen. Erinnern wir uns daran, dass der Zustand meines Gehirns in diesem Augenblick von allen möglichen Bedingungen und Prozessen abhängt. Zweifelsohne hängt er von meinem Stoff wechsel und der Verdauung ab und auch davon, wo ich mich gerade aufhalte und womit ich mich gerade beschäftige. Es sen und Trinken, Sport, Schlafzyklen, emotionale Zustände all dies beeinflusst die Vorgänge in meinem Gehirn. Außer dem wird mein Gehirn ja nicht nur von dem beeinflusst, was mir widerfährt, also von dem, was ich sehe, höre, rieche usw. 199
Meine Handlungen bewirken ebenfalls Veränderungen im Ge hirn. Wenn ich beispielsweise die Hand oder die Augen und den Kopf bewege, verändere ich meine Beziehung zur Welt um mich herum, und damit verändere ich die Art, wie die Dinge aussehen, klingen und riechen. Der Zustand meines Ge hirns ist kein direktes Resultat eines Reizmusters in diesem oder jenem Inputkanal. Er wird nicht durch einseitige kausale Einflüsse bestimmt. Der Zustand meines Gehirns wird von der kontinuierlichen Dynamik meiner Aktionen und der Inter aktion zwischen mir und der Umwelt bestimmt, und zwar so wohl der physikalischen Umwelt um mich herum als auch der biologischen Umwelt meines Körpermilieus. Das führt uns zum entscheidenden Punkt: Wenn wir auf das Gehirn einwirken würden, um die Auswirkungen einer normalen Interaktion mit der Umgebung zu simulieren, dann wäre das gleichbedeutend damit, dem Gehirn ein alternatives Körpermilieu und eine alternative Umwelt zur Verfügung zu stellen. Und solch ein Ersatzkörper und solch eine Ersatzum welt wären mit einer virtuellen Welt gleichzusetzen. Diese Überlegungen sind also ganz sicher kein Beweis da für, dass das Bewusstsein vom Gehirn allein erzeugt wird, son dern wir treffen hier wieder auf die Vorstellung, dass das Be wusstsein vom Wechselspiel zwischen Gehirn, Körper und Welt oder zumindest zwischen Gehirn, Körper und virtueller Welt abhängt. Das Bewusstsein, das wir uns hier vorstellen, ist das Pro dukt einer komplexen dynamischen Interaktion mit dem Ge hirn und unserer virtuellen Ersatzumwelt. Es scheint fast so, als wären wir dem Gedanken, dass ein autarkes Gehirn allein für ein Bewusstsein ausreicht, keinen Schritt näher gekom men. Wir haben lediglich gezeigt, dass Bewusstsein vielleicht auch mit anderen als den üblichen Mitteln erzeugt werden kann. Zu einen solchem Bewusstsein kommen wir aber nur aufgrund des Erfindungsreichtums neurowissenschaftlicher Ingenieure und ihrer Konstruktion einer Umwelt, die auf uns genauso wie eine normale Umwelt wirken soll. 200
Realer Geist, virtuelle Realität Unser Szenario der virtuellen Realität kann aber auch aus einem tieferen und viel interessanteren Grund nicht bewei sen, dass es einen Geist ohne die Anwesenheit und die Beteili gung der Welt geben kann. Wir stellen uns damit vor, dass wir mithilfe einer virtuellen Welt die gleichen Zustände im Ge hirn hervorrufen könnten, die es in einer normalen Umwelt hätte. Aber diese Vorstellung allein ist noch kein Beweis dafür, dass wir das Gehirn so beeinflussen können, dass es normale Erlebnisse hat. Im Gedankenexperiment einer virtuellen Rea lität sehen, fühlen und handeln wir nicht so, wie wir es nor malerweise tun, sondern es kommt uns nur so vor. Die virtu elle Realität erzeugt in uns bestenfalls virtuelle Erfahrungen und einen virtuellen Geist. Und das zeigt, dass die Zustände im Gehirn allein nicht ausreichend für reale Erfahrung und einen realen Geist sind. Ein Flugschüler fliegt in einem Simu lator kein echtes Flugzeug, auch wenn er das vielleicht glaubt. Das Gleiche gilt für unser phantasievolleres Gedankenexperiment: Wir stellen uns damit kein Erfahren der Welt vor, son dern eine Art des Abgeschnittenseins von der Welt. An dieser Stelle wird ein Verfechter der These vom Bewusst sein im Kopf wahrscheinlich einwerfen, dass diese letzte Be hauptung unzulässig ist, weil wir damit das, was wir eigentlich erst zeigen wollen, ja schon als gegeben voraussetzen. Zwar wird er zugeben, dass es sich bei dem, was wir uns da gerade vorgestellt haben, tatsächlich nur um ein virtuelles Bewusst werden einer virtuellen Welt handelt. Doch trotzdem wird er uns fragen, woher wir denn überhaupt wissen, dass das Er leben von Mensch und Tier mehr als ein virtuelles Scheinbild ist, wie es im Film Matrix beschrieben wird. Flier sind wir am harten Felsen angelangt, hier stößt der Spaten auf den Grund. Hinter der Phantasievorstellung der Neurowissenschaft, derzufolge wir eigentlich Gehirne im Tank sind, steht die bereits vertraute Auffassung, dass die Welt, wie wir sie kennen, ein Hirngespinst ist, eine grandiose Illusion. 201
Im sechsten Kapitel habe ich versucht, Sie davon zu überzeu gen, dass nichts uns dazu zwingen kann, diese Schlussfolge rung zu akzeptieren, am allerwenigsten die Erkenntnisse der modernen Wahrnehmungspsychologie oder der kognitiven Neurowissenschaft, und dass es sich dabei also wohl eher um so etwas wie einen Glaubensgrundsatz handelt.
Träume Wie steht es mit dem Träumen? Beweisen unsere Träume, dass unser Bewusstsein eigentlich nur von den Vorgängen in unserem Inneren abhängt? Vielen Menschen erscheint diese Schlussfolgerung verlockend. Jeder von uns ist schon einmal aufgewacht und hat festgestellt, dass das, was gerade so leben dig, wichtig und wirklich erschien, nur ein Traum war. Aber in einem Traum erkunde ich die Welt nicht aktiv und befinde mich in keiner dynamischen Interaktion mit ihr. Daher müs sen wir uns anscheinend von der Vorstellung verabschieden, dass die aktive Erkundung der Welt und die Interaktion mit ihr für ein Bewusstsein notwendig sind. Akzeptieren wir dem Argument zuliebe einmal die Annah me, dass wir beim Träumen vollständig iv in Bezug auf die Welt sind und dass daher das Träumen nur von den Vor gängen in unserem Inneren abhängt. Daraus folgt jedoch nicht, dass nur die Vorgänge im Kopf von Belang sind, wenn es um das Bewusstsein geht, sondern höchstens, dass Traum erlebnisse allein von den Vorgängen im Kopf abhängen. Die weitergehende Behauptung - nämlich dass alles Bewusstsein nur aus den Vorgängen im Gehirn entsteht - lässt sich daraus nicht ableiten. Es sei denn, wir gehen in der Tradition vieler Philosophen davon aus, dass im Traum jedes Erlebnis möglich ist. Läuft das Vertrauen der Neurowissenschaft darin, dass wir den Geist auf das Gehirn reduzieren können, letztendlich auf diesen Teil der althergebrachten Philosophie hinaus? Ich glaube nicht, dass jedes Erlebnis im Traum auftreten 202
kann. Diese Annahme stützt sich traditionell auf die Tat sache - wenn es denn eine Tatsache ist -, dass wir nicht fest stellen können, ob wir ein bestimmtes Erlebnis nur träumen. So argumentierte Descartes in seiner »Ersten Meditation«: Wir können nicht feststellen, ob wir wirklich das sehen, füh len oder hören, was wir zu sehen, zu fühlen oder zu hören glauben, oder ob wir es nur träumen. Denn jegliche Über prüfung - wie sich beispielsweise zu kneifen - könnte auch wieder nur ein Traum sein. Und da wir also aus der Erfahrung nicht ableiten können, ob wir gerade träumen, schloss Des cartes, dass wir woanders, jenseits unserer Sinne, nach Be gründungen für unsere Überzeugungen über die Welt suchen müssen. Selbst wenn wir einräumen, dass wir tatsächlich nicht fest stellen können, ob wir gerade träumen, bedeutet das noch nicht, dass es nicht wichtige Unterschiede zwischen Erlebnis sen im Traum und im wachen Zustand gibt. Es beweist ledig lich, dass wir beides schwer oder unmöglich auseinanderhal ten können. Das ist ein logischer Einwand. Wenn ich einem Gebäude nicht ansehe, ob es aus der georgianischen oder der edwardianischen Zeit stammt, heißt das noch lange nicht, dass es keinen Unterschied zwischen beiden Baustilen gibt. Doch auch abgesehen von diesem logischen Einwand wäre es zu vereinfachend, aus dem realen Phänomen des Träumens derart skeptische Schlüsse zu ziehen. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Ich habe geträumt, dass meine Mutter nach mir ruft. Ich kann die Geschehnisse im Traum nur als eine Episode beschreiben, bei der ich meine Mutter nach mir rufen höre. Doch das kann ich gewiss sagen, ohne dass deshalb gleich daraus folgt, dass das Erlebnis mei ner rufenden Mutter im wirklichen Leben mit dem der rufen den Mutter im Traum identisch ist. Generationen von Philo sophen haben sich zu derartigen Behauptungen hinreißen lassen, aber mit etwas Überlegung zeigt sich, dass sie voll kommen ungerechtfertigt sind. Ein auffallender Unterschied zwischen normaler Sinnes203
Wahrnehmung und Traumerlebnissen liegt in deren Unbe ständigkeit. Dem Traumforscher Stephen LaBerge zufolge ist es eine universale Eigenschaft von Traumerlebnissen, dass die Details einer Traumszene sich im Laufe des Traumes ver ändern. Wenn wir beispielsweise in einem Traum ein Schild lesen, uns umdrehen und dann wieder hinschauen, haben sich die Worte auf dem Schild verändert. Aus meiner Sicht klingt das nicht überraschend. Schließlich müssen wir bei der normalen Wahrnehmung im Gegensatz zur Traumwahrneh mung die Details nicht stabil halten. Die Details sind ja hier, in der Welt. Die Wirklichkeit verankert uns. Wie wir auch handeln - ob wir die Augen schließen, uns abwenden, abge lenkt werden -, die Dinge in unserem Umfeld bleiben davon unberührt. In einem Traum sind die Details jedoch das Werk unserer Vorstellungskraft. Die fließenden und schwankenden Fundamente von Traumerlebnissen widerspiegeln die Tat sache, dass wir in unseren Träumen, ganz im Gegensatz zu unserer normalen Sinneswahrnehmung, von unserer Umwelt losgelöst sind. Die Inhalte unserer Träume werden eben nicht durch die Realität vor unseren Augen bestimmt. Wir sehen das, was wir sehen wollen oder vor dessen Anblick wir uns fürchten oder von dem wir uns fragen, wie es wohl aussehen würde. Was einfach nur heißt, dass das Sehen im Traum kein wirkliches Sehen ist. Und ganz allgemein sind Zweifel daran, dass wir im Traum echte Sinneswahrnehmungen haben können, sehr berechtigt, obwohl wir uns vielleicht zu dieser Annahme hinreißen las sen, wenn wir von unseren Träumen erzählen. Im sechsten Kapitel habe ich erörtert, dass wir die Wahrnehmung als eine Handlung der Umwelterkundung sehen sollten. Sie ist kein Prozess, bei dem ein Abbild der Welt in unserem Gehirn er zeugt wird, sondern vielmehr eine Handlung, bei der wir uns die uns umgebende Welt mithilfe verschiedener Fertigkeiten (der Bewegung, des Verstandes usw.) zugänglich machen. Wenn ich beispielsweise eine Landschaft sehe, repräsentiere ich die Bäume, die Wiese, die Wolken, den Himmel, den Fluss, 204
die Vögel und die Schmetterlinge nicht sofort in meinem Kopf, wie man diese Elemente vielleicht in einem Gemälde oder einer Zeichnung abbildet. Sie sind für mich in meiner visuellen Erfahrung aufgrund der Tatsache anwesend, dass sie vor mir liegen und ich durch meine Fertigkeiten Zugang zu ihnen habe. Der Inhalt unserer Erfahrung - also das, was wir wahrnehmen - ist die Welt, und ohne eine Welt fehlt uns der Inhalt. Und genau das ist der Grund, warum wir - was immer wir auch denken, fühlen und sagen - im Traum nicht sehen. Weil nicht bewiesen werden kann, dass Sinneswahrneh mungen eine Teilmenge der Traumerlebnisse sind, beweist man, indem man sich auf Träume beruft, lediglich, dass die Vorgänge in unserem Inneren hinreichend für Traumerleb nisse sind. Und aus der Erkenntnis, dass die Träume aus schließlich von den Vorgängen in unserem Inneren abhängen, lässt sich eben nicht folgern, dass alle Erfahrungen nur von den Vorgängen in unserem Inneren abhängen. Ehrlich gesagt, bin ich mir ja nicht einmal sicher, ob das Traumargument überhaupt zeigt, dass Träume ausschließlich von unseren in neren Zuständen abhängen. Vermutlich kann man ja davon ausgehen, dass unsere Traumwahrnehmung auf die Erfahrun gen beschränkt ist, die wir zuvor in der Welt gemacht haben. Wenn das stimmt, dann zeigen Träume nur, dass eine kleine Teilmenge unserer Erfahrung - nämlich Traumerlebnisse dann auftritt beziehungsweise auftreten kann, wenn ein Tier, dessen Leben normalerweise in einer engen Auseinanderset zung mit der Welt abläuft, von dieser im Schlaf eine Zeit lang entkoppelt ist. Und daraus folgt ja nun sicher noch nicht, dass das Gehirn als Grundlage für Erfahrung ausreicht. Der Verweis auf Träume und neurowissenschaftliche Mani pulationen am Gehirn führt uns praktisch wieder zum Aus gangspunkt, also zu vagen cartesianischen Intuitionen über die Innerlichkeit unserer Erfahrung zurück.
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FAZIT: Selbst der Geist eines Gehirns im Tank braucht einen Körper und eine Welt Es gibt keine empirische und philosophische Rechtfertigung für die Vorstellung, dass das Gehirn allein für ein Bewusstsein ausreicht. Ich hoffe, ich konnte Sie von der Absurdität der Vorstellung überzeugen, dass wir unser Gehirn sind und die von uns erlebte Welt sich in unserem Inneren befindet. Wir müssen die Welt nicht in uns tragen, denn wir haben Zugang zu der uns umgebenden Welt, wir sind offen für sie. Das ist für mich der Sinn von Bellows Worten im Leitspx-uch dieses Kapitels. Die Auffassung, dass wir unser Gehirn sind, haben die Wis senschaftler sich nicht erarbeitet. Es handelt sich vielmehr um eine vorgefasste Meinung, die sie von zu Hause mit ins Labor gebracht haben. Diese Annahme gehört nicht ins Reich fundierter Theorie, sie gehört nicht einmal in die Kategorie von Sätzen wie »Ich existiere«, die nicht verifiziert werden müssen. Es ist einfach nur ein Vorurteil. Und wir haben nun allen Grund dazu, uns dieses Vorurteils zu entledigen, denn es schnürt uns bei unserem Versuch, unsere Natur und un sere Funktionsweise zu ergründen, wie eine Zwangsjacke ein. Wir verbringen unser gesamtes Leben zusammen mit an deren als verkörperte, in einer Umwelt verortete Wesen. Wir sind nicht nur reine Empfänger äußerer Einflüsse, sondern Geschöpfe, die Einflüsse empfangen, die wir selbst hervorrufen. Wir sind dynamisch mit der Welt verbunden und nicht von ihr getrennt. Das zeigt sich in so vielen Aspekten unseres Lebens. Die Neurowissenschaft muss sich damit auseinander setzen.
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EPILOG: WIR SIND ZU HAUSE
Wir stecken nicht in unserem Kopf. Wir sind in der Welt und ein Teil von ihr. Wir sind Muster einer aktiven Auseinander setzung mit fließenden Grenzen und wechselnden Kompo nenten. Wir sind dezentral verteilt. Das habe ich in diesem Buch dargelegt. Wenn es sich bei diesem Buch um eine Abenteuergeschichte handelt, dann liegt ein Großteil ihrer Spannung in unserem Versuch, endlich einem hartnäckigen und doch falschen Ver ständnis zu entkommen, dem zufolge wir uns in einer intel lektuellen Zwangslage befinden. Die Naturwissenschaft hält uns für Neuankömmlinge in einem unbekannten Land, für sie sind wir entfremdete Geschöpfe. Dieser Ansatz wird nir gendwo so offensichtlich wie bei der Diskussion zwischen menschlicher Beziehungen. So nimmt man beispielsweise an, dass wir beim Reden lediglich Laute aussenden, deren Bedeu tung von unserem Gesprächspartner dekodiert werden muss. Dieser Beschreibung unserer Interaktionen zufolge nehmen wir in der Beziehung zu unserem Gegenüber eine theoretisch distanzierte und neugierige Haltung ein. Die Ergründung unseres Gegenübers ist ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Klein kinder, die sich ihre Umwelt erschließen, werden zu Wissen schaftlern in der Wiege stilisiert. Doch sind wir nicht derart entfremdet voneinander oder von der Welt um uns herum. Wir werden nicht bloß mit irgend welchen Lauten, sondern wir werden miteinander konfron tiert. Wir befinden uns immer bereits in einem gemeinsamen Kontext, und deshalb müssen wir die Vorgänge in unserem Umfeld nicht erst entschlüsseln. Wie ein Fußballspieler kurz 207
vor der Halbzeit sind wir immer bereits mitten im Geschehen. Wir befinden uns selten in der Lage, bedeutungsfreien Lauten eine Bedeutung zuordnen zu müssen oder auf der Grundlage von Verhaltensbeobachtungen zu entscheiden, ob ein Ge schöpf einen Geist hat. Wir nehmen nicht bloß Formen und Farben wahr und ordnen diese dann anschließend als Men schen oder Gegenstände ein. Und daher gehen wir fehl in der Annahme, dass es die Aufgabe des Gehirns ist, diese Probleme für uns zu lösen. Grundlage unseres Lebens und unseres bewussten Erfahrens ist die bedeutungstragende Welt, in der wir uns befinden. Die Welt im weiteren Sinne und die Beschaffenheit unserer Verortung in ihr ist das Rohmaterial für eine Theorie bewuss ten Lebens. Dem Gehirn kommt in dieser Geschichte natür lich eine tragende Rolle zu. Aber es ist nicht die Aufgabe des Gehirns, ein Bewusstsein zu »erzeugen«. Das Bewusstsein ist kein solches Ding. Es ist überhaupt kein Ding. Es ist Aufgabe des Gehirns, uns in die Lage zu versetzen, unsere Beziehung zu der uns umgebenden Welt aufrechtzuerhalten. Gehirn, Körper und Welt - sie alle sind wesentlich daran beteiligt, uns zu dem zu machen, was wir sind. Wir müssen die Welt nicht deuten. Die bedeutungstragende Welt ist für uns schon da und entschlüsselt, bevor wir mit dem Interpretieren überhaupt erst anfangen. Die literarische Auf fassung von der Welt - also die Sicht auf die Welt als einen Text, der interpretiert werden muss - führt in eine Sackgasse. Interessanterweise setzen viele Wissenschaftler, die sich mit der Frage nach dem Geist - also der Kognition, dem Denken und dem Bewusstsein - beschäftigen, genau diese interpretative Sicht auf die Welt voraus. Aber wir sichern uns die Welt nicht dadurch, dass wir sie interpretieren. Zu einer Interpretation kommt es erst dann, wenn wir die Welt bereits unter Kontrolle haben. Wir müssen die Welt auch nicht erschaffen. Die Welt ist grö ßer, als wir es sind; wir können ihr gegenüber lediglich offen sein, und das wiederum bedeutet, sich in ihr zurechtzufinden. 208
In dei- Mathematik unterscheidet man zwischen dem Beweis und der Prosa, die sich um den Beweis rankt und ihn kom mentiert. Philosophen, die sich mit Mathematik auseinander setzen, kritisieren oft die Prosa, doch der Beweis selbst bleibt von philosophischer Kritik unberührt. In diesem Buch interes siere ich mich nicht für die Prosa der Wissenschaft des Be wusstseins, sondern nur für ihre Resultate. Ich will nicht die neuesten Strömungen in der Neurowissenschaft kommentie ren, sondern Sie davon überzeugen, dass die neurowissen schaftliche und im weiteren Sinne die kognitionswissen schaftliche Sicht auf den Geist von Grund auf neu überdacht werden muss. Natürlich gibt und gab es viele ausgezeichnete experimentelle und theoretische Arbeiten in der Kognitions wissenschaft. Aber wenn ich recht habe, wird man ganze For schungsprogramme einfrieren müssen. Es ist falsch, nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins zu suchen - zumin dest wenn man sie, wie es manchmal geschieht, als neuronale Strukturen oder Prozesse auffasst, die für sich genommen ein Bewusstsein erzeugen können. Es gibt keine solchen neuro nalen Strukturen. Wie könnte es sie auch geben? Es ist ein Fehler zu glauben, dass das Sehen ein Prozess im Gehirn ist, bei dem das Gehirn eine Repräsentation der uns umgebenden Welt erzeugt. Ebenso falsch ist die Annahme vieler Neurowis senschaftler, dass Menschen und andere Säugetiere mit an geborenen Gehirnmodulen wie etwa für die Erkennung von Gesichtern zur Welt kommen. Allgemeiner gesagt, ist die Ver mutung unhaltbar, dass das Gehirn für uns das Denken über nehmen muss, und ebenso unhaltbar ist der Gedanke, dass das Gehirn diese Aufgabe bewerkstelligt, indem es komplexe Berechnungen durchführt. Wenn wir uns mit unserem neuen Ansatz weiterbewegen, werden wir erkennen, dass die Grundlagen des Bewusstseins nicht unbedingt neuronaler Natur sind. Wenn wir verstehen wollen, welche Rolle das Gehirn für die Erfahrung spielt, dann müssen wir uns fragen, wie das Gehirn unsere dynamischen Wechselbeziehungen mit der Umwelt aufrechterhält. Dabei 209
konzentrieren wir uns auf den gesamten Organismus und be trachten das Nervensystem im Kontext seiner normalen Ver körperung. Besonders wichtig werden hier die Perspektiven von Entwicklungspsychologie und Evolution sowie der Ver gleich mit anderen Tierspezies sein. Wir ziehen keine unüber windbare Grenze um das Gehirn, und genauso wenig sollten wir eine solche Grenze um den einzelnen Organismus selbst ziehen. Zur Umgebung eines Organismus gehört nicht nur seine physikalische Umwelt, sondern auch sein Biotop und teilweise auch sein kultureller Lebensraum. In diesem Buch habe ich mich immer wieder gegen die Standardauffassung gewandt und versucht, eine Alternative aufzuzeigen. Damit stehe ich nicht allein da. Neurowissenschaft und Kognitionswissenschaft sind vielfältig und ab wechslungsreich. Selbst wenn die Standardauffassung um sich greift, können in ihrem Schatten doch auch alternative Auf fassungen gedeihen. In den letzten fünfundzwanzig Jahren konnte man beobachten, wie sich allmählich eine Sicht auf den Geist als etwas Verkörpertes, Verortetes herausbildete. Dieser Ansatz konnte sich in bestimmten Bereichen der Kognitionswissenschaft wie in der Philosophie und in der Ro botik entfalten, doch wurde er von der Neurowissenschaft, der Hauptströmung der Linguistik und ganz allgemein von der Bewusstseinsforschung vernachlässigt. Wenn wir das Be wusstsein verstehen wollen - also die Tatsache, dass wir den ken, fühlen und sich uns eine Welt zeigt -, müssen wir der Standardauffassung den Rücken kehren, der zufolge das Be wusstsein etwas ist, das ähnlich der Verdauung in unserem Inneren abläuft. Heute ist es so offenbar wie nie zuvor, dass wir das Bewusstsein wie eine musikalische Improvisation durch unsere Handlungen und dank unserer Verortung in einer uns vertrauten, uns zugänglichen Welt erzeugen. Wir sind in der Welt und ein Teil von ihr. Wir sind zu Hause.
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DANK
Dieses Buch ist dem Andenken an Susan L. Hurley gewidmet, die am 16. August 2007 im Alter von 52 Jahren in Oxford starb. Susan war mir eine Freundin und Lehrerin. Die Philosophie und Wissenschaft sind mit ihrem Tod ärmer geworden. An verschiedenen, entscheidenden Stellen im Text habe ich da raufhingewiesen, dass dieses Buch meine aus der Zusammen arbeit und Freundschaft mit ihr gewonnenen Erkenntnisse widerspiegelt. Meine Frau Miriam Dym ist meine engste Vertraute und Gefährtin, und ohne sie hätte ich dieses Buch niemals ge schrieben. Einige meiner Leser werden den Einfluss von anderen in diesem Buch erkennen. Hier sind vor allem Hubert Dreyfus und Evan Thompson zu nennen. Ich fühle mich außerdem Ned Block, Daniel Dennett, Kevin O’Regan und John Searle zu Dank verpflichtet. Sie finden sich an den verschiedensten Stel len des Textes, manchmal als Verbündete, manchmal als Ziel scheibe der Kritik. Geistige Anregungen erhielt ich von mei nen Freunden und Studenten an der University of California in Berkeley, besonders (neben Hubert Dreyfus und John Searle) von John Campbell, Walter Freeman, James Genone, Kristina Gerhman, Farid Masrour, John Schwenkler und James Stazicker. Meine Gedankengänge zu diesem Buch profitierten auch von meiner Zusammenarbeit mit dem Center for New Media der University of California und meiner Teilnahme an den Diskussionen der Arbeitsgruppen ihrer Mitglieder sowie von vielen Gesprächen mit Dan Zahavi am Zentrum für Sub jektivitätsforschung in Kopenhagen. 211
Meine Eltern Judith Baldwin Noë und Hans Noë sowie mein Freund Alexander Nagel leisteten konstruktive Kritik. Mein Dank geht auch an Gwen Shupe für ihre durchdachten An merkungen zu diesem Buch. Ich danke John Brockman und Russell Weinberger für ihre Unterstützung und Ermutigung. Und mein besonderer Dank gilt Joe Wisnovsky, meinem Lektor bei Hill and Wang, für des sen Engagement bei diesem Vorhaben. Der Großteil dieses Buches entstand während meiner Stipendiatenzeit am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Ich bin dem Rektor, der Gemeinschaft und den Angestellten dieser ungewöhnlichen und feinen Einrichtung zu tiefem Dank ver pflichtet. Ebenso möchte ich mich bei der University of Cali fornia in Berkeley und besonders der Philosophischen Fakul tät für ihre Anregungen und ihre Unterstützung bedanken sowie dafür, dass sie mir den Aufenthalt am Wissenschafts kolleg ermöglicht haben.
ANMERKUNGEN
Der Leitspruch zu diesem Buch stammt aus Delmore Schwartz' Ge dichtband Ein Buch, das ich weder las noch schrieb, Altaquito, Göttingen 1997. übers, von Reinhard Harbaum.
Vorwort
Randy Nesse von der Medizinischen Fakultät der Universität von Michigan führt derzeit aufschlussreiche Forschungsarbeiten zur Evo lution der Depression durch. Meiner Meinung nach beweist er über zeugend, dass weder der medizinische noch andere biologische Ansätze das Diktum bestätigen, dass es sich bei der Depression um eine Erkrankung des Gehirns handelt.
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Eine erstaunliche Hypothese
Der Leitspruch zu diesem Philosophischen
Kapitel stammt aus Ludwig Wittgensteins
Untersuchungen
(Suhrkamp
Verlag,
Frankfurt
am
Main
1967, S. 213). Francis Crick und Christof Koch bestätigen in »A framework for con sciousness« (in: Nature Neurosäence 6, Nr. 2 (2003): 119-126), wie wenig wir über die neuronale Basis des Bewusstseins wissen. Sie schreiben: »Niemand
hat
eine
plausible
Erklärung
dafür,
wie
die
Wahrneh
mung der Rotheit von Rot durch die Vorgänge im Gehirn hervorgeru fen wird« (S. 119). Cricks Auseinandersetzung mit der angeblich er staunlichen
Hypothese
findet
sich
in
seinem
Buch
Was
die
Seele
wirklich ist - Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins (über setzt von Harvey P. Gavagai, Artemis & Winkler, München / Zürich, 1994,
S.
17).
Cricks
abschätzige
Bemerkung
über
die
Philosophie
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stammt aus dem Aufsatz »Visual perception: rivalry and conscious ness« (in: Nature 379 (1996): 485-486). In diesem Kapitel zitiere ich auch Patricia Churchlands Aussage, dass es heute Beweise für die Be hauptung gibt, dass das Gehirn und nicht irgendein nichtphysika lischer Stoff für uns das Denken übernimmt. Diese Aussage trifft sie auf der ersten Seite von Brain-Wise: Studies in Neurophilosophy (MIT Press, Cambridge 2002). Dieses Buch liefert eine Einführung in die Philosophie mit einem Schwerpunkt darauf, wie die Neurowissenschaft uns helfen kann, traditionelle philosophische Fragestellungen neu zu überdenken. Wenn ich nicht fehlgehe, beruht die aktuelle Neurowissenschaft auf ziemlich überholten philosophischen Prä missen. Ned Block traf die Unterscheidung zwischen »Zugangsbewusstsein« und »phänomenalem Bewusstsein« erstmals in seinem Artikel »On a confusion about a function of consciousness« (in: Behavioral and Brain Sciences 18, Nr. 2 (1994): 227-287). Thomas Nagel umschreibt das Be wusstsein mit der Formulierung, dass es »irgendwie ist, dieser Orga nismus zu sein«, in seinem berühmten Aufsatz mit dem Titel: »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?« (in: Peter Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, übersetzt von Ulrich Diehl, Beltz, Weinheim und Basel 2007, S. 261). Wittgensteins Erörterung vom lebenden Menschen und dem, was ihm ähnlich sieht und sich ähnlich benimmt, stammt aus den Philo sophischen Untersuchungen (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967, § 281, S. 123). Descartes war ein äußerst brillanter Philosoph und Wissenschaftler, und es lohnt sich, sein Werk immer wieder sorgfältig zu studieren. Er gilt als Vater des nach ihm benannten cartesianischen Dualismus. Dem Dualismus zufolge gibt es im Universum zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Dingen: den Geist und die Materie. Deren Beziehung zueinander gibt uns Fragen auf; fraglich ist auch, wie wir etwas über sie wissen können. Descartes’ wichtigste Erörterung die ser Idee findet sich in der ersten und der zweiten seiner Meditationen über die erste Philosophie. Dieses Werk liegt in zahlreichen Ausgaben und Übersetzungen vor. Das Gedankenexperiment des Gehirns im Tank fällt uns leicht könnte es sich herausstellen, dass ich ein Gehirn im Tank bin? Sind wir alle nur Gehirne im Tank? -, doch selten fragen wir nach den Ein zelheiten und danach, was für einen Tank man bräuchte, um ein Ge
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hirn auf die Art am Leben zu erhalten, wie unser Gehirn am Leben erhalten wird. Eine von dem Philosophen Evan Thompson und dem Neurowissenschaftler Diego Cosmelli verfasste anschauliche und ori ginelle Untersuchung dieser Fragestellung findet sich in »Embodi ment or envatment: reflections on the bodily basis of consciousness« (in: John Stewart, Olivier Gapenne, and Ezequiel di Paolo (Hrsg.), Enaction: Towards a New Paradigm for Cognitive Science, MIT Press, Cam bridge, i.E.). Ich beziehe mich in diesem Kapitel auf den von Geraint Rees, Gabriel Kreiman und Christof Koch verfassten Artikel »Neural correlates of consciousness in humans« (in: Nature Reviews Neuroscience 3, (2002): 261-270). Darin stellen die Wissenschaftler die These auf, dass sich das visuelle Bewusstsein nicht auf eng beieinanderliegende Gehirn areale eingrenzen lässt, sondern dass es vielmehr so aussieht, als ob das Sehen umfangreiche Vorgänge erforderte, die weit entfernt lie gende Gehirnareale mit einbeziehen. Außerdem stütze ich mich in diesem Kapitel auf Artikel des bel gischen Neurologen Steven Laureys. Besonders empfehle ich »The locked-in syndrome: what it is like to be conscious but paralyzed and voiceless« (in: Progress in Brain Research 150 (2005): 495-511) und »Brain function in the vegetative state« (in: Acta neurologica bel g. 102 (2002): 177-185). Laureys’ Forscherteam berichtete auch vor Kurzem in Science, dass bei einigen Komapatienten das Gehirn entsprechend aktiviert wird, wenn sie sich vorstellen, Tennis zu spielen. Diese Akti vierung lässt nach, wenn man den Patienten bittet, mit dem Tennis spielen aufzuhören. Andere Gehirnareale (der sogenannte Gyrus parahippocampalis) werden aktiviert, wenn der Patient sich vorstellen soll, dass er zu Hause ist. Diese Erkenntnisse sind umstritten. Was genau zeigen sie? Doch so viel steht fest: Sie liefern weitere Beweise dafür, dass man sich ernsthaft um die Bedürfnisse von Wachkoma patienten kümmern muss. Mehr zu diesem Thema findet sich im Artikel »Detecting awareness in the vegetative state« von Adrian M. Owen u.a. (in: Science 313, Nr. 5792 (2006): 1502). Es gibt eine Anzahl von Autobiografien über das Leben mit Locked-inSyndrom. Die meisten wurden von betroffenen Patienten mithilfe eines komplexen Systems von Zwinkerbewegungen niedergeschrie ben. Eines der berührendsten dieser Dokumente ist Jean-Dominique Baubys Schmetterling und Taucherglocke (Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997). Das Buch wurde von Julian Schnabel erfolgreich verfilmt.
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Bei der Vorbereitung dieses Kapitels fand ich Guy C. Van Ordens und Kenneth R. Paaps kritischen Artikel über die Positronenemissions tomografie sehr hilfreich, siehe »Functional neuroimages fail to dis cover pieces of mind in the parts of the brain« (in: Philosophy of Science 64 (1997): 85-94)- Ebenfalls empfehle ich Robert Stufflebeams und William Bechtels Aufsatz »PET: exploring the myth and the method« (in: Philosophy of Science 64 (1997): 95-106) und »Epistemic custard pies from functional brain imaging« von Jim Bogen (in: Philosophy of Science 69 (2002): 59-71).
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Bewusste Wesen
Der Leitspruch zu diesem Kapitel stammt aus Ludwig Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967, S. 495). Quellenangaben zum Locked-in-Syndrom und Wachkoma finden sich in den Anmerkungen zum ersten Kapitel. Fritz Heiders und Marianne Simmels mittlerweile klassischer Auf satz »An experimental study of apparent behavior« wurde im Ame rican Journal of Psychology 57 (1944): 243-259 veröffentlicht. Rodney Brooks ist ein theoretischer Wegbereiter der Robotik und Kognitionswissenschaft. Er möchte Roboter zur Entschlüsselung des menschlichen Bewusstseins einsetzen. Und wichtiger noch, er möch te mit dem traditionellen »intellektualistischen« Ansatz brechen, dem zufolge ein Roboter, um ein intelligenter Handlungsträger zu sein, erst wahrnehmen, sich eine Theorie über die Geschehnisse bil den, dann planen und schließlich zielgerichtet handeln muss - wie man es fälschlicherweise auch vom Menschen annimmt. Brooks kon struiert hochgradig ausgelagerte und verteilte Robotersysteme, das heißt, diese Roboter sind beweglich, an ein Umfeld anget und reagieren auf die sie umgebende Welt. Wenn sie Intelligenz zeigen das ist bei keinem Modell tatsächlich der Fall, und es wäre ein loh nendes Vorhaben herauszufinden, warum das so ist -, dann nicht aufgrund der Vorgänge in ihrem Inneren, sondern durch die Art, wie sie aktiv auf eine bestimmte Situation reagieren. Intelligenz entsteht aus der dynamischen Interaktion, sie ist eine Eigenschaft der aktiven Existenz des Roboters und nicht gewissermaßen ein Nebenprodukt von Vorgängen im Inneren des Roboters.
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Eine von Brooks’ bekanntesten Schülerinnen ist Cynthia Breazeal, und in diesem Kapitel erwähne ich ihre Roboterdame Kismet. Breazeals Aufsatz »Robot in society: friend or appliance?« liefert eine unterhaltsame Beschreibung von Kismet. Diese Publikation des MITLabors für künstliche Intelligenz kann man sich von Breazeals Website herunterladen, ebenso wie den Aufsatz »How to build robots that make friends and influence people« von Breazeal und ihrem Kol legen Brian Scassellati. Die Theory of Mind ist nicht nur in den Kreisen der Entwicklungspsy chologie ein heißes Eisen, sondern mittlerweile auch in der Tier-Kognitionsforschung (der kognitiven Ethologie) und in der Erforschung des Autismus. Die Vorstellung, dass unsere Beziehung zueinander im Grunde genommen eine rein theoretische ist, ist in der Philosophie altbekannt. Der bekannteste Lösungsansatz für die Frage nach dem Fremdpsychischen ist vielleicht der sogenannte Analogieschluss. Die ser von John Stuart Mill (im System der deduktiven und induktiven Logik) und Bertrand Russell (in seinem Buch Probleme der Philosophie) unter schiedlich ausgestalteten Vorstellung zufolge schreiben wir anderen geistige Zustände auf der Grundlage ihrer Äußerungen und Hand lungen zu. Dabei lassen wir uns von der Annahme leiten, dass die geistigen Zustände anderer unseren geistigen Zuständen entspre chen, wenn ihre Handlungen unseren entsprechen. Doch der Ana logieschluss ist eine ziemlich miserable Art der Schlussfolgerung. Wie kann ich nur davon ausgehen, dass mein Fall - also das bei mir anzutreffende Wechselspiel zwischen meinen geistigen Zuständen und meinem Verhalten - exemplarisch für alle anderen Menschen ist? Wie ich in diesem Kapitel zu erörtern versuche, liegt das eigent liche Problem aber in der damit verbundenen Annahme, dass wir Zu gang zum Geist anderer nur durch Überlegungen und Rückschlüsse erhalten. Jedenfalls gab eine Untersuchung zu Überzeugungen bei Kindern von Heinz Wimmer und Josef Perner 1980 den Startschuss für die psychologische Beschäftigung mit der Theory of Mind. Von ihnen stammt die in diesem Kapitel erwähnte Fa!se-belief-Aufgabe, siehe dazu Heinz Wimmer und Josef Perner, »Beliefs about beliefs: represen tation and constraining function of wrong beliefs in young chil dren’s understanding of deception« (in: Cognition 13 (1983): 103-128), und Josef Perner, Susan R. Leekam und Heinz Wimmer, »The case for a conceptual deficit« (in: British Journal of Developmental Psychology 5
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(1987): 125-137)- Weitere Ausführungen zu diesem Thema aus dem Bereich der kognitiven Ethologie finden sich in Marc Has Artikel »Our chimpanzee mind« (in: Nature 437 (2005)) und Daniel John Povinellis »Behind the ape’s appearance: escaping anthropocentrism in the study of other minds« (in: Daedalus (Winter 2004): 29-41). Zum Thema Autismus gibt es zahlreiche Veröffentlichungen. Ein solider und aufschlussreicher Artikel, den ich hier empfehlen möchte, ist »Understanding interpersonal problems in autism: interaction theory as an alternative to theory of mind« von Shaun Gallagher (in: Philo sophy, Psychiatry, and Psychology 11, Nr. 3 (2004): 199-217). Kenneth Kaye und Peter Hobson, auf die ich mich im dritten Kapitel beziehe, argumentieren, dass wir unser Bekenntnis zum Geist ande rer mit einem besseren, weniger theoretischen Ansatz erklären müs sen. Diese Auffassung vertritt auch Colwyn Trevarthen in seinem richtungweisenden Aufsatz »Communication and cooperation in early infancy. A description of primary intersubjectivity« (in: Mar garet Bullowa (Hrsg.), Before Speech: The Beginning of Human Communi cation, Cambridge University Press, Cambridge 1979, S. 321-347). Weitere Ausführungen über den merkwürdigen Brauch, Tiere vor Ge richt zu stellen, finden sich in Edward P. Evans’ Buch The Criminal Pro secution and Capital Punishment of Animals (ursprünglich erschienen im Verlag E. P. Dutton, New York 1906). In diesem Kapitel geht es auch um Vicki Hearnes großartige Arbeit mit Hunden. Besonders möchte ich ihr Buch Adam’s Task: Calling Ani mals by Name empfehlen. Hearne ist eine professionelle Hunde- und Pferdetrainerin, schreibt flüssig und mit philosophischem Gespür. Sie legt überzeugend dar, dass wir moralisch bedeutsame Beziehun gen mit Arbeits- und Begleittieren eingehen und dass eine distan zierte, behavioristische Perspektive dem Umgangston und der Struk tur dieser Beziehungen nicht gerecht wird. Niemand hat das Leben von Haustieren besser beschrieben als Hearne. Und natürlich trifft das, was sie über Tiere sagt, erst recht auf Menschen zu: Die Realität zwischenmenschlicher Beziehungen verträgt sich einfach nicht mit einer distanzierten, behavioristischen, mechanistischen Sicht. Bei meiner Abhandlung der Meerkatzen beziehe ich mich auf Do rothy L. Cheneys und Robert M. Seyfarths Klassiker Wie Affen die Welt sehen (übersetzt von Ellen Vogel und Andreas Paul, Hanser Verlag, München/Wien 1994). Das zentrale und anspruchsvolle Thema dieses Kapitels - Leben ist
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Geist - wurde auch von anderen erörtert. Hervorheben möchte ich hier die ausgezeichnete Diskussion dieses Themas in Evan Thomp sons Buch Mind in Life (Harvard University Press, Cambridge 2007), die mich stark beeinflusst hat. Außerdem möchte ich ein sehr gutes Ka pitel aus der Dissertation des Harvard-Philosophiestudenten Bharath Vallabha erwähnen, der mittlerweile der Philosophischen Fakultät am Bryn Mawr College angehört.
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Die Dynamik des Bewusstseins
Der Leitspruch zu diesem Kapitel stammt aus Ralph Waldo Emersons Essay »Experience«. Dieses Kapitel ist das Resultat meiner Zusammenarbeit mit Susan Hurley zwischen 2000 und dem Sommer 2007. Vor allem zu nennen sind hier unser Artikel »Neural plasticity and consciousness« (in: Bio logy and Philosophy 18 (2003): 131-168), in der ein Großteil der Argu mentation dieses Kapitels entwickelt wird, sowie »Synaesthesia and sensorimotor dynamics: how hunter-gatherers can hear color« (in: Michael Smith, Frank Jackson und Robert Goodin (Hrsg.), Common Minds: Themes from the Philosophy of Philip Pettit, Oxford University Press, Oxford 2007). ln diesem Kapitel vergleiche ich zwei gegensätz liche Zustände: Bei einem Zustand verursacht die hirnchirurgische Verknüpfung einer Kortexregion mit einer unüblichen Stimulations quelle eine Veränderung in der qualitativen Funktion der Kortex region. Bei dem anderen führt die hirnchirurgische Neuverknüp fung nicht zu solch einer qualitativen Veränderung. In unserem Artikel aus dem Jahr 2003 bezeichneten Hurley und ich den ersten Zustand als »kortikale Unterordnung«, den zweiten als »kortikale Do minanz«. Unsere wichtigste Frage war: Warum ergibt sich manchmal eine Unterordnung und manchmal eine Dominanz? In diesem Kapi tel stelle ich die Grundthese auf, dass ein gesundes Hirn sich unter ordnet. Immer wenn wir uns erfolgreich anen und integrieren, erfolgt eine Unterordnung. Die mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Forschungsarbeiten von David Hubel und Torsten Wiesel erörtere ich im siebenten Kapitel, die Quellen finden sich in den zugehörigen Anmerkungen. Im dritten Kapitel und in anderen Teilen des Buches stütze ich mich auf den gemeinsam mit Kevin O’Regan verfassten Artikel »A senso-
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rimotor of vision and visual consciousness« (in: Behavioral and Brain Sciences 24, Nr. 5 (2001): 883-975.) In meinem Buch Action in Perception (MIT Press, Cambridge 2004) verteidige ich meine Theorie der visuellen Wahrnehmung. Bruce E. Wexlers Buch Brain and Culture: Neurobiology, Ideology, and Social Science (MIT Press, Cambridge 2006) belegt überzeugend und nachhaltig, dass wir das Gehirn nur vor dem Hintergrund des Sozial lebens und der Umgebung eines Lebewesens verstehen können. Ich habe Wexlers Buch für das Times Literary Supplement rezensiert (Nr. 5479 (2007): 24). Die Leser meines Buches finden vielleicht nicht nur Wexlers Buch, sondern auch meine Rezension von Interesse. Von Kenneth Kayes faszinierenden Forschungsarbeiten zu Mutter-KindDyaden, zum Stillen und der Entwicklung von Kleinkindern im All gemeinen erfuhr ich aus Wexlers Buch. Weitere Ausführungen hier zu findet der interessierte Leser in Kenneth Kayes Buch The Mental and Social Life of Babies: How Parents Create Persons (University of Chicago Press, Chicago 1982). Ein weiteres ausgezeichnetes Buch zur Ent wicklung von Kleinkindern, das meine eigenen Gedankengänge beeinflusst hat, ist Wie wir denken lernen: Gehimentwicklung und die Rolle der Gefühle von Peter Hobson (übersetzt von Christoph Trunk, Walter Verlag, Düsseldorf 2003). ln diesen Büchern finden sich sehr viele Argumente für meine These, dass der soziale/umweltbedingte Kon text der Beziehung des Kindes mit seiner Bezugsperson für eine nor male Entwicklung des Kindes notwendig ist; deshalb behaupte ich auch, dass wir die Daseinsform eines Kindes nicht als unabhängig von seiner Einbettung in ein Umfeld verstehen dürfen. Mehr zu Mriganka Surs Frettchenexperimenten findet sich im Arti kel »Rewiring cortex: the role of patterned activity in development and plasticity of neocortical circuits« von Mriganka Sur, Alessandra Angelucci und Jitendra Sharma (in: Journal of Neurobiology 41, Nr. 1 (1999): 33~43)- Dieser Artikel liefert einen Überblick über den For schungsstand und Verweise auf weiterführende Publikationen. Versuche dieser Art werden nicht nur in Surs Forschungslabor durch geführt. Besonders interessant sind die Untersuchungen im Labor von Leah Krubitzer an der Universität Davis. Bei einer Forschungs reihe mit Mäusen, die von Geburt an taub waren, fand sie heraus, dass bei den ausgewachsenen Mäusen Teile des Kortex, die sich nor malerweise zur Hörrinde herausgebildet hätten, sowohl visuelle als auch sensomotorische Funktionen übernahmen. Da die Hörrinde nicht
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gebraucht wurde, übernahm sie offensichtlich andere Funktionen für die Sinneswahrnehmung. Weitere Ausführungen dazu finden sich beispielsweise im Aufsatz »Multisensory plasticity in congenitally deaf mice: how are cortical areas functionally specified?« von Deborah Hunt, Ebenezer Yamoah und Leah Krubitzer (in: Neuroscience 139, Nr. 4 (2006): 1507-1524). Handelt es sich bei der Wahrnehmung mithilfe eines taktil-visuellen Substitutionsgerätes um eine Art des Sehens? Können wir behaup ten, dass der somatosensorische Kortex, obwohl er sich physiologisch nicht verändert hat, für das Sehen bedeutsam wird? Als Antwort auf die zweite Frage würde ich vermuten, dass eine Störung des somatosensorischen Kortex (beispielsweise durch transkranielle Magnet stimulation) bei der Wahrnehmung mithilfe eines solchen Gerätes zu einer Beeinträchtigung der visuellen (oder quasivisuellen) Wahr nehmung führt. Soweit ich weiß, ist so etwas noch nie versucht worden. Was die erste Frage anbelangt, gibt es ganz eindeutige Unter schiede zwischen der taktil-visuellen Substitution und dem norma len Sehen, aber es gibt auch Ähnlichkeiten. Hinzu kommt, dass es sich - was immer wir auch über den visuellen Charakter dieser tech nikgestützten Form der Wahrnehmung sagen - definitiv nicht um eine normale Tastwahrnehmung handelt. Daher brauchen wir einen prinzipiellen Erklärungsansatz für diese Ähnlichkeiten und Unter schiede, und den liefere ich im dritten Kapitel. Entscheidend hierbei ist, dass die Erklärung niemals in der intrinsischen Beschaffenheit der neuronalen Aktivität liegt. Paul Bach-y-Ritas Erkenntnisse erschienen 1969 in der Zeitschrift Na ture. Allgemeinere Erläuterungen finden sich in seinem Buch Brain Mechanisms in Sensory Substitution (Academic Press, New York 1972) so wie in seinem Aufsatz »Tactile-vision substitution: past and future« (in: International Journal of Neuroscience 19, Nr. 1-4 (1983): 29-36). Auch andere versuchten, ein sensorisches Substitutionsgerät zu ent wickeln. Einen aufschlussreichen Überblick liefern hier die Philoso phin Malika Auvray und der Naturwissenschaftler Erik Myin in ih rem Artikel »Perception with compensatory devices: from sensory substitution to sensory extension«. Eine erstaunliche Erkenntnis von Bach-y-Rita ist, dass die Versuchspersonen nur dann mithilfe des tak til-visuellen Substitutionsgerätes sehen konnten, wenn die Kamera an ihrem Kopf oder Körper angebracht wurde. Das heißt, ob ein rein taktiler Reiz zu einer Art visueller Wahrnehmung führt, hängt ent
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scheidend von der körperlichen Kontrolle des Wahrnehmenden über diesen taktilen Reiz ab. Genau das würde auch meine Theorie Vor hersagen: Eine Erfahrung wird zur visuellen Erfahrung durch die Art, wie die Bewegung zur Sinnesreizung und Neuronenaktivierung beiträgt. Den Ausdruck »Erklärungslücke« verdanke ich dem Philosophen Joe Levine, siehe »On leaving out what it’s like« (in: Martin Davies und Glyn Humphreys (Hrsg.) Consciousness: Psychological and Philosophical Essays, Blackwell, Oxford 1993. S. 121-136).
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Weiter Geist
Der Leitspruch zu diesem Kapitel stammt aus John Deweys Essay »The new psychology« (in: Andover Review 2 (1884): 278-289). Ich zi tiere aus der Ausgabe des Textes, die auf der Website »Classics in the History of Psychology« der Universität York veröffentlicht ist (http:// psychclassics.yorku.ca/Dewey/newpsych.htm). Die sogenannte Gummihandillusion wurde zuerst von Matthew Botvinick und Jonathan Cohen in Nature 391, Nr. 6669: 756 beschrie ben. Untersuchungen hierzu führte auch Vilaynur S. Ramachandran durch. Seine Ausführungen zu diesem Thema sowie zum Phantom schmerz finden sich in seinem Buch Die blinde Frau, die sehen kann: rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins (mit Sandra Blakeslee, über setzt von Hainer Kober, Rowohlt, Reinbek 2002). Der McGurk-Effekt wurde zuerst von Harry McGurk und John MacDo nald im Aufsatz »Hearing lips and seeing voices« beschrieben (in: Nature 264 (1978): 746-748). Dominic Massaro von der Universität Santa Cruz legt überzeugend dar, dass das Sehen eine entscheidende Rolle bei der normalen Wahrnehmung gesprochener Sprache spielt. Diese Erkenntnis macht er sich bei seiner Arbeit mit gehörlosen Kin dern zunutze. Zusammen mit Susan Hurley habe ich auch das Phänomen des Phan tomschmerzes untersucht, siehe dazu unseren in den Anmerkungen zum letzten Kapitel erwähnten Aufsatz aus dem Jahr 2003. MerleauPontys Theorie über Phantomschmerz und Körperschema findet sich in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung, besonders im Kapitel »Der Leib als Gegenstand und die mechanistische Physiologie« (übersetzt von Rudolf Boehm, Walter de Gruyter, München 1974, S. 168 und
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S. 102). Ausgezeichnete einführende Erörterungen zu Merleau-Pontys Denken finden sich in den Veröffentlichungen Shaun Gallaghers, be sonders in seinem Buch How the Body Shapes the Mind (Oxford Univer sity Press, Oxford 2005). Der Neurowissenschaftler Marcel Kinsbourne hat einiges davon in seine Arbeit einfließen lassen. Hier empfehle ich besonders »Awareness of one’s own body: an attention theory of its nature, development and basis« (in: José Luis Bermudez, Anthony Marcel und Naomi Eilan (Hrsg.), The Body and The Self, MIT Press, Cam bridge 1995, S. 225-245). Von Gareth Evans stammt die Beobachtung, dass wir nicht darüber nachdenken müssen, wie wir durch eine Tür kommen, aber durch aus darüber, wie wir ein Sofa durch eine Tür manövrieren. Nur das Sofa ist ein Problem für das räumliche Denken. Ausführungen hier zu finden sich in Evans Buch Varieties of Reference (Oxford University Press, Oxford 1982). Dennis R. Proffitt und seine Doktorandin Jessica K. Witt von der Uni versität von Virginia haben nachgewiesen, dass die wahrgenommene Größe eines Baseballs mit der Trefferzahl des Schlagmanns korre liert, siehe dazu ihren Artikel »See the ball, hit the ball« in der De zemberausgabe der Zeitschrift Psychological Science von 2005. Außer dem demonstrierten die beiden, dass einem müden Wanderer eine Steigung steiler erscheint, siehe dazu »Perceived slant: a dissociation between perception and action« (in: Perception 36, Nr. 2 (2007): 249-257). Yoshiaki Iwamura, Atsushi Iriki und Michio Tanaka haben in einem 1996 in der Zeitschrift Neuroreport veröffentlichten Artikel aufge zeigt, dass man durch den Einsatz von Werkzeugen das Körperschema verändern kann. Ein allgemeiner Überblick über dieses Forschungs gebiet findet sich im Aufsatz »The body schema and the multisensory representation(s) of peripersonal space« von Nicholas Holmes und Charles Spence (in: Cognitive Process 5, Nr. 2 (Juni 2004): 94-105). Andy Clark und David J. Chalmers stellen in ihrem Essay »The ex tended mind« (in: Analysis 58, Nr. 1 (1998): 7-19) das Argument vor, dass wir auch Artefakte außerhalb des Kopfes als Teile der »Maschi nerie der Kognition« verstehen sollten (um es mit Rick Grushs Wor ten auszudrücken). Wer einräumen kann, dass wir manchmal mit Worten, Stiften oder Pinseln denken, wird diesem Ansatz etwas abge winnen können. Clark hat soeben ein neues Buch über die These des »erweiterten Geistes« veröffentlicht: Supersizing the Mind: Embodiment, Action, and Cognitive Extension (mit einem Vorwort von David Chalmers,
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Oxford University Press, New York 2008). Bemerkenswerterweise tei len aber weder Clark noch Chalmers die hier entwickelte Position, dass man auch das Bewusstsein selbst nur erklären kann, indem man sich einer solchen erweiterten Auffassung der Maschinerie des Geistes bedient. Bewusste Erfahrung scheint bei ihnen etwas von der Welt Losgelöstes und von ihr Unabhängiges zu sein. Dieses Thema greife ich im achten Kapitel noch einmal auf. Es gibt zahlreiche Publikationen über die neuen Medien und darüber, wie sie unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und unser Selbst bild verändern. Meine Ausführungen zu Kurznachrichten und japa nischen Jugendlichen stützen sich auf die Forschungsarbeiten von Peter Lyman und Mimi Ito. Dem mittlerweile verstorbenen Peter Lyman bin ich für seine Hilfe besonders dankbar. Wendy Mackays Arbeiten über Fluglotsen sind wunderbar. Eine ihrer Mitarbeiterinnen, Anne-Laure Fayard, machte mich auf sie aufmerk sam. Besonders empfehle ich Mackays Artikel »Is paper safer? The role of paper flight strips in air traffic control« (in: ACM Transactions on Computer-Human Interaction 6, Nr. 4 (1999): 311-340). Der Locus classicus von Hilary Putnams zu Recht einflussreicher Kri tik der klassischen Sprachtheorie trägt den Titel Die Bedeutung von »Bedeutung« (übersetzt von Wolfgang Spohn, Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2004). Wittgenstein kritisiert in seinen Philoso phischen Untersuchungen ebenfalls hartnäckig diese klassische Auffas sung von Sprache, siehe dazu besonders die ersten 200 Paragraphen des ersten Teils. Eric Kandels Nobelpreisvorlesung aus dem Jahr 2000, »The Molecular Biology of Memory Storage: A Dialog between Genes and Synapses«, fin det sich unter http://nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/ 2000/kandel-lecture.html. Sie enthält eine anschauliche Beschrei bung seiner preisgekrönten Experimente mit Meeresschnecken. Eine unterhaltsame Erörterung der Thematik findet sich in Bruce E. Wexlers Buch Brain and Culture: Neurobiology, Ideology, and Social Change (MIT Press, Cambridge, 2006).
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Gewohnheiten
Der Leitspruch zu diesem Kapitel ist eine Strophe aus einem Gedicht von Antonio Machado aus seinen Proverbios y Cantares aus dem Jahr
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1930. Ich stieß auf dieses Gedicht bei der Lektüre von Evan Thomp sons Buch Mind and Life (Harvard University Press, Cambridge 2007). Die deutsche Übersetzung stammt von Erna Brandenberger, die eng lische von dem 2001 verstorbenen Francisco Varela aus seinem Essay »Laying Down a Path in Walking« (in: William Irwin Thompson (Hrsg.), Gaia, A Way of Knowing: Political Implications of the New Biology, Lindisfarne Press, Hudson, NY, 1987, S. 48-64). Varela, ein erstklassiger Neurowissenschaftler und Philosoph, hat mein Denken beeinflusst. Auf dem Gebiet der philosophischen Theorie hat keiner die Bedeu tung von Fertigkeiten und Gewohnheiten mehr hervorgehoben und den intellektualistischen Ansatz stärker kritisiert als Hubert Drey fus. Dreyfus’ Arbeiten auf diesem Gebiet beruhten auf seiner Lektüre von Heideggers Sein und Zeit und Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung. Eine gute Einführung in Dreyfus' Ideen ist sein Buch Being-in-the-World: A Commentary on Heidegger’s »Being and Time«, Divi sion I (MIT Press, Cambridge 1991). Meine Besprechung künstlicher Intelligenz in diesem und in anderen Kapiteln speist sich aus Drey fus’ wegweisendem Buch What Computers Can't Do aus dem Jahre 1972 (dt.: Was Computer nicht können, übersetzt von Robin Cackett, Athenä um, Frankfurt am Main 1989). Eine überarbeitete Ausgabe erschien 1992 unter dem Titel What Computers Still Can’t Do (MIT Press, Cam bridge 1992). Die unterschiedlichen Aufmerksamkeitsschwerpunkte von Experten und Novizen sind Gegenstand vieler psychologischer Forschungsar beiten. Ausführungen hierzu finden sich beispielsweise in Rob Grays Artikel »Attending to the execution of a complex sensorimotor task: expertise differences, choking and slumps« (in: journal of Experimental Psychology: Applied 10, Nr. 1 (2004): 42-54)- Nachweise, dass die neuro nale Aktivität bei einer von einem Experten durchgeführten Leistung sinkt, finden sich im Aufsatz »The mind of expert motor performance is cool and focused« von John Milton, Ana Solodkin, Petr Hlustik und Steven L. Small (in: Neuroimage 35 (2007): 804-813). In diesem Kapitel erlaube ich es mir, mehrere zusammenhängende Ideen über die Sprache zu kritisieren, die in der modernen Kogni tionswissenschaft und Philosophie quasi unantastbar sind. So kriti siere ich beispielsweise die Vorstellung, dass eine Sprache zu verstehen heißt, dass man Wortfolgen eine Bedeutung zuordnen kann, weil man die einzelnen Wortbedeutungen und Kombinationsregeln kennt. Außerdem wende ich mich gegen die Vorstellung, dass Sprachen ab-
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strakte Zeichensysteme sind. Ich halte sie vielmehr für Aspekte einer spezifischen, lokalen, auf die reale Welt bezogenen Aktivität, ln die sem Kapitel stütze ich mich auf eine Sprachtheorie, die erstmals von Roy Harris entwickelt wurde. Er war viele Jahre lang Professor für all gemeine Sprachwissenschaft an der Universität Oxford. Harris ist ein origineller und wichtiger Theoretiker, dessen Werk nie die Beach tung fand, die es verdient hat. Ich begegnete ihm das erste Mal Ende der Achtzigerjahre bei meinem Studium in Oxford. Seine Bücher The Language Makers (Duckworth, London 1980) und The Language Myth (St. Martin's, New York 1981) liefern eine faszinierende Kritik dessen, was viele Linguisten für gesicherte Tatsachen halten. So wies Harris (meines Wissens) als Erster darauf hin, dass unsere Auffassung, dass wir von einer Sprache in eine andere übersetzen können, selbst ein Artefakt der Tatsache ist, dass wir in der Schule und anderswo wich tige kulturelle Übersetzungspraktiken eingerichtet haben. Ange sichts dieser Praktiken sind die Entsprechungen zwischen den Spra chen gewissermaßen nicht selbstverständlich, sondern künstlich geschaffen. Ebenfalls von Interesse ist Terrence Deacons Buch über Sprache, The Symbolic Species (Norton, New York 1998), auf das ich mich im Text beziehe. Es gibt zahlreiche empirische Abhandlungen über die Objekterken nung, und viele davon konzentrieren sich auf die Frage, ob die neu ronalen Mechanismen der Gesichtserkennung sich von den Mecha nismen unterscheiden, die an der Wahrnehmung von anderen Objekten beteiligt sind. Hier sind Nancy Kanwishers Arbeiten zu nen nen. Eine gute Einführung ist vielleicht ihr Artikel »The fusiform face area: a module in human extrastriate cortex specialized for face perception« (mit Josh McDermott and Marvin M. Chun, in: Journal of Neuroscience 17, Nr. 11 (1997): 4302-4311). In diesem Kapitel zitiere ich auch aus ihrem kurzen Aufsatz »What's in a face« (in: Science 311 (2006): 617-618: Zitat S. 617) sowie aus ihrem Artikel »Neural events and perceptual awareness« (in: Cognition 79 (2001): 89-113: Zitat S. 109). Belege für die Behauptung, dass sich Neugeborene vor allem für Gesichter interessieren, finden sich im Aufsatz »Visual following and pattern discrimination of face-like Stimuli by newborn infants« von Carolyn C. Goren u. a. (in: Pediatrics 56, Nr. 4 (1975): 544-549). Die Erkennung von auf dem Kopf stehenden Gesichtern und den »Inver sionseffekt« erörtert Robert K. Yins Aufsatz »Looking at upside-down faces« (in: Journal of Experimental Psychology 81. Nr.i (1969): 141-145)
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sowie der Artikel »Parts and wholes in face recognition« von James W. Tanaka und Martha J. Farah (in: Quarterly Journal of Experimental Psychology 46, Nr. 2 (1993): 225-245). Als eine überzeugende kritische Betrachtung des Ansatzes von Kanwisher, dem zufolge es ein angebo renes Modul zur Gesichtserkennung gibt, seien die Aufsätze von Michael J. Tarr und seinen Kollegen und Studenten empfohlen, be sonders »Learning to see faces and objects« von Michael J. Tarr und Yi D. Cheng (in: Trends in Cognitive Sciences 7, Nr. 1 (2003)) sowie »Beyond faces and modularity: the power of an expertise framework« (in: Trends in Cognitive Sciences 10, Nr. 4 (2006)). Der klassische Aufsatz über die »Expertisehypothese« - also die Vorstellung, dass unsere beson ders gut entwickelte Gesichtserkennung ein Sonderfall unserer all gemeinen Fähigkeit zur Entwicklung von Wahrnehmungsexpertise für verschiedene Arten von Objekten ist - trägt den Titel »Becoming a face expert« und stammt von Susan Carey (in: Philosophical Trans actions of the Royal Society of London 335, Nr. 1273 (1992): 95-103). Die These, dass das FFA auch dann aktiviert wird, wenn wir eine Wahr nehmungsexpertise für andere Objekte entwickelt haben, wird ge stützt durch den Artikel »Expertise for cars and birds recruits brain areas involved in face recognition« von Isabel Gauthier u.a. (in: Nature Neuroscience 3, Nr. 2 (2000): 191-197) und von J. W. Tanakas und T. Currans Aufsatz »A neural basis for expert object recognition« (in: Psychological Science 12, Nr. 1 (2001): 43-47). Beweise für die Aussage, dass eine Schädigung des FFA zu bestimmten Defiziten bei der Wahr nehmung von Objekten führen kann, die keine Gesichter sind, finden sich in einem Aufsatz von Isabel Gauthier u. a. »Can face re cognition really be dissociated from object recognition?« (in: Journal of Cognitive Neuroscience 11, Nr. 4 (1999): 349-370). Dass Menschen es schwieriger finden, andersgeartete Gesichter zu erkennen (beispiels weise Gesichter von Menschen anderer Hautfarbe), ist nachzulesen in einem Artikel von Gill Rhodes u.a. »Race sensitivity in face recog nition: an effect of different encoding processes« (in: Adrienne F. Bennett, Kevin M. McConkey u.a. (Hrsg.), Cognition in Individual and Social Contexts, Elsevier, Amsterdam 1989, S. 83-90). Eine ausgezeichnete Erörterung der Existenz eines »visuellen Wort formareals« im Gehirn findet sich in »The visual word form area: expertise for reading in the fusiform gyrus« von Bruce D. McCandliss, Laurent Cohen und Stanislas Dehaene (in: Trends in Cognitive Sciences 7, Nr. 7 (2003): 293-299).
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Die Theorie und auch der Begriff der kognitiven Pfade wurden von Adrian Cussins entwickelt, siehe dazu seine Veröffentlichung »Con tent, embodiment and objectivity: the theory of cognitive trails« (in: Mind toi. Nr. 404 (Oktober 2002): 651-688). Evan Thompson legt in seinem kürzlich erschienenen Buch Mind in Life (Harvard University Press, Cambridge 2007) eine ähnliche Theorie dar.
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Die grandiose Illusion
Der Leitspruch zu diesem Kapitel stammt aus Merleau-Pontys Phäno menologie der Wahrnehmung (übersetzt von Rudolf Boehm, Walter de Gruyter, München 1974, S. 406). Ich beginne das Kapitel mit einem Zitat aus dem Standardwerk von Eric R. Kandel, James H. Schwartz und Thomas M. Jessell, Neurowissen schaften - eine Einführung (Spektrum akademischer Verlag, Heidel berg / Berlin / Oxford 1995). Ihre Worte sind Ausdruck einer Auffas sung, die sich meiner Meinung nach empirisch nicht untermauern lässt. Das erste Zitat stammt von den Seiten 373/374, das zweite von Seite 328. Eine neuere und philosophisch noch bedenklichere Ver sion dieser alten These, derzufolge wir auf eine Illusion hereinfallen, die unser Gehirn für uns erzeugt, findet sich in Chris Friths Buch Wie unser Gehirn die Welt erschafft (Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010). Eine ausgezeichnete akademische Einführung in die Geschichte der Optik findet sich in David C. Lindbergs Buch Auge und Licht im Mittelalter - die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler (übersetzt von Matthias Althoff, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987). Der Begriff »grandiose Illusion«, den ich in diesem Zusammenhang verwende, habe ich zusammen mit meinen Kollegen Evan Thompson und Luiz Pessoa geprägt. Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden sich in einem Aufsatzband, den ich vor einigen Jahren für das Journal of Consciousness Studies herausgegeben habe. Zu den Autoren gehören Philosophen wie Naturwissenschaftler, siehe Is the Visual World a Grand Illusion? (Imprint Academic, Thorverton, Exeter, 2002). Die Veränderungsblindheit wurde zuerst in einer Reihe von Artikeln von Ron Rensink, Kevin O'Regan und deren Kollegen beschrieben. Wegweisend sind hier die Artikel von J. Kevin O'Regan, Ron A. Rensink und James J. Clark »Mud splashes render picture changes invisible«
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(in: Investigative Ophthalmology and Visual Sciences 37 (1996): 213) sowie »To see or not to see: the need for attention to perceive changes in scenes« (dies., in: Psychological Science 8, Nr. 5 (1997): 368-373). Eben falls von Interesse ist ein Artikel von O’Regan und mir (»A sensorimotor approach to vision and visual consciousness«, in: Behavioral and Brain Sciences 24, 2 (2001): 939-1030) sowie O'Regans Eintrag »Change Blind ness« in der Macmillan Encyclopedia of Cognitive Science (Nature Publishing group, i. E.). Einen guten Überblick über Literatur zu diesem Gebiet liefert der Artikel »Change blindness: past, present, future« von Da niel J. Simons und Ron A. Rensink (in: Trends in Cognitive Sciences 9, Nr. 1 (2005): 16-20). Von Dan Simons stammen die interessantesten Arbeiten zum Thema Unaufmerksamkeitsblindheit. Eine Beschreibung des Gorillavideos findet sich im Aufsatz »Gorillas in our midst: sustained inattentional blindness for dynamic events« von Daniel J. Simons und Christopher F. Chabris (in: Perception 28 (1999): 1059-1074), siehe auch Inattentional Blindness von Arien Mack und Irwin Rock (MIT Press, Cambridge 1998). Im Text versuche ich zu verdeutlichen, dass zwei Wege zu der Auffas sung führen, dass die Welt eine grandiose Illusion ist. Der erste ist der traditionellere Weg: Uns stehen sehr viel weniger Informationen zur Verfügung als das, was wir zu sehen glauben, also muss das, was wir zu sehen glauben, etwas sein, das in unserem Inneren durch Hirnvorgänge erzeugt wird. Diese Auffassung wird von fast allen be deutenden Theoretikern auf diesem Gebiet vertreten (mit ein paar bemerkenswerten Ausnahmen, wie beispielsweise dem Psychologen James J. Gibson und dem Philosophen Maurice Merleau-Ponty). Der zweite Ansatz ist weniger traditionell und auch in gewisser Hinsicht radikaler. Ihm zufolge beweist die Tatsache, dass das Gehirn keine Ab bilder im Gehirn erzeugt, dass unsere Erfahrung im Prinzip zutiefst illusorisch ist - das heißt, wir erleben gar nicht das, was wir zu er leben glauben. Daniel Dennett hat diese Idee am eloquentesten erläutert. Wir (die Wahrnehmenden) glauben, dass es keine Lücke in unserer Erfahrung gibt, also nehmen wir (die Wissenschaftler) an, dass das Gehirn diese Lücke schließt. Aber wenn sich herausstellt, dass das Gehirn diese Lücke gar nicht schließt, müssen wir daraus schluss folgern, dass wir uns in unserer Erfahrung gründlich täuschen. In diesem Kapitel argumentiere ich, dass normale Wahrnehmende auf keinen solchen Irrtum hereinfallen. Erstens gehen wahrnehmende Personen nicht davon aus, dass sie die Welt im Kopf repräsentieren.
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Zweitens stimmt es nicht, dass wir nur dann eine fehlerfreie Erfah rung haben, wenn unser Gehirn die Lücke in einer inneren Reprä sentation der Welt schließt. Erörterungen zu diesem Thema und ver wandten Themen finden sich in Daniel Dennetts Buch Philosophie des menschlichen Bewusstseins (übersetzt von Franz Wuketits, Hoffmann und Campe, Hamburg 1994). Eine kritische Auseinandersetzung mit Dennetts Theorien findet sich in meinem Buch Action in Perception (MIT Press, Cambrige 2004). Auch Kevin O’Regan vertritt diese radi kale Version der Idee der »grandiosen Illusion« in seinem wichtigen Artikel »Solving the >real< mysteries of visual perception: the world as an outside memory« (in: Canadian Journal of Psychology 46, Nr. 3 (1992): 461-488). Eine interessante Erörterung der Homunculustheorie und deren Ein fluss auf die Theorie des Sehens findet sich in John Hymans Buch The Imitation of Nature (Blackwell, Oxford 1989).
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Entdeckungsreisen
Der Leitspruch zu diesem Kapitel stammt aus James J. Gibsons Buch Wahrnehmung und Umwelt - Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahr nehmung (übersetzt von Gerhard Lücke und Ivo Kohler, Urban & Schwarzenberg, München / Wien / Baltimore 1982, S. 242). Hubel und Wiesel haben vor Kurzem einen Aufsatzband herausgege ben: Brain and Visual Perception : The Story of a 25-Year Collaboration (Ox ford University Press, New York 2004). Darin finden sich interessante biografische Essays sowie aufschlussreiche Vor- und Nachworte zu wichtigen Artikeln (die meisten stammen von Hubel). Meine Ausein andersetzung mit den Arbeiten Hubels und Wiesels fand ihren An fang in einer Besprechung dieses Buches für das Times Literary Supple ment, und ich stütze mich hier auf einige Abschnitte aus dieser Besprechung. Außerdem beziehe ich mich auf Hubels Buch Auge und Gehirn. Neurobiologie des Sehens (übersetzt von Friedemann Pulver müller und Joseph O'Neill, Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1989, S. 13). Hubels und Wiesels Veröffentlichungen gehören zum Kanon der Wissenschaft des Sehens, und kurze Darlegungen ihrer Grunderkenntnisse finden sich in allen Fachbüchern zu diesem The ma. Besonders hilfreich und empfehlenswert fand ich Steven E. Pal mers Buch Vision Science: From Photons to Phenomenology (MIT Press,
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Cambridge 1999). David Marrs Buch Vision (W. H. Freeman, San Fran cisco 1982) ist aufschlussreich, rigoros und gut verständlich. Ein Großteil dessen, was ich in diesem Kapitel über die Geschichte der Neurowissenschaft schreibe, habe ich von dem herausragenden Neurowissenschaftler Walter Freeman erfahren. Ich bin ihm für seine großzügigen und lehrreichen Anmerkungen zu Dank verpflichtet. Meine Erörterung von Computern und künstlicher Intelligenz stüt zen sich sowohl auf John R. Searles berühmte Kritik der künstlichen Intelligenz, beispielsweise in Die Wiederentdeckung des Geistes (über setzt von Harvey P. Gavagai, Artemis und Winkler, München 1993). als auch auf Daniel Dennetts brillante Verteidigung derselben, bei spielsweise in Brainstorms (MIT Press, Cambridge 1978). Ich stimme mit Searle überein, dass wir nicht deshalb ein Bewusstsein haben, weil wir das können, was Computer können. Aber ich gebe auch Den nett in dem Punkt recht, dass es eine unbeantwortete Frage ist, ob Computer oder Roboter eines Tages ein Bewusstsein haben könnten. Und wenn sie es können, wissen wir schon a priori und dank Searle, dass wir zum Verständnis dieser Art von Bewusstsein nicht das In nenleben der Computer analysieren sollten. Doch scheint Searle zu glauben, dass wir uns - was uns selbst betrifft - auf das Gehirn be schränken können, um die Grundlage unseres Bewusstseins zu ver stehen. Dennett warnt uns vor diesem Fehler, denn er offenbart einen Trugschluss in Searles Kritik an der Möglichkeit eines Geistes bei Computern. Die Informationsverarbeitung im Gehirn erzeugt keinen Geist, und zwar deshalb, weil der Geist nicht durch einen Vor gang im Gehirn erzeugt wird. Die große Erkenntnis aus der Erfor schung der künstlichen Intelligenz ist, dass wir gewissermaßen mit Maschinen auf einer Stufe stehen. Wenn ein Roboter einen Geist hätte, würde dieser nicht allein auf inneren Vorgängen beruhen (seien es Berechnungen oder etwas anderes), sondern er würde aus der dyna mischen Beziehung mit der den Roboter umgebenden Welt hervor gehen. Aber genau das trifft auch auf uns zu. Eine ausgezeichnete und verständliche Einführung in die ganze Thematik, einschließlich der Vermittlung der relevanten mathematischen Grundlagen, ist Jack Copelands Buch Artificial Intelligence: A Philosophical Introduction (Blackwell, Oxford 1993). Eine brillante Besprechung des Films Blade Runner unter Einbezie hung der philosophischen Aspekte findet sich in Stephen Mulhalls Buch On Film (Routledge, Abingdon, 2. Aufl. 2008). Blade Runner unter
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der Regie von Ridley Scott basiert auf dem Buch Träumen Roboter von elektrischen Schafen? von Philip K. Dick (übersetzt von Norbert Wölfl, Heyne Verlag, München 1971).
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Ein Nichts, das für alles reserviert ist
Der Leitspruch zu diesem Kapitel stammt aus dem Roman Humboldts Vermächtnis von Saul Bellow (übersetzt von Walter Hasenclever, Deut scher Taschenbuch Verlag, München 1980, S. 363). Ich habe den Roman nicht gelesen, aber fand diese handschriftlich festgehaltene age nach dem Tod meiner Großmutter Marion Hageman in ihren Unterlagen. Es ist ein außergewöhnliches Zitat, und ich habe mich oft gefragt, was meine Großmutter wohl im Sinn hatte, als sie es aufschrieb und aufbewahrte. Die Behauptung, mit dem das Kapitel beginnt, stammt aus Francis Cricks Artikel »Visual perception: rivalry and consciousness« (in: Nature 379 (1996): 485-486). Das, was ich als Grundlagenargument bezeichne, bildet den Hinter grund vieler Diskussionen um Bewusstsein und Gehirn. Es kann zu Recht als cartesianisch bezeichnet werden, denn es war Descartes, der in der »Zweiten Meditation« den Gedankengang entwickelte, dass jeder von uns eine Art unmittelbares Bewusstsein seiner selbst hat, ein Bewusstsein, das unabhängig von der Wahrheit unserer an deren Überzeugungen über unsere physische Natur oder die Existenz der uns umgebenden Welt ist. Der berühmte Ausspruch von Des cartes »Cogito, ergo sum« - Ich denke oder fühle oder habe ein Er leben oder unterliege Empfindungen, also bin ich - scheint die Vor stellung zuzulassen, dass das Bewusstsein grundlegend für unsere Natur ist und das Übrige - also unsere Verortung, unser Körper, die Stellung von anderen in unserem Leben - nur reiner Zufall ist. Wenn wir die cartesianische Vorstellung akzeptieren, der zufolge alles, was wir wissen, aus unserer Erfahrung stammt und die Welt also nur real ist, insofern ich sie in meinem Geist erfahre, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Vorstellung, dass das Gehirn allein für un ser Erfahren ausreichend ist. Denn wenn wir annehmen, dass das Be wusstsein eine physische Basis hat, dann können wir auch davon ausgehen, dass diese physische Basis unabhängig von allem ist, was außerhalb des Bewusstseins steht.
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Tatsächlich gibt es mehrere Philosophen - allen voran Andy Clark -, die zugeben, dass Körper und Außenwelt eine wichtige Rolle bei der Konstituierung unseres kognitiven Apparates spielen. Doch die Erfah rung selbst - das reine Bewusstsein, wie Clark es ausdrückt - hängt nur von Faktoren in unserem Inneren ab. Clark hat sich in persön licher Korrespondenz explizit für das ausgesprochen, was ich Grund lagenargument nenne: Die Tatsache, dass wir träumen und durch ein direktes Einwirken auf das Gehirn Erfahrungen erzeugen können, beweist, dass das Bewusstsein nur von Hirnvorgängen abhängt. Stephen LaBerge studierte Psychologie an der Stanford University und ist Traumforscher. Sein Schwerpunkt liegt auf Klarträumen. LaBerge hat mir erzählt, dass seine Forschungsarbeiten gezeigt ha ben, dass auf einem Schild in einem Traum nie zweimal dasselbe steht. Ein paar Sätze aus diesem Kapitel stammen aus meinem Essay mit dem Titel »Magical realism and the limits of intelligibility: what makes us conscious« (in: Philosophical Perspectives 21 : Philosophy of Mind (2007)).
Anmerkung der Übersetzerin Die Übersetzung der Terminologie dieses Buches wurde in enger Zu sammenarbeit mit dem Autor entwickelt und auf seinen ausdrück lichen Wunsch so gebraucht.
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SACH- UND PERSONEN
Affen s. auch Meerkatzen, Schimpansen 30, 60-63,100, 138 f., 174, 177 Algorithmus 126,182, i86f. Alhazen 154 Amputation s. Phantomschmerz Anästhesie s. Narkose Anfänger s. Novize Aplysia californica 113 Arabisches Zahlensystem 109, 182,186 Armstrong, Louis 50 Ausrichtung von Linien 176 Außenwelt 30, 60, 67 Autismus 46, 217 f. Bach-y-Rita, Paul 76 ff., 81, 221 Bakterie 56 f„ 59 f„ 63 Barlow, Horace 174 Bauchredner 26,91 Bedeutung 15, 58,110 f„ 124, 128 f., 137,149,188 f., 207 f., 225 Bellow, Saul 195, 206, 232 Betriebssystem (Computer) 89, 132 Bewusstsein 11 f„ 16-30, 32-35, 39-44. 48-51. 53. 55, 59 f. 63-68, 71, 73-77. 79 f- 83-89. 96, 112,115,134 ff., 151 f..
234
164 ff., 170 f„ 173 f., 188,191, 195-202, 206, 209 ff., 213-216, 224, 231; s. auch Geist bildgebende Verfahren s. Magnetresonanztomografie, Positronenemissionstomo grafie Biologie 16,42, 57 f„ 62, 85 Blackmore, Susan 164 Blade Runner (Film) 51,189, 231 Blickrichtung 53 Blinder Fleck 157 Blindheit 54, 76, 98 Block, Ned 23, 214 Botvinick, Matthew 90, 96, 222 Breazeal, Cynthia 43 f„ 217 Brooks, Rodney 43, 216 f. Cartesianismus 112,131,196 f., 205, 214, 232 Chalmers, David 103, 223 f. change blindness s. Veränderungs blindheit Chinesisches Zahlensystem 109 Chomsky, Noam 129,131 Churchland, Patricia 20, 214 Clark, Andy 101 f., 223 f„ 233 Cohen, Jonathan 90,96,222
Computer 23, 31, 36,105,122, 125 ff., 162 f., 172,180,182 f., 185-190,193 f., 231 Corpus geniculatum laterale 175 f- 179 Cosmelli, Diego 27, 215 Crick, Francis 19 ff„ 84,196, 213, 232 Cussins, Adrian 151,228 Dawkins, Richard 58 Deacon, Terence 131 f., 226 Denken 18, 22 ff., 49,109 f., 120, 125,128,146,148,, 151,194, 196, 208 f, 214, 223, 225 Dennett, Daniel 164,189, 229 ff. Depression 12 f., 213 Descartes, René 19 f., 119,125, 154,168,172,196, 203, 214, 232 Dreidimensionalität 153,160, 186 Eccles, John 174 HEG s. Elektroenzephalografie Elektroenzephalografie 33 Emerson, Ralph Waldo 65, 219 Erklärungslücke 72,222 Erleben 13,42, 64, 93,116, 201,232 Euklid 154 Evans, Gareth 223 Evolutionstheorie 57 Experte 120 ff., 132 f., 138, 225 Expertenwissen s. Expertise Expertise 120 f., 132,136,138 £, 142 f., 148,150 f., 227 Extrapersonaler Raum 100
False-Belief-Test 45,47 f„ 217 Farbe, Wahrnehmung von 144, 156 £, 159 ff., 208 FFA s. fusiformes Gesichtsareal Fliegende Mücken 158 Fluglotsen 105 ff., 108,110, 224 fMRT s. Magnetresonanztomo grafie Freeman, Walter 180, 231 Fremdpsychisches s. Problem des Fremdpsychischen Fremdsprachen 122,124 Frettchen, neuronale Um polung 72-77, 83 f., 220; s. auch Sur, Mriganka Freud, Sigmund 24,112 Frith, Chris 153, 228 frühkindliche Entwicklung 46, 48, 68, 220 Fusiformes Gesichtsareal 135 ffGeist 12-15, 24 f-, 40-43. 45 f.. 48-51. 55 f-. 58 ff.. 62 f„ 66 f„ 85-88,101,103,108 ff., 119-122,148, 154,165,172, 185, 189 f„ 193 f„ 201 f., 208 ff., 214, 217 ff., 224, 231 f.; s. auch Bewusstsein Geisteswissenschaften 15 Geld (als Metapher für Bewusst sein) 17 f. Gene 11,58,114 Gesichtsblindheit s. Prosopagno sie Gesichtserkennung 133-139, 226 f. Gesichtsfeld s. Sehbereich
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Gewohnheiten 70, 88, 95 f., 98,117 ff., 140 ff., 145 f„ 148, 150 f„ 225 Gewöhnung 76,113 f. grandiose Illusion (philoso phische Hypothese) 18 f„ 152,154,163,165,167, 170 f„ 201, 228 ff. Grundlagenargument 197 f., 199. 232 f. Gummihandillusion 90 f„ 93 ff., 98, 222 Halluzination 198 Handareal 74 f„ 83 Handlung 22, 30,35, 41 ff., 45 f. 57. 59. 63,79. 81,86, 89 f., 95, 97-100,112,115 f., 120 f., 124,140,143 ff., 148, 150 f„ 185, 200, 204, 210, 216 f. Harris, Roy 226 Haustiere 44, 52 f., 218 Heidegger, Martin 143, 225 Heider, Fritz 43, 216 Helmholtz, Hermann von 181 Hewlett-Packard 89 Homunculus 168,185, 230 Hören, Einfluss auf Sehwahr nehmung 72 f., 80, 92; s. auch visuelle Dominanz Hörrinde 72 ff., 77, 83, 220 Hubel, David 68,172-181, 183 f„ 190-193, 219, 230 Hunde 53 ff., 95,129 f„ 141, 218 Hurley, Susan 13, 67, 74 f„ 117, 219, 222 hyperkomplexe Zellen 177,192
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Immigration 88 inattentional blindness s. Un aufmerksamkeitsblindheit Inferenz 181 Informationstheorie 180 f„ 183 Informationsverarbeiter 179 f., 182 ff., 187,190 ff., 231 Intellektualismus 119 f„ 122, 125 f„ 131 f„ 141 f„ 150, 216, 225 Irrglaubenstest s. False-Belief-Test James, William 30 Jazz 50,147 Jessell, Thomas 153,168, 228 Kalifornische Seehasen s. Meeresschnecken Kandel, Eric 113 f„ 153,168, 224, 228 Kanwisher, Nancy 135 ff., 226 f. Katzen 53, 55, 68,141,174, 176 f. Kaye, Kenneth 68, 218, 220 Kepler, Johannes 154 ff., 160 Kindheit s. frühkindliche Entwicklung Kismet (Roboter) 43 f„ 47, 217 Kolumbus, Christoph 178 Koma s. Wachkoma, Locked-inSyndrom komplexe Zellen 177,191 f. Körperbild 98 Körperschema 97-101,104, 109, 222 f. Kortikale Dominanz 219 Kortikale Unterordnung 219 Kreiman, Gabriel 215 Krubitzer, Leah 220 f.
Kuffler, Stephen 174 ff., 179 künstliche Intelligenz 190, 217, 225, 231 Kurznachrichten 104 f., 224 LaBerge, Stephen 204, 233 Laureys, Steven 33, 215 Leib-Seele-Problem 189 Lesen 122,136 f., 146 Lettvin, Jerome 174 Lichtempfindungen 198 Linguistik 112,128, 210 Liniendetektoren s. Ausrichtung Locked-in-Syndrom 30-33,42, 50, 215 f. Lorente de Nö, Rafael 180 Mackay, Wendy 106 f., 224 Magische Membran 66 f., 84, 103 Magnetresonanztomografie 11 Magnetstimulation, transkranielle 198,221 Mann mit zwei Gehirnen, Der (Film) 25,27 Marr, David 181,183 f., 190, 231 Martin, Steve 25 ff. Mathematik 122,140,180,182, 187, 209 Matrix (Film) 201 McCulloch, Warren 280 McGurk, Harry 92, 222 McGurk-Effekt 92,222 Meeresschnecken 113 ff., 224 Meerkatzen 61 ff., 218, 231 Merleau-Ponty, Maurice 94 ff., 103,152,166, 222 f., 225, 228 f. Mill, John Stuart 217 Mittelalter 52,154 f.
Mountcastle, Vernon 174 MRT s. Magnetresonanztomo grafie Mutter 47-51, 61 f„ 68 f., 104, 203, 220 Nähe s. peripersonaler Raum Narkose 31 ff. Nationalsozialismus 55 natürliche Auslese 57 Naturwissenschaft 14 f„ 20, 56, 207, 228 Netzhautbild 155 ff., 160, 167-170,184 f. Netzhautzellen 175 f. Neumann, John von 180 Neutralgesicht s. Still-FaceParadigma Newton, Isaac 15,154 Niger 124,137 Nigeria 138 Nobelpreis für Medizin oder Physiologie 154,172 f., 180 f„ 191,194, 219, 224 Novize 97,120 ff., 123,127,136, 225 Null (mathematisches Konzept) 109 0'Regan, Kevin 79, 211, 219, 228 ff. Off-Zentrum-Neuronen 175 On-Zentrum-Neuronen 175 Orientierung 102 f., 108,117, 148,176 f., 180,191 Orientierungssäulen 177 Paap, Kenneth R. 37, 216 Parkinsonerkrankung 26
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Peripersonaler Raum 100 Perner, Josef 217 Pessoa, Luiz 228 PET s. Positronenemissions tomografie Pfade 128,144 ff., 151, 228 Phänomenales Bewusstsein 23, 214 Phantomschmerz 74 ff„ 83, 95 f., 98, 150, 222 Physik 15, 58, 60, 63,182 Pitts, Walter 180 Plastizität 68,71,74,84,100 Positronenemissionstomo grafie 11, 32, 216 Problem des Fremdpsychischen 41, 45 f-, 48, 51. 217 Prosopagnosie 135,139 Prozessor s. Gehirn als Infor mationsverarbeiter Ptolemäus 154 Pullum, Geoffrey 93 Putnam, Hilary 111,149, 224 Ramachandran, Vilayanur S. 96, 222 Ramôn y Cayal, Santiago 180 Rechteckigkeit 80 Rees, Geraint 215 Regeln 122 f., 127 ff., 132 f., 147, 153,182 f„ 187 Reimerkennung 36 ff. Reiner, Carl 25 f. Reisen 70,144 Reiz-Reaktions-Training 54 Religion 15,20 res cogitans 19,196 Roboter 19, 34, 42 ff., 47, 51, 63, 118,122,140,189 f., 216 f., 231
238
Römisches Zahlensystem 109, 182 Rückkopplung 37 f„ 193 Russell, Bertrand 217 Sakkaden 157,169 Schach 111,118,122,125 ff., 128 f., 131 f„ 142,147,183, 186.188 Schachcomputer 126 f., 189 Schiavo, Terri 34 Schimpansen 30,46,129 Schlaf 24, 33, 37,199, 205; s. auch Träumen Schlaganfall 29 ff. Schmetterling und Taucherglocke (Film) 215 Schnabel, Julian 215 Schwartz, James H. 153,168, 228 Scott, Ridley 51,232 Searle.John 188,190,231 Sehbereich 156 Sehen 11, 26, 68, 73, 78-83, 85, 91 f., 154 f„ 158 ff., 164 f„ 167-170,172 f„ 177,179-184, 191 ff., 198, 204, 209. 215, 221 f., 230 Sehnerv 158 Sehrinde 72 f., 83,134,174-179, 192 Sensibilisierung 113 f. sensorische Deprivation 68 sensorische Substitution 75-78, 81-84, 221 Shannon, Claude 180 Sherrington, John Scott 174 Simmel, Marianne 43, 216 Simons, Dan 162, 229
Somatosensorischer Kortex 77, 83,174, 221 Soziolinguistische Umwelt 109; s. auch Sprache Sport 99,121,140,150,199 Sprache 23 f„ 69, 71, 87, 89, 92, 109-112,122-125,128-132, 142, 148 ff., 184, 222, 224 ff. sprachliche Kreativität 129 Städte 102,145 f. Stillen 220 Still-Face-Paradigma 47 Sur, Mriganka 72-77, 220 Taktil-visuelle sensorische Substitution s. sensorische Substitution Tastsinn 80, 82, 98, 221; s. auch sensorische Substitution Taubheit 220 Tavalaro, Julia 30 Telefonieren, Verständnis probleme 92,130 f. Theorie des Geistes s. Theory of Mind Theory of Mind 45 f„ 217 Thompson, Evan 27, 60, 215, 219, 225, 228 transkranielle Magnetstimu lation 198, 221 Träume 197, 202-205, 233 Turner, Kathleen 25 Übersetzung 124,226 Uhrzeit 102,187 Ulme 110 f., 149 Umwelt 13,18, 23, 25, 27 f., 40, 43, 56, 60, 65,67 f„ 78, 80 f., 84 f., 91, 96, 99,101 f., 107,
112,114,116
ff.,
120,122,127,
143 ff„ 148,151,155,165 f„ 169 ff., 184 f., 189,196 f., 200 f., 204, 206 f., 209 f., 220 Unaufmerksamkeitsblind heit 161,163, 229 Unbewusstes (nach Freud) 24 Van Orden, Guy C. 37, 216 Varela, Francisco 60, 225 Veränderungsblindheit 161, 163,165,171, 228 Vergleichsmethode 37 f. Vermenschlichung (von geo metrischen Formen) 43 Verwandtschaftsbegriff (bei Meerkatzen) 61 ff. Vielsprachigkeit 124 Vinci, Leonardo da 154 virtuelle Präsenz 104 f. visuelle Dominanz 91 f. visueller Kortex s. Sehrinde visuelles Wortformareal 137, 227 Wachkoma 29,31-34,42, 50 f„ 64, 215 f. Wahrnehmung 11, 22, 24, 26, 37. 72 f., 77. 79_82, 92 f„ 99 f„ 134-139.143.151.153.155, 157.160-163,165 f„ 169 f„ 173, 180 f., 183,192,196,198, 202, 204 f„ 213, 220 ff., 226 f. Wahrnehmungsbewusstsein 76. 83, 85,152,166,170 f. Werkzeug 18, 46, 87, 98-102, 104,108,117,148,150,187, 194. 223 Wexler, Bruce 68,71,220,224
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Wiesel, Torsten 68,172-181, 184,190-193, 219, 230 Wimmer, Heinz 217 Witt, Jessica 223 Wittgenstein, Ludwig 17, 27, 41,111,141, 213 f„ 216, 224 Wörter, Wahrnehmung von s. Lesen
Zahlensysteme 109 Zellpopulation (im Nerven system) 66 f. Zeug s. Heidegger, Martin Zugriffsbewusstsein 23 Zyklopisches Auge s. Netzhaut bild, doppeltes