Das Geheimnis Der Namenlosen: Der Krimi-klassiker Aus Schottland! 141i6w

JOHN CASSELLS

Das Geheimnis der Namenlosen

Roman

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

DAS GEHEIMNIS DER NAMENLOSEN

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

Das Buch

Tom Sutton traf Brophy und Drew Selden im Moor. Diese Begegnung sollte nicht ohne düstere Folgen bleiben. Wer waren die namenlosen unbekannten Männer? Welch seltsames Geheimnis lag hinter dieser Vereinigung von Verbrechern, die erfolgreich das Schicksal herausfordern? Oberinspektor Flagg und sein unermüdlicher Sergeant machen sich ihre eigenen Gedanken über diesen verbrecherischen Geheimbund. Manches Mitglied dieser zusammengewürfelten Gesellschaft, denen sie bei ihren Untersuchungen begegnen, könnte ihnen helfen. Doch sie tun es nicht. Warum? Was haben diese Männer zu verbergen?

Der Roman Das Geheimnis der Namenlosen des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym des Bestseller-Autors William Murdoch Duncan * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1948; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

DAS GEHEIMNIS DER NAMENLOSEN

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Tom Sutton war bereits seit mehr als einem Jahr in Dartmoor, bevor er von den Namenlosen hörte, und dass dies überhaupt der Fall war, verdankte er Brophey. Er kannte Brophey gut und sollte ihn später noch besser kennenlernen. Er war mit Brophey, einem untersetzten, heiteren Mann mittleren Alters, im gleichen Abteil nach Devonshire gefahren, und dieser hatte ihn durch seine Kenntnis der üblichen Formalitäten beeindruckt. Sogar der sture uniformierte Sergeant, der sie begleitete, hatte sich ihm gegenüber höflich benommen, was Sutton sofort auffiel. Später hatte er Brophey besser kennengelernt. Im Laufe der Zeit hatten sie sich bei der Arbeit in der großen Wäscherei oder bei trockenem Wetter auf dem Moor angefreundet, und hier bei dieser letzten Gelegenheit, wenn die Disziplin nachließ und sich die Wärter unterhielten, gab Brophey seine manchmal lehrreichen und stets interessanten Gedanken von sich. Tom Sutton hörte ihnen immer zu und fand sie wertvoll, sogar unterhaltend, denn Brophey war schon früher in Dartmoor gewesen (wenn er dies auch leugnete) und hatte aus seinen Erfahrungen gelernt. Er war Ire, hatte aber den größten Teil seines Lebens in London verbracht. Wie die meisten Iren war er ein guter Unterhalter, und es gab wenige Männer aus seiner Branche, über die der rothaarige Mann nicht einen Kommentar abgeben konnte. Auf diese Weise hörte Tom durch ihn von den verschiedenen Verbrecherbanden und auch zum ersten Male von dem meistgehassten Mann, Chefinspektor Mackay. In Dartmoor gab es Männer, die allabendlich beteten, dass ihn der Blitzstrahl himmlischer Vergeltung treffen möge. Von ihm erzählte Brophey mit mehr Feuer als üblich, denn er war kein leidenschaftlicher Mann.

»Von all diesen elenden, falschen Hunden, Mr. Sutton, ist Mackay der übelste. Was ich Ihnen von dem Burschen erzählen könnte...« Er schloss die Augen vor den entsetzlichen Bildern der Sünde, die vor ihm auftauchten. Tom grinste. Er war es gewöhnt, Ausführungen über diesen vielgelästerten Mann zu hören. »Mackay scheint hier bei niemandem beliebt zu sein.« »Bei mir jedenfalls nicht«, sagte Brophey düster. Sie arbeiteten an einer Straße außerhalb der Gefängnismauer, und der Aufseher ihres Trupps rauchte mit seinem Kollegen von einer anderen Arbeitskolonne eine Zigarette. Eine Spur von Frühling lag in der Luft, und das abweisende Moor hatte im Licht der Aprilsonne etwas von seiner Düsterkeit verloren. Brophey stocherte gemächlich mit seiner Hacke. »Komisch, Mr. Sutton, wie wir zwei zusammengekommen sind. Als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe - und das war auf dem Polizeirevier von Cannon Row -, da habe ich mir gesagt: Der Bursche hat Klasse. Das habe ich mir gesagt - mit diesen Worten.« »Sie schmeicheln, Brophey.« Mr. Brophey schüttelte den Kopf. »Ich kann einen Mann einschätzen.« Er sah Sutton leicht beunruhigt an. »Sie haben ein Diamanthalsband verschwinden lassen, hörte ich.« Tom nickte. »So wird behauptet.« Brophey zupfte an seinen Lippen. Dies war eine kleine Angewohnheit von ihm, wenn er sich konzentrierte. »Gehörte Lady Hammerdale - und war fünftausend wert. Ich habe alles darüber gelesen. Die Polizei hat es nicht gefunden?« Sutton lächelte. »Nein - die Polizei hat es nicht gefunden. Wenn sie sich auch alle Mühe gegeben hat.« Brophey schloss die Augen. »Wer hat den Fall bearbeitet?«

»Inspektor Stead.« »Kenne ich. Ein Gesicht wie ein Schwein und ein Charakter wie eine Klapperschlange! Reines Gift. Fast so schlimm wie Mackay.« Brophey bekundete sein Missfallen, indem er in den Dreck spuckte. »Was für ein Leben! Na ja, ich habe keinen Monat mehr. Und wenn ich erst mal draußen bin, bringt mich kein Polizist von Scotland Yard wieder hierher zurück.« »Nicht mal Mackay?«, fragte Sutton mit einem Zwinkern. Brophey schüttelte entschieden den Kopf. »Nicht einmal der. Bis jetzt habe ich mich immer für mich gehalten, Mr. Sutton. Ich habe nie mit den Großen zusammen gearbeitet, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Ich war so eine Art Einzelgänger. Aber bei den Großen kann man Geld machen, und das werde ich tun. Die Namenlosen sind...«, er unterbrach sich kurz, und Tom Sutton beobachtete ihn interessiert. »Die Namenlosen? Wer ist das, Brophey?« Der Ire hustete. »Hab’ ich was gesagt? Ich habe mich nur versprochen.« Er hob die kräftigen Schultern. »Ich weiß von nichts. Manchmal hört man was von ihnen. Lassen Sie die Sache auf sich beruhen, Mr. Sutton. Es bekommt einem nicht, wenn man von ihnen spricht.« In seiner Stimme lag ein merkwürdiger Ernst, dann fuhr er fort: »Schlucken Sie’s hinunter! - Da kommt Catcheside.« Die stämmige Gestalt des Wachmannes schlenderte auf sie zu. »Was redet ihr da?«, fragte er, und Brophey grinste. »Wir haben uns gerade über das Lied unterhalten, das Sie neulich abends bei dem Konzert gesungen haben, Mr. Catcheside. Was für eine Stimme! Ich weiß nicht, ob ich schon mal so was gehört habe.« Catcheside brummte. »Hm - redet anderswo darüber.« Er ging weiter, und Brophey verzog hochmütig die Lippen, dann verschärfte sich plötzlich sein Blick. »Hallo - was ist denn jetzt?« Fünfundzwanzig Meter weiter blieb die stämmige Gestalt stehen. Einer der

Sträflinge von der anderen Arbeitskolonne hatte sich genähert, und Catcheside sprach einen Augenblick mit ihm. Sie sahen, wie der Wachmann den Kopf schüttelte, und der Mann zuckte die Schultern. Brophey pfiff leise. »Sieh mal einer an, wer da ist. Ich wusste gar nicht, dass der bei uns ist.« In seiner Stimme lag beachtliches Interesse. Tom Sutton sah auf. »Wer ist es denn?« »Selden«, sagte Brophey. »Drew Selden. Haben Sie schon von ihm gehört?« Suttons Augen verengten sich. »Der Mörder von Hammersmith?«, fragte er scharf. Selbst er hatte schon von Drew Selden und seiner ganz speziellen Niedertracht gehört. »Ganz recht«, bestätigte Brophey. »Ich möchte wissen, was der gewollt hat. Der alte Catcheside sieht nicht gerade beglückt aus, was? Selden ist das reine Gift. Er ist früher schon hier gewesen und kennt jeden Trick. Die Wachleute hassen ihn wie die Pest, weil er so viele Scherereien macht.« Tom Sutton beobachtete den Mann mit ruhigen Augen. Er war von durchschnittlicher Größe, hatte aber breite Schultern und war kräftig gebaut, und das Haar, das unter der Sträflingsmütze herausguckte, war grau. Für einen Moment blickte der Mann in seine Richtung, und Sutton erkannte starke, klargeschnittene Züge in einem ausdruckslosen Gesicht. Dann hörte er, wie Brophey sagte: »Selden ist schwierig. Es wird behauptet, eine Zeitlang hätte er den Verstand verloren. Er war fast ein Jahr in Brooor.« Tom nickte. »Ich habe davon gehört. Stimmt das?« Der kräftige Mann grinste. »Aber sicher. Ich kannte einen Burschen, der mit ihm im gleichen Block in Chelmington zusammen war, und der sagte, es wäre schauerlich gewesen, wie sich Selden aufgeführt hat. Er hat stundenlang geschrien.« Er betrachtete die mächtige Gestalt des Sträflings. »Das ist einer, von dem man sich besser fernhält, Mr. Sutton.«

Tom Suttons Aufmerksamkeit war nun auf die Straße gerichtet. Dann, nach einem Augenblick sagte er: »Wer hat ihn kassiert?« »Selden? Das war Mackay. In ein paar Monaten möchte ich nicht in dessen Schuhen stecken; Selden wird ungefähr um die gleiche Zeit entlassen wie wir.« Sutton beobachtete, wie die graue Gestalt wieder zur Arbeit zurückkehrte. Selden hatte einen schlimmen Ruf. Dass er für seine Missetaten hätte hängen müssen, war allgemein bekannt. Er drehte sich zu Brophey um. »Er hat einen Ladeninhaber umgebracht, nicht?« Brophey nickte. »Einen Juwelier unten in Hammersmith. Aber dafür haben sie ihn nicht belangen können.« »Warum nicht?« Der Ire zuckte die Schultern. »Selden ist klug wie eine Schlange, Das sind diese Verrückten alle. Man weiß, dass er Untersohn ermordet hat, aber man konnte es ihm nicht beweisen. Selden benutzt ein Messer. Es ist ziemlich schwer, ein Messer vom anderen zu unterscheiden. Und das Messer wurde ohnehin nie gefunden. Nein - sie haben nicht beweisen können, dass es Mord war. Aber Mackay hat ihm nach seinem Freispruch ein paar Monate anhängen können wegen einer Kleinigkeit, für die er gar nicht verantwortlich war.« Er wandte sich wieder seiner Graberei zu, da Catcheside näher kam. Der dicke Wachmann runzelte im Näherkommen die Stirn. Einen Augenblick lang stand er schweigend da, dann sagte er: »Noch ein paar Minuten, und wir machen Schluss.« Brophey seufzte: »Ich habe nichts dagegen, Mr. Catcheside.« Einer der Uniformierten blies einmal kurz in die Trillerpfeife, und Brophey hob seine Schaufel. »Wieder ein Tag vorüber. Was ist das für ein Leben, Mr. Sutton! Aber hinterher werde ich mich dafür schadlos halten. Warten Sie’s ab.« Sutton lachte leise. »Wer sind diese berühmten Namenlosen, Brophey?«

Die Augen des Iren begegneten den seinen. In ihrer Tiefe lag ein merkwürdiges kleines Licht. »Ich habe diese Burschen damit gar nicht gemeint, Mr. Sutton. Das war ein Irrtum - ich habe mich versprochen. Besser, Sie vergessen, dass ich sie jemals erwähnt habe.« Sutton rieb sich langsam sein eckiges Kinn. »Ungesund, was?« »Gift für jeden, der nicht dazu gehört.« Er wandte sich ab, da Catcheside, begleitet von dem übrigen Trupp, herankam. Dann sagte er aus einem Mundwinkel: »Reden Sie vor diesen Burschen nicht davon, Mr. Sutton. Das ist gefährlich. Später sprechen wir noch darüber - aber nicht hier. Diese Herde von Gaunern ist mir zu unsicher.« Die Herde von Gaunern wurde von dem melancholischen Catcheside aufgerufen; sie mussten sich zu zweit formieren, und als sie sich in Bewegung setzten, hörte Sutton Bropheys unterdrücktes Fluchen. Neben ihm ertönte ein leises kaltes Lachen. Er drehte sich nach links um und blickte in zwei graue stahlharte Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, dass etwas eisig sein Herz berührte, denn dies waren die Augen eines Mörders. »Wie heißen Sie, Kollege?«, fragte Drew Selden leise. Sutton hielt erstaunt den Atem an, denn es war die Stimme eines gebildeten Mannes. »Sutton.« Seldens hagere Züge zeigten leichtes Interesse. »Sutton? Ich erinnere mich. Irgendwelche Schwierigkeiten mit einem Halsband nicht wahr...?« Der stämmige Catcheside war bei ihnen angelangt. »Hier wird nicht gesprochen, Selden.«

Die hageren Züge verhärteten sich zu Granit, aber der Mann schwieg. Kurze Zeit trotteten sie weiter, dann hörten sie vor sich das Geräusch eines Wagens, der in einem niedrigen Gang dahergefahren kam. Gleich darauf tauchte er auf; es war ein langes elegantes Sportkabriolett, glänzend wie schwarze Emaille. Am Steuer saß ein Mann, daneben ein Mädchen. Plötzlich bemerkte Sutton, dass der Wagen hielt. Der Mann beugte sich heraus. Jetzt winkte er einem der Wachmänner, und Sutton hörte, wie er sprach. »Wir sind von der Straße abgekommen - wir möchten nach Princetown.« »Sie fahren in der falschen Richtung - drehen Sie besser um.« Die Sträflinge waren stehengeblieben. Jetzt wendete der Wagen, und Tom Sutton sah das lange gelbe Gesicht des Fahrers. Nichts in den schweren Zügen kam ihm bekannt vor, trotzdem interessierten sie ihn. Dann hörte er, wie Brophey hinter ihm scharf den Atem einzog. »Creed«, flüsterte er. »Hamilton Creed.«

Trotz der leisen Stimme hatte Selden ihn gehört und fuhr herum. »Was wissen Sie von Hamilton Creed?« Brophey war bleicher als gewöhnlich. »Ich habe ihn mal getroffen, Selden. Geschäftlich – rein geschäftlich.« Der große Wagen hatte jetzt ganz gewendet, und als er herumschwang, wurden die Züge des Mädchens im Profil sichtbar. Sie war jung und sehr blond. Ein teurer Pelz hing lose über den zarten Schultern. Mit neugierigen Augen musterte sie die schäbigen menschlichen Gestalten, die da vor ihr aufgetaucht waren. Sie zitterte leicht vor Abscheu, und dann fuhren ihre Finger hinauf zu ihrem Hals. Dort schimmerte etwas golden und glänzend, und jetzt trafen ihre blauen Augen auf Tom Suttons braune, und sein Herz tat einen Sprung. Das war Wenda! Wenda le Seur! Er hielt den Atem an. - Würde sie ihn erkennen? Würde sie sprechen?

Ihre Augen schweiften ab. Kein Erkennen, kein Mitleid, kein Interesse lag in ihnen. Er war einer aus dem schäbigen grauen Haufen. Er lachte bitter. Dann merkte er plötzlich, dass jemand sprach. »Wer ist die Puppe? Die ist ’ne Wucht.« Brophey hustete. »Muss eine Freundin von Creed sein.« Der große Wagen hatte jetzt gewendet. Hamilton Creed sah sich nicht mehr um, ebenso wenig das Mädchen. Sutton registrierte das automatisch, so wie er die meisten Dinge registrierte. Die nächste halbe Stunde trotteten sie die harte, steinige Straße entlang, und während sie gingen, war Tom Sutton mit einem Problem beschäftigt, das nur ihn betraf. Was hatte Wenda le Seur nach Devonshire gebracht? Doch als die großen steinernen Mauern des öden Gefängnisses vor ihm auftauchten, war er noch zu keinem befriedigenden Schluss gekommen.

Zweites Kapitel

Eine Zeitlang fuhr Hamilton Creed schweigend weiter, dann wandte er sich an das Mädchen neben ihm. Er war ein großer, schwerer Mann, seine Züge waren dunkel, als stamme er aus einem Land, wo die Sonne wärmer schien als in England. Sein Haar war dicht und glänzend, und seine Zähne waren sein berechtigter Stolz. Jetzt lächelte er. »Ungewöhnlich«, sagte er. Wenda le Seur sah zu ihm auf. Sie war sehr zart und blond. Sie besaß die Art von Schönheit, die Männer gern als ätherisch bezeichnen, was jetzt noch von der Blässe ihrer Wangen unterstrichen wurde. Sie nickte. »Ja - ich hätte beinahe laut geschrien, als ich ihn da sah, Mr. Creed. Glauben Sie, dass er mich erkannt hat?« Sie zitterte leicht. Creed überlegte. »Vielleicht nicht. Er kann nicht erwartet haben, Sie hier zu sehen. Andererseits kennt er Sie gut.« Er zuckte mit seinen starken Schultern.

»Im Grunde spielt es auch keine Rolle.« Er lachte leicht auf. »Oder etwa doch? Er war ein äußerst ritterlicher junger Mann, und vielleicht kann er einmal nützlich sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.« Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Sekundenlang sah sie auf das öde Moor hinaus. »Merkwürdig, dass wir ihn hier getroffen haben! Beinahe wie Schicksal, nicht?« Ihre Augen glitten über die traurige Landschaft. »Schrecklich, hier zu leben! Ich habe das Gefängnis gesehen. Es überläuft mich eiskalt, wenn ich daran denke. Es sieht grausig aus, so unmenschlich...« Mr. Creed räusperte sich kurz. »Das soll es ja auch sein. Die Männer, die hierherkommen, verdienen es nicht besser. Es sind gewöhnliche Verbrecher - ein armseliger, dummer Haufen.« »Tom Sutton war kein gewöhnlicher Verbrecher.« »Sutton besitzt ein überentwickeltes Gefühl für Ritterlichkeit. Auf jeden Fall können schwerlich viele Männer wie Sutton in Dartmoor sein!« Er lehnte sich zurück und fuhr schweigend weiter; es dauerte eine Weile, bis sie wieder sprach. »Wann kommt er heraus?« Hamilton Creed überlegte. »Sehr bald. Es kann kaum mehr als ein Monat sein. Haben Sie Angst vor ihm?« In seinen dunklen Augen lag ein seltsames Glitzern. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Angst vor ihm. Sutton ist ein Gentleman.« Er lachte leicht. »Ich glaube, Sie haben recht. Nicht einmal Dartmoor kann ihn ändern. Er hat gesehen, wie Sie das Halsband nahmen, nicht?« »Er sah, wie ich aus dem Zimmer ging, und er wusste, dass ich es genommen hatte. Es war wirklich großartig von ihm...«

Er sah sie prüfend an. »Tut es Ihnen leid?« Wenda le Seur lachte schrill. »Nein. Warum auch? Aber es hat mir einen Stoß versetzt, ihn so zu sehen. Ob er mich erkannt hat?« In ihre Augen trat flüchtig ein harter Ausdruck. »Ist auch egal. Wann kommen wir endlich zu diesem verdammten Haus?« Hamilton Creed hüstelte. Barsche Redensarten missfielen ihm, erklärte er. »Mrs. Rutter ist eine meiner ältesten Klientinnen, Wenda, und in mancher Beziehung etwas - altmodisch. Ich möchte nicht, dass Sie in ihrer Gegenwart so sprechen. Sie^ selbst ist sehr - damenhaft. Ihr Vater war der jüngste Sohn eines Earls...« Sie war wenig beeindruckt. »Ich e schon auf, keine Angst. Ich habe mich schon in allen möglichen Gesellschaftskreisen bewegt. Immerhin habe ich an einem Tisch mit einem Herzog gesessen. Solche Leute sind für mich kein Problem.« »Wahrscheinlich werden Sie bei Mrs. Rutter wenig Ähnlichkeit mit Ihrem Herzog entdecken«, sagte er trocken. »Auf jeden Fall, seien Sie vorsichtig. Ich möchte ihr keinen Anlass zu Ärgernis geben, denn die geschäftliche Verbindung zu ihr ist für mich sehr wichtig.« Er sah auf die Uhr am Armaturenbrett. »Wir müssen in ein paar Minuten in Battery House sein.« Während er sprach, hob sich die Straße vor ihnen und senkte sich dann wieder in eine kleine Niederung. Hier erhob sich, flankiert von den Ausläufern eines Tannenwaldes, ein großes graues Haus. Mr. Creed seufzte. »Battery House. Noch ein oder zwei Minuten - meine Liebe, Sie werden Mrs. Rutter sehr liebenswürdig finden - eine reizende Frau, aber ohne jeden Sinn für geschäftliche Dinge. Ihr armer Mann war von völlig anderem Schlag. Er war einer der tüchtigsten Männer, die ich je erlebt habe.« Dies interessierte sie wenig. »Ist er tot?«

»Er ist schon vor vielen Jahren gestorben.« Hamilton Creed strich mit einer wohlmanikürten Hand über seinen schwarzen Schnurrbart. »Vor vielen Jahren«, wiederholte er. »Auch ein reizender alter Herr. Aber so ist das Leben, meine Liebe. Ich habe mich gerade neulich in der Kanzlei über ihn unterhalten - mit Mr. Bosanquet, dem jungen Mr. Bosanquet.« Sie hatte von dem »jungen Mr. Bosanquet« gehört, und da sie einige Erfahrungen mit Juniorpartnern in Rechtsanwaltskanzleien besaß, überlegte sie, wie jung er wohl genau war. »Hat Mr. Bosanquet ihn gekannt?« Hamilton Creed schüttelte bedauernd den Kopf. »Unglücklicherweise nicht. Der junge Bosanquet ging noch zur Schule, als Mr. Rutter starb. Das war zu Lebzeiten des alten Mr. Bosanquet, seines Onkels. Nun ja, wie die Zeit vergeht.« Sie hatten jetzt das Parktor erreicht, und sie sah, dass es geschlossen war. Hamilton Creed drückte auf die Hupe, und sofort öffnete sich die Tür des Pförtnerhauses und ein großer alter Mann erschien. Sekundenlang starrte er sie bösartig an, dann trat ein Ausdruck des Erkennens in seine Augen, und gleich darauf hatte er das große Tor geöffnet. Hamilton Creed nickte dankend. »Guten Tag, Gallows. Wie geht’s?« Der alte Mann nickte kurz. »Gut, Sir.« Aber in seinen Worten lag keine Freundlichkeit. Sie schauderte leicht, als sie die lange Auffahrt entlangfuhren. »Was für ein unangenehmer alter Kerl!« »Aber ein treuer Diener. Soviel ich weiß, ist er seit zwei Generationen im Dienst von Mrs. Rutters Familie und ihr völlig ergeben.« Die Auffahrt öffnete sich auf einen weiten abfallenden Rasen, und dann türmte sich das Haus vor ihnen auf. Creed fuhr vor den breiten steinernen Stufen vor. Als sie hinaufstiegen, öffnete

sich die große Eichentür, und sie sah den weißen Kopf eines schmächtigen Dieners. Er verbeugte sich ehrerbietig. »Guten Tag, Sir. Madam erwartet Sie.« »Gut, gut.« Hamilton Creed reichte ihm seinen Hut. »Wie geht es Mrs. Rutter, Jepson?« Der Butler neigte den Kopf. »Wie üblich, Sir. Doktor Mardike war heute Morgen hier.« Hamilton Creed half dem Mädchen aus dem Mantel. Jetzt wandte er sich um. »Führen Sie Miss le Seur in den Wintergarten, Jepson, während ich Mrs. Rutter begrüße.« Offensichtlich war er ein häufiger Besucher, denn er ging mit einem Nicken die Treppe hinauf, und Wenda le Seur hörte, wie er oben auf dem Flur entlangging. In der Mittelwand befand sich ein großer Spiegel, in dem sie sich musterte, während der alte Mann geduldig zurücktrat. Sie sah sich neugierig um. Sie hatte schon viele reiche Hä gesehen, aber kaum eins hatte sie so beeindruckt wie dieses. Die Decke über ihr erhob sich wie in einem stolzen Dom mit Streben und Wölbungen. Die niedrigeren Wände waren mit Eiche getäfelt, und in der Mitte der Halle stand ein großer massiver Kamin aus schwarzem Marmor. Sie hielt bewundernd den Atem an. »Wirklich sehr schön. Nicht?« Jepson neigte den Kopf. »Ich habe schon viele Menschen diese Ansicht äußern hören, Miss le Seur.« Er ging ihr voraus, öffnete eine Tür, die in einen langen eichengetäfelten Raum führte, und von hier aus weiter in ein helles Zimmer, dessen Fenster nach Süden ging. Hier verließ er sie, und einen Augenblick lang blieb sie unschlüssig stehen, dann ging sie weiter und sah auf den Rasen hinaus. Er breitete sich vor ihr aus wie ein grüner Teppich. Hier war Schönheit, und zwar eine Art von Schönheit, die selbst dieses zwischen

den Lichtern und Sensationen der Großstadt aufgewachsene Mädchen erkennen musste. Es war mehr als Schönheit - es war eine Atmosphäre von Ruhe und Frieden und Luxus, die sie bereits in der großen Halle bemerkt hatte. Sie betrachtete ein kleines buntes Aquarell, das auf einem Tisch neben ihr stand, als sie hörte, wie jemand näher kam. Einen Augenblick später erschien Hamilton Creed, und aus seinem Lächeln war leicht zu ersehen, dass seine Unterredung mit Mrs. Rutter zufriedenstellend verlaufen war. »Ah - da sind Sie! Was halten Sie von Battery House?« »Es scheint sehr schön zu sein. Ich habe noch nicht viel gesehen, aber...« Er rieb sich seine fleischigen Hände. »Und jetzt gehen wir nach oben zum Tee. Mrs. Rutter fand es sehr interessant, dass ich jemanden mitgebracht habe - eine so charmante junge Begleitung.« In der Nähe klang der gedämpfte Ton eines Gongs, und Hamilton Creed öffnete leise die Tür. »Tee«, sagte er ehrfürchtig. Im Flur begegneten sie Jepson, der ein Silbertablett trug. Sie gingen nach oben in ein Zimmer, wo ein Tisch und bequeme Sessel vor den Kamin gestellt worden waren. Das Zimmer war, soweit das Mädchen mit einem Blick sehen konnte, leer. Hamilton Creed sah sich um. »Das ist Mrs. Rutters Wohnzimmer«, sagte er flüsternd. Sie hörte kaum zu, da ihre Augen auf einen silbernen Bilderrahmen gefallen waren; von dem Foto blickte ihr etwas töricht ein blonder, junger Mann mit Schnurrbart entgegen. Creed hörte, wie sie einen leichten Laut des Erkennens ausstieß. »Was ist?« In seiner Stimme lag ein stählerner Klang. Sie war an den Kaminsims getreten und schaute auf das Foto, dann wurde sie sich des großen Mannes an ihrer Seite bewusst.

»Kennen Sie ihn?« Sie nickte. »Ja - da ist Lewis Slesser.« Sie wandte sich ihm leicht erstaunt zu. »Ich kenne ihn ganz gut. Ich habe ihn getroffen, als ich im Chor von The Jade Butterfly mitmachte. Er war ein Freund von Linda Rea...« Sie sah, wie er erstarrte. »Kennen Sie ihn gut?« Sie lachte grell. »Ziemlich gut, kann ich wohl sagen. Was hat das hier alles zu bedeuten, Mr. Creed? Wie kommt das Bild hierher? Mir scheint, dass Mrs. Rutter noch altmodischer ist, als Sie glauben.« Für eine Sekunde glaubte sie, sie sei zu weit gegangen, da ein tiefes Rot die Backen des Anwalts färbte. Sie spürte seine Hand auf ihrem Arm, und sein Griff war wie Stahl. »Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen, Wenda.« Seine Stimme war sanft, doch in seinen Augen lag etwas, das sie erzittern ließ. Sie wusste, dass sie blass geworden war. »Es tut mir leid, Mr. Creed.«

Sein Griff lockerte sich, und als er sprach, klang seine Stimme fast gut gelaunt. »Schon gut.« Er betrachtete das Bild mit Missfallen. »Lewis Slesser - natürlich.« Das Mädchen war verwirrt. »Warum steht sein Foto hier?« Einen Augenblick lang glaubte sie, er habe sie nicht gehört, da er nicht antwortete. Offensichtlich dachte er selber über diesen Zufall nach; und sie hatte das Gefühl, als sei er ebenso verwundert wie sie. Dann zuckte er die Schultern.

»Ich weiß nicht, es spielt auch keine Rolle. Aber erwähnen Sie es Mrs. Rutter gegenüber nicht, dass Sie Slesser kennen. Wenn Sie neugierig sind - fragen Sie ihn selber.« Im Flur klangen Schritte, und die Tür öffnete sich. »Ah, da sind Sie ja, meine liebe Mrs. Rutter - Miss le Seur, dies ist Mrs. Rutter, von der ich so oft erzählt habe.« Martha Rutter war eine dünne leblos wirkende Frau unbestimmbaren Alters. Ihre Wangen waren hohl und ihre dunklen Augen matt. Sie streckte ihre schwache, kalte Hand aus, deren Finger mit Ringen bedeckt waren. »Wie geht es Ihnen? Sie sind sicher müde und brauchen einen Tee. Jepson bringt ihn. Läuten Sie ihm, Hamilton.« Ihre Stimme wirkte so leblos wie ihre Erscheinung. Hamilton Creed läutete und schloss gleich darauf die Tür hinter dem Butler. »Sie sind aus London?« Martha Rutter sah das Mädchen interesselos an. Sie schien sich zu dieser Konversation zu zwingen. Wenda nickte. »Ja, ich bin in London geboren.« »Mein Mann lebte nur für die City.« Ihre Augen glänzten leicht auf, und für einen Moment wurde sie fast lebendig. »Er war sehr stolz auf London und verbrachte die meiste Zeit dort.« Sie nahm die Tasse Tee, die Hamilton Creed ihr eingeschenkt hatte. »Vielen Dank. Hamilton ist so tüchtig - so fähig. Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne ihn anfangen sollte, Miss le Seur. Es ist so beruhigend, einen fähigen Mann um sich zu haben.« Der Anwalt grinste. »Sie schmeicheln mir zu sehr, Mrs. Rutter.« Er sah sich um. »Miss le Seur hat Ihr Zimmer bewundert.« Die matten Augen wandten sich dem Mädchen zu. »Wie nett von Ihnen. Es ist ein schönes Zuhause - aber so brauche ich es. Ich gehe kaum fort. Ich bin krank, müssen Sie wissen.« Sie schüttelte den Kopf, als

die jüngere Frau sprechen wollte. »Nein - nichts Organisches. Nur die Nerven ich schlafe kaum. Es gibt so viele Dinge, die einen beunruhigen. Der Besitz Aktien und Anlagen. Ich bin an vielem beteiligt: Mein lieber Mann war Geschäftsmann, und seine Transaktionen waren so umfassend!« Sie seufzte, als sei das Gewicht von so viel Verantwortung zu viel für sie. Hamilton Creed hüstelte. »Aber, aber, Mrs. Rutter, Sie regen sich auf.« »Ohne Hamilton wäre ich verloren«, sagte sie, und Wenda le Seur war bereit, dies zu glauben. Die alte italienische Uhr begann zu schlagen, und Hamilton Creed sah zu ihr auf. »Vier Uhr. Ich hatte keine Ahnung, dass es schon so spät ist.« Er blickte zu dem Mädchen hinüber. »Wir werden bald zurückfahren, aber vorher muss noch etwas Geschäftliches erledigt werden.« Er schüttelte heiter den Kopf. »Geschäfte, Geschäfte! Wie herrlich wäre die Welt ohne Geschäfte.« Wenda erhob sich. »Dann entschuldigen Sie mich bitte. Ich gehe in Ihr bezauberndes Zimmer hinunter und warte.« Martha Rutter streckte die Hand aus. »Werden Sie mich wieder einmal besuchen?« Doch in ihrer Stimme lag keine Begeisterung. Wenda nickte. »Schrecklich gern.« »Irgendwann einmal, wenn Hamilton hier zu tun hat...« Sie wandte sich mit einem leichten Nicken an den Anwalt, und Wenda le Seur verließ das Zimmer. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und sah auf die Wiesen hinaus, die sich im weichen Licht des Nachmittags vor ihr ausbreiteten. Sie dachte an die leere Hülle dieser Frau, die sie eben verlassen hatte, und der Teufel des Neides erwachte in ihrem Herzen. Hier waren die Dinge, die sie sich so sehr wünschte. Reichtum - Luxus - alles, wovon sie immer geträumt hatte - alles, was sich eine Frau vom Leben erhoffte. Jemand bewegte sich in der Nähe, und sie drehte sich um. Die gebrechliche

Gestalt von Jepson, ein silbernes Tablett in der Hand, erschien auf der Treppe über ihr. Sie wartete, bis er näher kam, und sagte: »Können Sie mich in das Sonnenzimmer zurückführen, Jepson?« »In den Wintergarten«, sagte er, und sie nahm die Verbesserung unbeanstandet hin, da in diesem Augenblick eine Idee in ihr Gestalt annahm. Eine halbe Stunde später fand Hamilton sie in dem Wintergarten. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange habe warten lassen, Wenda, aber ich musste ein Dokument für Mrs. Rutter vorbereiten. Es war ziemlich verwickelt, und ich brauchte dazu länger, als ich gedacht hatte. - Wie fanden Sie übrigens Mrs. Rutter?« Sie schwieg einen Augenblick lang. »Etwas rührend - und hilflos. Nicht? Ist sie sehr reich?« Hamilton sah gegen die Decke. »Sehr reich. Mr. Rutter war Millionär. Ich glaube nicht, dass die arme Frau überhaupt weiß, wieviel Geld sie besitzt. Bosanquet und ich haben uns gerade neulich darüber unterhalten.« »Verwaltet Mr. Bosanquet auch ihr Vermögen?« Creed öffnete seinen großen Mund. »Der junge Bosanquet? Natürlich, ja... Er weiß darüber im Grunde sogar mehr als ich. Warum fragen Sie?« Sie lachte, während er ihr in den Mantel half. »Aus keinem besonderen Grund. Irgendwann möchte ich den jungen Mr. Bosanquet einmal kennenlernen.« »Tatsächlich?« Seine Stimme klang sanft. Sie nickte. »Ja, wirklich. Können Sie das nicht mal arrangieren, Mr. Creed?« Er blickte in ihre Augen.

»Vielleicht«, sagte er ausdruckslos, »aber beten Sie, dass es nie geschehen möge. Denn an dem Tag, an dem Sie Mr. Bosanquet treffen, begegnen Sie dem Tod!«

Drittes Kapitel

Ungefähr drei Monate später wurde Tom Sutton ins Büro des Direktors gerufen; er begab sich leicht amüsiert dorthin. Captain Allan war ein großer, energischer Mann, der einem berühmten Regiment angehört hatte; seine kalten blauen Augen hatten ihm wahrscheinlich während seiner militärischen Laufbahn viele Feinde eingebracht. Er wies den diensthabenden Wachmann aus dem Zimmer und betrachtete den großen jungen Mann voller Interesse. »Nun, Sutton, Sie sind entlassen.« Tom Sutton nickte. »Ja, Sir.« »Sie sind ein interessanter Junge, Sutton. Sie haben wegen des Diebstahls des Hammerdale-Halsbandes Gefängnis bekommen. Ich habe mir Ihre Akten angesehen - die Polizei hat das Halsband nie gefunden. Eine merkwürdige Angelegenheit.« Sutton grinste. »Dessen bin ich nicht so sicher, Sir. Die Polizei ist auch nicht allwissend - nicht einmal Scotland Yard.« Captain Allan runzelte die Stirn. »Die Polizei ist fähiger, als die meisten Menschen annehmen - aber das nur nebenbei. Für gewöhnlich gebe ich bei einer solchen Gelegenheit den Männern ein paar harte Ratschläge mit auf den Weg. Ich glaube nicht, dass das bei Ihnen nötig ist, und ich möchte Ihnen nur etwas raten: Falls Sie das Halsband der Lady Hammerdale versteckt haben - schicken Sie es zurück und fangen wieder von vorn an. Sie werden es nicht bedauern. - Lady Hammerdale tat die Sache

sowieso schrecklich leid. Hammerdale hat geschworen, es müsste ein Irrtum sein und Sie könnten es gar nicht genommen haben...« Tom Suttons Augen leuchteten plötzlich auf. »Das sieht dem alten Herrn ähnlich! Kennen Sie ihn?« Allan nickte kurz. »Ja. Er hat mir ein- oder zweimal Ihretwegen geschrieben. Die ganze Sache interessierte ihn. Erst vor ein paar Monaten hat ein Beamter von Scotland Yard ihn wieder auf gesucht.« Tom Sutton war erstaunt. »Vor ein paar Monaten? Ich dachte, der Yard hätte die Angelegenheit längst begraben.« »Der Yard vergisst keinen Fall. Es war der Mann, der vor kurzem ermordet worden ist - Mackay. Chefinspektor Mackay.« Tom Sutton sah ihn an. »Chefinspektor Mackay?« »Ja, kennen Sie ihn?« »Ich habe von ihm gehört - und wenig Gutes.« Er dachte an Brophey, der vor sechs Wochen entlassen worden war. Ja - sehr wenig Gutes. Er ist ermordet worden?« »Ja«, sagte Allan steif. Er drückte auf die Klingel neben sich. »Auf Wiedersehen, Sutton. Kommen Sie nicht wieder.« Tom Sutton ging nachdenklich fort. Mackay hatte Nachforschungen in bezug auf das Hammerdale-Halsband angestellt. Das war etwas, was ihn gleichzeitig interessierte und wunderte. Und Mackay war tot - ermordet! Bropheys Gebete waren erhört worden. Wie mochte dieser berühmte Verbrecherjäger geendet haben? Der Mord an einem Polizeibeamten war in England ein seltenes Verbrechen. Wahrscheinlich würde dies ein Problem sein, mit dem sich Scotland Yard eine Zeitlang zu beschäftigen hatte.

Eine halbe Stunde später stand er als freier Mann draußen vor dem großen Tor. Er fuhr nach Waterloo. In der South Audley Street besaß er eine kleine Wohnung, die er nie aufgegeben hatte, eine Tatsache, über die er jetzt sehr froh war. Hier wollte er eine Weile bleiben und einen Mann suchen, der ihn betreute. Er entsann sich eines Mannes aus seiner alten Kompanie, der der richtige hierfür war, und er hatte auch das Gefühl, dass Dicey mit einer Erneuerung ihrer Beziehungen einverstanden sein würde. Der Zug hatte Waterloo erreicht, und er erhob sich etwas steif, reckte seine langen Beine und schloss sich der Schlange an der Sperre an. Als er hindurchging, warf er einen leicht amüsierten Blick auf einen grauhaarigen Mann mit aufrechter Haltung, der untätig neben der Sperre herumstand. Er wusste sehr wohl, dass die Polizei die meisten Fernzüge beobachtete, und er überlegte, ob dieser athletische Mann, der wie ein Sergeant der Garde aussah, von der Tatsache, dass er nach London fuhr, unterrichtet war. Er ging durch die Halle, als er eine Hand auf seinem Arm fühlte, sich umdrehte und in zwei blaue Augen sah. »Erinnern Sie sich an mich, Mr. Sutton?« Tom Sutton sah ihn an. »Brophey!« Mr. Brophey nickte erleichtert. »Ich hatte Angst, Sie würden mich nicht erkennen...«, begann er, und Tom grinste. »Und mit einigem Grund. Mit Ihnen ist es scheinbar aufwärtsgegangen. Sie sehen toll aus.« Er trat zurück, um seinen alten Bekannten besser bewundern zu können. Er betrachtete Brophey von der Spitze seines perlgrauen Hutes bis zu seinen hellbraunen Schuhen; vom Knoten seines Seidenschlipses bis zu dem großen Rubinring, der an einem der dicken Finger steckte. »Als wir zuletzt zusammen waren, sah die Sache anders aus, Mr. Sutton. Jetzt sehen Sie mich, wie ich wirklich bin. Wie finden Sie den Anzug?« »Phantastisch!« »Meine ich auch. Hat mich einen Haufen Geld gekostet, aber er ist es wert.

Außerdem kann ich es mir leisten.« Er zwinkerte mit einem Auge. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Geld verdienen würde. Oder etwa nicht?« Sutton grinste. »Das haben Sie getan.« Brophey nickte gelassen mit dem Kopf. »Ich bin hergekommen, um Sie zu treffen, Mr. Sutton. Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen reden.« Er sah sich mit leichtem Abscheu um. »Nicht weit von hier entfernt kenne ich ein kleines Lokal. Dort könnten wir hingehen. Ich unterhalte mich nicht gern in der Öffentlichkeit, und was ich zu sagen habe, ist wichtig.« Sutton wurde neugierig. »Woher wussten Sie, dass ich heute kommen würde?« Der Ire grinste. »Ich weiß eine Menge Sachen. Aber davon später. Meine Information lautete, Sie würden hier sein - und hier sind Sie.« Sie verließen den Bahnhof, und Brophey ging auf ein kleines, gut aussehendes Restaurant zu. Über einem Kotelett mit grünen Erbsen wurde er vertraulich. »Ich nehme an, Sie sind erstaunt, Mr. Sutton, mich so wiederzusehen. Und wissen Sie, was mich hierher gebracht hat?« Tom schüttelte den Kopf, und Brophey lächelte selbstzufrieden. »Tja - ich habe Glück gehabt. Ich mache mehr Geld, als ich je in meinem Leben gesehen habe - oder jedenfalls erwarte ich das. Ich nehme an, Sie könnten auch welches gebrauchen - dann kann ich ein Wort für Sie einlegen.« »Bei wem?«, fragte Sutton interessiert. Der Ire fuhr sich mit seiner haarigen Hand über den Mund. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Sutton. Diese Leute haben keinen Namen - oder wenn sie Namen haben, hört man sie nicht. Sie sind mächtig...« Er beugte sich näher. »Es ist das größte Unternehmen in England. Wenn sie wollen, sind Sie über Nacht ein gemachter Mann.«

Sutton lehnte sich zurück. »Die Namenlosen?« Brophey war verletzt. »Aber, Mr. Sutton, habe ich das gesagt? Habe ich diese Leute erwähnt? Nein, niemals.« Er senkte seine Stimme ein wenig. »Diese Leute können Sie brauchen. Sie sind ein Gentleman, und niemand wird Sie für etwas anderes halten, und wenn ich ein Wort am richtigen Platz äußere...« Er wartete. Sutton rieb sich nachdenklich das Kinn. »Sie sind ein lieber Kerl, Brophey, aber ich bin nicht sicher...« Der Ire nickte. »Sie können es sich noch ein paar Tage überlegen. Die Namenlosen sind die größte Sache, die es je in London gegeben hat; und wenn ich sage London, dann meine ich England - und Europa dazu. Sie haben alles: Organisation, Klasse, Männer, Geld - einfach alles. Die Polizei kann sie nie kleinkriegen.« In seiner Stimme lag grimmiger Ernst. »Ich mache Ihnen einen großartigen Vorschlag, Mr. Sutton- ich mag Sie leiden, und wie ich schon gesagt habe, wenn ich einen Burschen mag, dann mag ich ihn richtig.« »Für so eine Sache bin ich kaum trainiert, Brophey.« »Bei diesen Leuten wären Sie jemand. Ich berichte Ihnen Tatsachen. Ich könnte so was nie. Ich rede viel, aber ich kenne meine Grenzen. Ich bringe es nicht, so weit. Trotzdem mache ich Geld. Ich würde Sie gern da oben sehen.« Sutton lächelte kühl. »Ich werde darüber nachdenken. Aber ich habe meine Zeit in Dartmoor abgesessen und keine Lust zurückzugehen.« Brophey wischte mit einer Handbewegung eine derartige lächerliche Möglichkeit beiseite. »Sie kommen nicht nach Dartmoor zurück. Diese Leute machen keine Fehler. Es gibt bei Scotland Yard keinen Mann, der Sie auch nur anrühren könnte, wenn Sie bei den Namenlosen sind.« Tom Sutton grinste. »Ich habe gehört, Mackay ist tot.«

Brophey holte tief Atem. »Solche Dinge geben einem den Glauben an die Menschheit wieder.« Er unterbrach sich plötzlich, und Sutton merkte, dass jemand neben ihnen stand. Er sah auf und erblickte einen großen muskulösen Mann in Schwarz und hörte, wie Brophey den Atem anhielt. »Wenn das nicht Mr. Stacker ist.« »Richtig«, sagte Mr. Stacker. Er trug eine altmodische Melone, die er sich nicht abzunehmen bemühte. Er hatte sehr lange Arme, und seine Hände waren die größten, die Tom je gesehen hatte. Plötzlich setzte er sich nieder. »Wer ist Ihr Freund, Brophey?« Brophey hustete. »Das hier ist Mr. Sutton - Sergeant Stacker.« Tom fragte interessiert. »Sergeant?« »Scotland Yard«, beeilte sich Brophey zu sagen, und der Polizist nickte mit einem gewissen melancholischen Stolz. »Scotland Yard, das stimmt. Brophey und ich sind alte Freunde. Ich habe ihm ein oder zwei gute Stellungen verschafft. Stimmt das nicht, Brophey?« Brophey hüstelte. »Der Sergeant macht gern Witze«, sagte er. »Ich habe gehört, dass es Mackay erwischt hat, Stacker. Wer war das?« Sekundenlang herrschte Schweigen, dann hob Stacker seine riesige knollige Faust. »Das werde ich eines Tages herausfinden, Brophey. Und dann wird sich was rühren. Der Boss war der beste Polizeibeamte, der je gelebt hat. Den Kerl, der das getan hat, möchte ich umlegen. Und eines Tages werde ich das auch tun. Wenn es einer von den Namenlosen war, über die so viel geredet wird, wird er nicht nur namenlos, sondern auch leblos sein.« Er sah Tom an. »Sutton - wie? Ich habe den Namen schon gehört. Sagen Sie nichts - lassen Sie mich raten.« Er schloss für eine Sekunde die Augen. »Sie haben eine Brosche gestohlen.« »Sergeant, mein Freund Mr. Sutton hat in seinem Leben nichts gestohlen«, sagte

Brophey. »Jeder kann sehen, dass er ein Gentleman ist.« Tom Sutton lachte. »Es war keine Brosche. Es war ein Halsband.« In Stackers Augen tauchte die Erinnerung auf. Er hob seine große Hand. »Ja das Hammerdale-Halsband. Sie haben es geklaut und dafür achtzehn Monate bekommen. Es war ein merkwürdiger Fall. Der Boss hatte eine Theorie darüber und wenn ich sage, der Boss, dann meine ich Inspektor Mackay. Ja, ein merkwürdiger Fall. Das Halsband ist nie gefunden worden. Außerdem war es eine Menge Geld wert.« »Fünftausend.« Sergeant Stacker stöhnte. »Ein Vermögen. Wollen Sie mir nicht erzählen, wo es ist, Mr. Sutton?« Der jüngere Mann grinste. »Tut mir leid, nein, Stacker.« »Schade.« Der große Mann reckte seine Schultern. »Ich werde mich Ihrer erinnern, Mr. Sutton. Es macht Spaß, einen frischgebackenen Verbrecher dabei zu treffen, wie er sich mit einem alten Ganoven zusammentut. Trotzdem sollten Sie sich von Brophey fernhalten, oder Sie werden nicht lange im Geschäft bleiben. Und wenn Sie je Ihre Meinung wegen des Halsbandes ändern sollten, Mr. Sutton, finden Sie mich im Yard. Fragen Sie nach Sergeant Stacker - CID. Liefern Sie es nicht bei irgendeinem x-beliebigen alten Polypen ab, der Ihnen begegnet. Ich möchte allein die Ehre einheimsen.« Er nickte kurz und war verschwunden. Sie schwiegen Sekunden, dann sagte Tom Sutton: »Er hat Mackay recht gut gekannt.« »Er hat mit ihm zusammen gearbeitet«, sagte Brophey kurz. »Einer war so schlimm wie der andere. Vielleicht war Mackay noch schlimmer, aber von den Toten soll man nichts Schlechtes sagen und darum...« Tom Sutton war mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Inspektor Mackay war an dem Diebstahl des Hammerdale-Halsbandes interessiert gewesen. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen war er auf diese Tatsache hingewiesen worden. Wieviel hatte dieser fähige Beamte gewusst? Er sah zu dem Iren auf.

»Was wissen Sie über die Namenlosen, Brophey?« Brophey führte eine kleine Pantomime mit den Händen auf. »Reden Sie nicht so laut, Mr. Sutton.« »Ich will Ihnen jetzt meine Antwort geben, Brophey. Sie haben mein Interesse geweckt - sehr stark sogar. Ich möchte einen der Namenlosen kennenlernen.« Bropheys Augen glitzerten. »Das wusste ich, Mr. Sutton - und Sie handeln klug. Hören Sie zu...« Und während der nächsten fünf Minuten sprach er leise und ernst.

Viertes Kapitel

Zehn Tage später traf die Aufforderung ein, und während dieser zehn Tage hatte Tom Sutton sich eingerichtet und die Gewohnheiten des alten Lebens wieder aufgenommen. Seine Wohnung hatte er vorgefunden, wie er sie verlassen hatte. Dicey, ein rundlicher gewandter Mann, war froh gewesen, seine Stellung in einer Bar, wo er serviert hatte, aufgeben zu können und zu ihm zu kommen. So war es Dicey, der ihm die Tür öffnete. »Entschuldigen Sie, Sir, während Sie fort waren, hat jemand angerufen. Ein Herr mit einer rauen Stimme.« »Wie hieß er?« Dicey schüttelte den Kopf. »Er hat keinen Namen genannt, auch nicht, als ich fragte. Er sagte nur, ich sollte Mr. Sutton ausrichten, er möchte im Laufe des Tages in die Wood Street kommen. Er hat eine Nummer angegeben. Ich habe sie aufgeschrieben.« »Wood Street? Daran erinnere ich mich, Dicey.« Als der Mann gegangen war, lehnte er sich zurück und überlegte. Ob dies Brophey sein konnte? Für eine Pfeifenlänge bedachte er dieses Problem und kam

dann zu einem Entschluss. Er läutete nach Dicey. »Rufen Sie mir ein Taxi.« Eine halbe Stunde später stand er vor Wood Street 420a und betrachtete das Gebäude. Hier hatten in längst vergangenen Tagen die reichsten Kaufleute Londons gelebt, und hier plagten sich heute immer noch einige davon ab. Vier Stufen führten zum Eingang, an dem ein breites, glänzendes Messingschild befestigt war, auf dem stand:

Bosanquet, Brown und Bracebridge

Rechtsanwälte

Er zögerte ein oder zwei Sekunden und betrat dann den Flur. Vor ihm lag eine Tür mit einer großen Milchglasscheibe, und dahinter erklang das metallische Klappern einer Schreibmaschine. Er klopfte an die Tür und lauschte. »Herein!« Das Zimmer war klein und hübsch, mit einem breiten Kamin, in dem ein Feuer brannte. An dem großen polierten Schreibtisch saß ein Mädchen. Sie sah auf, und Tom Sutton blickte in ruhige graue Augen. »Wen möchten Sie sprechen?« Er sah sie mit seinem anziehenden Lächeln an. »Ich bin heute angerufen worden und...« »Natürlich, Sie möchten Mr. Creed sprechen.« Sie glitt von ihrem Stuhl und ging zu der soliden Eichentür hinüber; Tom Sutton hörte ihre Stimme. Creed! Er entsann sich sofort des Namens und überlegte, ob der breite Mann mit der gelblichen Hautfarbe derjenige war, mit dem er sprechen würde. Einen

Augenblick später kehrte das Mädchen zurück. »Hier hinein bitte, Mr. ...« »Sutton«, sagte er und bemerkte in ihren Augen einen Schimmer von Interesse. »Natürlich, Mr. Sutton - das hätte ich wissen müssen.« Wieso ihr der Name hätte vertraut sein müssen, sagte sie nicht. Stattdessen führte sie ihn in einen größeren Raum, der mit vielen Büchern .und dunklen Eichenmöbeln ausgestattet war. Hier befand sich Hamilton Creed. Das Mädchen stand an der Tür. »Mr. Sutton, Mr. Creed.« Sie schloss die Tür, und Tom Sutton trat vor. Der Anwalt legte seinen Federhalter nieder und sah auf. »Ach ja - Mr. - Sutton.« Er streckte eine weichliche Hand aus. »Bitte, nehmen Sie Platz, Mr. Sutton. Was kann ich für Sie tun?« Sutton spannte sich. »Ich bin heute Mittag angerufen worden. Ich dachte, Sie seien es gewesen...« »Nicht ich. Nicht ich!« Creed schüttelte entschieden den Kopf. »Es muss wohl Mr. Bosanquet - der junge Mr. Bosanquet - gewesen sein -. Unglücklicherweise ist er fortgegangen.« »Oh!« Sutton runzelte die Stirn. »Und Sie wissen nicht, wann er zurückkommt?« Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Unglücklicherweise nicht. Der junge Mr. Bosanquet ist der Enkel des alten Mr. Bosanquet, der diese Firma gegründet hat. Er ist nicht oft hier in der Kanzlei. Ein netter junger Mann, aber vielleicht geht es ihm etwas zu gut.« Er lächelte heiter. An manchen Tagen kommt er gar nicht in die Kanzlei. Heute war er da, aber unglücklicherweise...« Falls Tom Sutton enttäuscht war, zeigte er es nicht. »Ich glaube, ich habe Sie schon einmal getroffen. Mr. Creed.« Die dunklen Augen musterten ihn neugierig. »Wo war das?« »Bei Dartmoor - vor ungefähr drei Monaten. Sie saßen in Ihrem Wagen, ich war

damals bei der Arbeitskolonne.« »Als Sträfling?« Creeds Gesicht drückte Verblüffung aus. »Wirklich, Mr. Sutton, ich hatte keine Ahnung -. Wie schade, dass der junge Bosanquet fort ist. Ich wünschte, er hätte Sie sprechen können.« Sutton grinste bitter. »Wie Sie sagen - ein Sträfling. Ich war einer aus der Kolonne...« »Ich glaube, mich zu erinnern. Es waren Dutzende. Ja, das war der Tag, an dem wir von der Straße abgekommen waren. Ich war in Begleitung - einer jungen Dame...« Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ja, eine merkwürdige Situation; wirklich ein Jammer, dass Sie den jungen Mr. Bosanquet vert haben.« Tom Sutton blickte auf seine Uhr. Er war sich bewusst, dass dieser übertrieben liebenswürdige Mann ihn genau beobachtete. Sein Hut lag auf dem Schreibtisch, er griff danach. »Falls Mr. Bosanquet zurückkommt, können Sie ihm sagen, dass ich hier war. Wenn nicht, wird es auch keine Rolle spielen.« Er stand auf und bemerkte in Creeds dunklen Augen ein merkwürdiges kleines Licht. »Wenn der junge Mr. Bosanquet zurückkommt, werde ich ihm selbstverständlich sagen, dass Sie hier waren, Mr. Sutton. Warum er Sie hat sprechen wollen, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Mr. Bosanquet hat seine eigenen Angelegenheiten.« Mit einer Handbewegung deutete er Entlassung an, und Tom Sutton trat nachdenklich auf den Flur hinaus. Im Vorzimmer saß das Mädchen noch immer über die Maschine gebeugt. Sie erhob sich bei seinem Eintritt. »Fertig, Mr. Sutton?« Er schnitt eine leichte Grimasse. »Fertig, bevor ich angefangen habe«, sagte er. »Ich sollte nicht mit Mr. Creed sprechen, sondern mit - Mr. Bosanquet.« Sie hob die Brauen. »Dem jungen Mr. Bosanquet?« Er nickte zustimmend. »Wie viele gibt es denn?« Sie lachte kurz. »Selbst ich kann Ihnen das nicht sagen, Mr. Sutton.« Sie sah ihm

nach, als er hinausging, und wandte sich um, als die Klingel ihres Chefs erklang. Als sie eintrat, stand Creed groß und imposant am Fenster. Er drehte sich nicht um. »Das war Sutton, Mary. Hat er Ihnen Eindruck gemacht?« Mary Randall lachte kühl. »Ich weiß nicht. Er ist so ein ins Auge springender Typ. Ich würde mich vor solch einem Mann zurückhalten. Auf keinen Fall ist er klug.« »Wie kommen Sie darauf?« »Er hat sich erwischen lassen!« Er drehte sich langsam herum. »Ja, das stimmt. Pech.« Er lachte kurz. »Und trotzdem glaube Ich, dass wir ihn gebrauchen können. Wenn ich Bosanquet erzähle, dass er hier war, wird es ihn sicher interessieren.« Er trat vom Fenster weg, behielt es aber immer noch im Auge. Plötzlich lachte er leise auf. »Was ist?« Er wies mit dem Kopf. »Sehen Sie selber. Die Verfolgung hält an. Eines Tages werden wir etwas wegen des unermüdlichen Mr. Stacker unternehmen müssen.« Sie trat näher, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Zwanzig Meter entfernt erblickte sie einen großen, traurig aussehenden Mann in einem schäbigen blauen Regenmantel. Sergeant Stacker war ihr eine vertraute Gestalt. »Ich würde gern wissen, was er jetzt sagt«, sagte das Mädchen, und der Anwalt grinste. »Ich kann es mir denken«, sagte er trocken. Sergeant Stacker stand da, eine Hand an seinem eckigen Kinn, und falls Sutton erstaunt war, die melancholische Gestalt zu sehen, so zeigte er es nicht. »Wir sehen uns ja schon wieder, Sergeant.«

Stacker nickte. »Tja - in der Tat. Wie klein die Welt ist. Haben Sie Brophey in letzter Zeit gesehen?« »Nein, das erwarte ich auch nicht.« Stacker seufzte. »Freut mich, das zu hören. Aber ich will Ihnen erzählen, wo Sie waren. Sie haben diesen Juristen besucht, nicht wahr? Mr. Hamilton Creed.« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »Ein gerissener Kerl. Eines Tages mache ich mir die Mühe und finde heraus, wie gerissen er ist, und dann gibt es ein Feuerwerk erster Klasse.« »Sie scheinen eine ganze Menge über ihn zu wissen.« »Ja, und ich werde noch mehr über ihn erfahren«, antwortete der große Mann grimmig. »Er hat übrigens einen Partner, einen Burschen namens Bosanquet, den jungen Mr. Bosanquet. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen?« »Nein«, sagte Sutton, und Stacker nickte düster. »Das hätte ich Ihnen gleich sagen können«, knurrte er. Er drückte seine Melone tiefer ins Gesicht und schritt davon. Tom Sutton ging bis zum Ende der Wood Street, erwischte ein Taxi und fuhr zu seiner Wohnung. Dort setzte er sich in einen Sessel, zündete sich eine Pfeife an und goss sich etwas zu trinken ein. Eine Stunde hatte er so gesessen, als er das Geräusch von Tritten auf der Treppe hörte. Ein leises Knacken, und dann fiel etwas leicht zu Boden. Er stand auf und ging in den Flur, wo er ein weißes Viereck am Boden liegen sah. Er hob den Brief auf und trug ihn in das Zimmer, in dem er gesessen hatte. Der Umschlag war aus dickem, rauem Papier. Er trug keine Marke, aber sein Name stand in Maschinenschrift darauf. Er riss den Umschlag auf. Er enthielt ein mit Maschine beschriebenes Blatt:

Ich treffe Sie heute Nacht in Rapp Lane bei Hampstead Heath. Suchen Sie sich diesen Ort auf einer Karte heraus. Sie gehen zu Fuß. Kommen Sie vor Mitternacht in Rapp Lane an und gehen Sie in Richtung Heath nach Norden. Gehen Sie um 24.05 Uhr los. Ich werde Sie einholen. Mein Wagen hat ein grünes

Licht. Prägen Sie sich diese Instruktionen ein, und vernichten Sie diesen Brief.

Einen Moment lang stand er still, die Augen darauf geheftet. Dann trat er mit einem raschen Schritt ans Fenster. Weit unter sich sah er einen kleinen grünen Wagen, und jetzt überquerte eine Gestalt die Straße und stieg hinein. Einen Augenblick später war er davongefahren. - Wer war für diese Instruktionen, die er erhalten hatte, verantwortlich? Hamilton Creed oder der mysteriöse junge Mr. Bosanquet? Er zuckte die Schulter. Das war ein Rätsel, das sich mit der Zeit lösen würde. Wer sie ihm gebracht hatte, darüber bestand für ihn kein Zweifel, denn in der Sekunde, in der sie in den Wagen gestiegen war, hatte er sie erkannt. Die Botin der Namenlosen war das Mädchen, das er in Creeds Büro gesehen hatte.

Fünftes Kapitel

Das Zimmer, das Sergeant Stacker in Scotland Yard sein eigen nannte, war winzig. Es war nicht einmal bequem, und wenn eine besonders komplizierte Frage auftauchte, war es seine Gewohnheit, dem Büro von Chefinspektor Flagg einen offiziellen Besuch abzustatten. Flaggs Büro war gut ausgestattet und außerdem bequem. Chefinspektor Flagg war ein Beamter der alten Schule, der nach Scotland Yard gekommen war, als die Haupterfordernisse für einen Polizeibeamten aus einer Bärenfaust und der Fähigkeit, eine Verwarnung in sein Notizbuch zu schreiben, bestanden. Er studierte einen Bericht, als Sergeant Stacker hereinkam, sah auf und seufzte erleichtert beim Anblick eines Mannes, der wie ein Polizeibeamter aussah, einschließlich der Größe seiner Fäuste. »Ich habe ein Problem«, begann Stacker. »Was ist los?« Der Polizist streckte seine langen Beine aus. »Ein Mann namens Sutton. Erinnern Sie sich?«

Flagg dachte nach. »Der Name kommt mir bekannt vor. Was hat er gemacht?« »Er hat im Gefängnis gesessen - wegen des Diebstahls von Lady Hammerdales Halsband im vergangenen Jahr.« »Ich erinnere mich. Das war eine merkwürdige Sache. Sutton bekannte sich schuldig und bekam dafür achtzehn Monate.« Stacker nickte. »Richtig. Der Alte interessierte sich für den Fall. Er meinte, man habe Sutton übel mitgespielt.« »Inspektor Mackay?«, sagte Flagg nachdenklich. »Wie kam er dazu?« Stacker grinste. »Der Alte glaubte, Sutton sei in eine Falle gerannt. Er ist Soldat gewesen und hatte einen hervorragenden Ruf, aber er hat sich mit einem Mädchen eingelassen: Wenda le Seur; vielleicht hat er sich sogar eingebildet, er wäre in sie verliebt. In der Nacht, als das Halsband gestohlen wurde, war sie bei Lady Hammerdale - und der Alte meinte, sie hätte ihre Finger dazwischen gehabt. Wenda würde ihre Seele für einen Tausender verkaufen, und das ist ungefähr ein Fünftel dessen, was das Halsband wert ist.« Flagg rauchte nachdenklich. »Ich kenne sie. Ich habe ihren Vater gekannt. Er war Boxer. Das liegt lange zurück. Dan Silas hieß er. Sie hieß mal Lottie Silas. Wenda le Seur klingt besser. So heißt sie wahrscheinlich, seit sie bei Hennessy ist.« Stacker nickte. »Genau! Sie ist sehr dick mit Creed befreundet.« »Hamilton Creed?« Flaggs Augen öffneten sich plötzlich weit. »Ein gerissener Bursche. Den möchte ich gern zur Strecke bringen. Ich würde meine Pension dafür geben, um zu beweisen, dass er einer von den Namenlosen ist - aber Creed ist zu geschickt.« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »Was hat Creed mit Sutton zu tun?« »Das möchte ich eben gern wissen.« Stacker nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Mr. Flagg - das ist mein Problem. Seit vier Jahren versuchen wir, die Namenlosen zu entlarven, und bis heute sind wir kaum einen Schritt weitergekommen. Creed ist der einzige, bei dem wir sicher sind, aber wir haben nicht den geringsten Beweis, um ihn vor Gericht zu bringen. Auf jeden Fall interessiert er sich für Sutton.«

»Was wissen Sie darüber?« Stacker streckte seine breite Hand aus und zählte die Punkte auf. »Erstens: Sutton ist neulich aus Dartmoor entlassen worden, und Brophey erwartete ihn. Zweitens: Brophey arbeitet neuerdings als Kontaktmann für Creed.« Der Beamte zog nachdenklich an seiner Zigarre. »Was sonst?« »Drittens«, sagte der methodische Stacker, »hat Sutton Creed heute in der Wood Street besucht. Ich weiß es, weil ich dort war, als er herauskam. Mein Problem ist folgendes: hinter was ist Creed her?« Flagg schmunzelte. »Hinter Sutton, scheint mir.« Stacker schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Sutton ist nicht der Typ. Ich habe mit ihm gesprochen, Mr. Flagg. Er hat eine gute Erziehung und etwas eigenes Vermögen. Außerdem ist er gerade herausgekommen. Ich glaube nicht, dass er zurück will, und Creed würde seinen eigenen Bruder den Wölfen vorwerfen. Ich traue ihm nicht.« »Vielleicht geht es Sutton ebenso«, sagte Flagg trocken, und Stacker runzelte die Stirn. »Vielleicht haben Sie recht.« Er erhob sich. »Kümmern Sie sich weiter darum. Ich bin den Rest des Tages hier.« Er warf plötzlich seine Zigarre weg. »Eines Tages werde ich Creed selber aufsuchen.« Stacker ging befriedigt nach unten. Eine halbe Stunde lang hatte er eine vertrauliche Besprechung mit Major Drake, dem er einen detaillierten Bericht von seinen verschiedenen Unternehmungen gab. »Ich habe zwei Männer auf Sutton angesetzt«, sagte er. »Ich zerbreche mir den Kopf über diesen Mann, Sir.« »Vielleicht will Creed ihn einstellen«, sagte Drake. »Creed will Fachleute - keine Amateure. Solch einen wie Sutton kann er massenweise bekommen - mit doppelt so viel Grips und weniger Skrupel«, sagte er, und Major Drake machte große Augen.

»Was für Skrupel hat Sutton?« »Das muss sich herausstellen, Sir. Er hat Creed heute besucht.« Major Drake stand auf und trat an einen Aktenschrank. Diesem entnahm er eine dicke Akte, die er zum Schreibtisch brachte. »Ich habe mir das Vorleben von Creed noch mal angesehen, Stacker. Es ist ein dunkles Kapitel. Gestern hat mich der Kommissar danach gefragt. Jemand hat im Parlament eine Anfrage gestellt, warum wir den Mörder von Mackay noch nicht gefunden hätten. Es muss in dieser Sache etwas geschehen.« Stacker nickte. Er spielte mit dem Aktendeckel, während seine dunklen, raschen Augen die lange Liste der Verbrechen, die hier aufgezeichnet waren, überflogen. Drake nahm ein Blatt Papier auf. »Heute Nachmittag ist in der Fulham Road eingebrochen worden. Drei Männer sind in ein Juweliergeschäft eingedrungen und haben es ausgeräumt. Vor allem haben sie Diamanten und Ringe mitgenommen.« Stacker seufzte. »Und dahinter stecken die Namenlosen?« »Ich nehme an. Das ist der siebzehnte kleine Einbruch dieser Art in einem Jahr. Die Namenlosen bevorzugen Juweliere.« Das stimmte. Die Namenlosen hatten sich auf Schmuck spezialisiert. In den vier Jahren, seitdem sie am Werk waren, hatten die Versicherungsgesellschaften mehr als eine Million allein für Schmuck ausbezahlt. Die Presse hatte sie zuerst die »Namenlosen« getauft. Niemand wusste, wer sie waren. Aber dass sie existierten, dessen waren sich Polizei und Presse wohl bewusst. Der Eastern Monitor und die Free Press hatten einen Kreuzzug gegen das Verbrechen begonnen, und es war viel Tinte verspritzt und manche Zeile geschrieben worden. So viel, dass Scotland Yard darauf hingewiesen hatte, diese Methode, das Problem anzufassen, sei gefährlich, da die Namenlosen rasch Zurückschlagen würden. Dies bewahrheitete sich, denn Verity von der Free Press wurde eines Nachts bewusstlos geschlagen in seinem Wagen gefunden, und Larry Klein von dem amerikanischen Post Examiner wurde mit zwei Kugeln im Genick aus der Themse gezogen. Die Kriminalreporter von Fleet Street waren einigermaßen entmutigt.

Irgendwo hinter dieser Welle von Verbrechen standen eine führende Hand und ein führender Kopf. Jemand plante für die kleinen Verbrecher - jemand bewies, dass man Verbrechen organisieren konnte. Natürlich hatten Verhaftungen stattgefunden, die aber der Polizei wenig nützten, denn die Verhafteten waren allesamt bekannte Verbrecher mit mittelmäßigen Fähigkeiten. Sie waren von den tüchtigsten Beamten des Yards verhört worden, hatten aber nur wenig aussagen können. Sie waren für eine ganz spezielle Arbeit engagiert worden, für die sie eine bestimmte Summe bekamen. Ein paar von ihnen hatten früher bereits ähnliche Arbeiten gemacht und waren gut dafür bezahlt worden, aber keiner von ihnen hatte jemals ihren Auftraggeber und nicht einmal den »Kontaktmann« gesehen. Hierüber befragt, sprachen sie vage von einem Wagen und einem dunklen Platz - manchmal in Hendon, manchmal in Hampstead Heath, aber in keinem Fall war die Gegend die gleiche gewesen. Major Drake hatte schweigend dagesessen. Jetzt sah er auf. »Würden Sie Creed gern festnehmen?« »Es gibt nichts, was ich lieber tun wurde. Aber es hätte keinen Zweck. Creed ist viel zu gerissen für mich - und viel zu klug. Außerdem ist er schon verhört worden. Eines Tages macht er vielleicht einen Fehler, wenn ich das auch bezweifle.« »Das war Mackays Theorie.« Stacker nickte. »Ja. Creed ist der einzige, den wir überhaupt mit den Namenlosen in Verbindung bringen können. Aber Creed ist gut gedeckt. Er hat eine annehmbare Praxis; allerdings befasst er sich nie mehr mit Strafrecht.« »Hat er das je getan?« »Er ist regelmäßig vor Gericht aufgetreten. Ich habe selber gehört, wie er einen Fall verteidigt hat, und er war geschickt.« »Was ist mit diesem Bosanquet los?« Stacker grinste. »Bosanquet ist einfach nicht da.«

Der Major sah auf. »Sie meinen, er existiert gar nicht?« »Wenn er existiert, dann habe ich ihn nie gesehen – ebenso wenig wie sonst jemand. Er soll gelegentlich ins Büro kommen, aber ich habe das Haus überwachen lassen, und niemand hat ihn bisher ausfindig machen können. Creed redet dauernd von ihm, aber meiner Meinung nach sind Creed und Bosanquet die gleiche Person.« »Creed hat wirklich eine Praxis?« »Er hat ein oder zwei reiche Klienten«, sagte Stacker, »und alle sind unverdächtig. Schwer zu sagen, wieviel er wirklich für sie tut, aber seine Haupteinnahmequelle ist eine Witwe namens Rutter. Sie lebt in Devon oder Cornwall.« Der Major erhob sich. »Ich muss jetzt gehen, Stacker, lassen Sie es mich wissen, wenn irgendetwas Neues auftaucht.

Sechstes Kapitel

Als Tom Sutton Rapp Lane erreichte, fiel ein feiner Nieselregen, da ein Südwestwind aufgekommen war und sich Wolken am Nachthimmel auftürmten. Die Namenlosen hatten den Ort für das Rendezvous gut gewählt, denn zu dieser nächtlichen Stunde drangen keinerlei Lebenszeichen der Stadt bis hierher. Er blieb wartend stehen, und einen Augenblick später war der Wagen an seiner Seite. In der Dunkelheit erkannte er, dass es sich um eine kleine Limousine handelte. Eine vertraute Stimme rief ihn an. »Mr. Sutton, kommen Sie her!« Die Tür öffnete sich, und er befand sich neben Brophey. Vorn saßen zwei Männer, von denen sich keiner umdrehte. Brophey lachte. »Wetten, dass Sie nicht erwartet haben, mich hier zu treffen, Mr. Sutton?« Tom Sutton stimmte zu. »Sie waren der letzte, an den ich gedacht habe. Wohin bringen Sie mich?«

»Nirgendwohin. Dies ist nur eine Vorsichtsmaßregel, Mr. Sutton Die Namenlosen riskieren nichts. Der Mann, den Sie heute Nacht sprechen, ist wichtig, und Sie könnten eine Waffe bei sich tragen. Meine Aufgabe ist, mich zu versichern, dass dies nicht c(,er Fall ist.« »Ich habe keine Waffe«, sagte Tom. Er ließ sich von dem Iren gründlich untersuchen. Dann stieg Sutton aus; er war leicht beeindruckt. »Sie sind ein sorgfältiger Arbeiter.« Der Ire lachte. »Das habe ich Ihnen ja gesagt. Jetzt gehen Sie, Mr. Sutton, und der Mann wird Sie überholen. Er hupt zweimal. Sie bleiben stehen und warten auf seine Instruktionen.« Die Tür schlug zu, und der Wagen fuhr fort. Dann hörte er durch die stille Nachtluft das Geräusch des zweiten Wagens, der hinter ihm her kam. Ein zweimaliges Hupen, und als er sich umdrehte, sah er ein grünes Licht in der Mitte der Windschutzscheibe. Er trat heran und hörte, wie das Fenster geöffnet wurde. »Sutton?« Die Stimme war tonlos und ruhig, aber seltsamerweise schien sie Sutton vertraut. Im Bruchteil einer Sekunde wusste er, dass er diese Stimme schon einmal gehört hatte. »Ja.« Die Tür öffnete sich leise. »Kommen Sie hierher. Setzen Sie sich neben mich.« Er stieg ein und schloss die Tür. Das Innere des Wagens war dunkel, doch konnte er die große Gestalt am Steuer sehen. Der Mann bewegte sich, und etwas wurde in seine Hand gedrückt. »Setzen Sie das auf. Und wenn Sie es getan haben, bleiben Sie ruhig sitzen und lassen Ihre Hände davon. Wenn Sie eine Bewegung machen, sehe ich es.« Suttons Finger betasteten das Päckchen, das man ihm gegeben hatte. Es war eine Motorradbrille, und als er sie übergestülpt hatte, bemerkte er, dass die Zelluloidgläser schwarz waren, so dass er im Dunklen saß. Ein zustimmendes Murmeln, dann wurde ein Gang eingeworfen, und sie fuhren in einem stetigen

Tempo weiter. So fuhren sie über eine Stunde lang, und als der Wagen anhielt, merkte er, dass sie sich auf dem Land befanden, denn die Geräusche der Stadt waren erstorben und nichts als das Plätschern eines Flusses war zu hören. Sutton spürte eine Hand auf seinem Arm. »Sie können sie jetzt abnehmen. Wir steigen aus.« Sutton blinzelte in die Dunkelheit hinaus. Nachdem sie durch kurzes Gestrüpp und Buschwerk gegangen waren, befanden sie sich vor einem Bauernhaus. Durch ein Fenster fiel warmes gelbes Licht, und gleich darauf klopften sie an die Tür. Offensichtlich hatte man ihre Ankunft erwartet, denn die Tür wurde sofort geöffnet, und Sutton sah eine gebeugte hagere Gestalt, die schweigend zur Seite trat, um sie einzulassen. Ein dunkler Flur führte zu einem großen, bequem möblierten Zimmer, wo auf einem polierten Tisch eine Petroleumlampe brannte. »Setzen Sie sich.« Der Mann wies auf einen Stuhl, und Sutton ließ sich beinahe erleichtert nieder. Die Tür schloss sich, und er war allein. Er saß noch immer, als der Mann wieder hereinkam und die Lampe hinaustrug. Wieder schloss sich die Tür, dann drang ein leises kratzendes Geräusch von oben an sein Ohr, und er spürte einen schwachen Luftstrom an seinen Wangen. Aus der Dunkelheit vor ihm klang ein leichtes Lachen. »Nun, Mr. Sutton, Sie sind also sicher eingetroffen.« Sutton saß ganz still. War dies Creeds Stimme? Einen Augenblick lang schien er die schwere Gestalt des Anwalts sich gegenüber sitzen zu sehen, und dann sprach der Mann weiter. »Brophey sagt, Sie seien bereit, bei uns mitzuarbeiten.« Sutton seufzte. »Ich bin sogar dazu bereit.« »Warum wollen Sie das?« »Warum hat Brophey es getan? Warum haben ein paar Dutzend andere Männer so wie ich gehandelt? Ich werde es Ihnen sagen. Ich bin am Ende. Ich war achtzehn Monate auf dem Moor - das hat mich fertiggemacht.«

»Haben Sie ein privates Einkommen?« Tom Sutton sagte bitter: »Vierhundert im Jahr. Ich brauchte viertausend. Zwei Jahre meines Lebens habe ich auf dem Moor verloren - davor sechs Jahre bei der Armee. Ich meine, dass mir das Leben jetzt etwas schuldig ist. Brophey ist auf seine Weise ein guter Kerl. Zuerst habe ich seinen Andeutungen nicht geglaubt. Dann habe ich darüber nachgedacht und mir überlegt, es könnte doch etwas dran sein. Darum bin ich hier.« Einen Augenblick lang war nichts zu hören, dann klang leichtes Papierrascheln. Etwas in der Nähe seiner Hand berührte den Tisch. »Das sind fünfhundert Pfund, Sutton. Das bindet Sie für den Augenblick an uns. Vielleicht können wir Sie gebrauchen - aber bedenken Sie folgendes: Die Namenlosen stellen schwere Anforderungen. Wir belohnen gut und bestrafen schwer. Sie werden von uns hören.« Wieder ein leichter Luftzug und das Geräusch der sich schließenden Tür. Einen Augenblick lang saß er in nachdenklichem Schweigen, dann erklang der schwere Schritt des Mannes von vorhin. Er bezahlte die Lampe, stellte sie ab, und Sutton sah ihn fragend an. »Was habe ich jetzt zu tun?« Es kam keine Antwort, doch aus dem Flur hörte Sutton die Stimme seines Begleiters. »Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit damit, mit ihm zu sprechen. Der Mann ist stumm, und wenn er sprechen könnte, würde er es nicht tun. Kommen Sie heraus.« Er trat ins Dunkel hinaus und spürte mehr die große Gestalt vor sich, als dass er sie sah. »Wir fahren jetzt zurück«, sagte er. Er hob die Motorradbrille. »Ziehen Sie sie wieder über, Sutton. Sie haben den ersten Test hinter sich, aber die Namenlosen sind schwer zu befriedigen.«

Siebtes Kapitel

Wenda le Seur besaß eine Wohnung in Chelsea, und wenn sie auch klein war, so verdankte sie sie jedenfalls Creeds Güte. Sie hatte ein Mädchen, ein naseweises Ding, die verschiedene Dienstleistungen verrichtete, und ihr Erscheinen war es, das Wenda aus ihren Tagträumen weckte. Sie blickte leicht irritiert auf. »Was ist, Dolly?« »Ein Herr möchte Sie sprechen. Mr. Slesser.« »Sagen Sie ihm, dass ich gleich komme.« Sie trat an den Spiegel, fuhr sich durchs Haar, und als sie das andere Zimmer betrat, erhob sich Lewis Slesser zu ihrer Begrüßung. Er war ein langer junger Mann, sehr blond, rosa und weiß. Über seine Oberlippe lief ein schmaler Schnurrbart, der sein übermäßiger Stolz war. Ein junger Mann in den Dreißigern, großzügig und auf seine Weise von freundlicher Arglosigkeit; manchmal überraschte er sie durch seine Gerissenheit, aber das kam selten vor. Jetzt war er schlechter Laune. »Hallo, Wenda, Süße, ich musste einfach hierherkommen und dich sehen.« Sie ging auf ihn zu und küsste ihn. »Setz dich, Lewis. Dolly bringt uns Tee. Du hast noch keinen getrunken?« Er strich seinen Schnurrbart. »Nein. Sag mal, hast du nicht einen Tropfen Whisky? Ich habe eine harte Sache hinter mir.« Seine Augen hingen hoffnungsvoll an ihr. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie die Existenz solch starker Sachen leugnen sollte, doch schließlich trat sie an einen kleinen Schrank und holte eine Flasche und ein Glas heraus. Sie schenkte ihm ein. »Was ist los?« Er zuckte die schmalen Schultern. »Ich habe den alten Creed besucht.« »Oh!« Sie wurde leicht nervös. »Was ist iert?« »Ich habe den Idioten nicht gesehen«, sagte er verärgert. »Ich habe auch gestern

versucht, ihn zu sprechen, und habe ihn nicht getroffen. Ich war knapp bei Kasse und brauchte etwas, damit ich bis zum Monatsende durchkomme.« »Und du hast nichts gekriegt?«, fragte sie fast scharf. »Einen miesen Zwanziger!« Sie zeigte ihr Missfallen. »Wie ärgerlich! Und das bei all dem Geld, das er von dir hat. Lewis, du solltest etwas deswegen unternehmen. Wirklich.« Er kratzte sich am Kinn. »Der alte Creed ist in Ordnung«, sagte er mürrisch. »Er war ein Freund meines Vaters, und ich kenne ihn schon mein ganzes Leben lang. Nur scheint er zu glauben, ein Mensch könne von Luft leben.« »Wann willst du mit Creed reden, damit du mehr Geld kriegst?« »Aber, Süße, das kann ich nicht riskieren. Nicht ausgerechnet jetzt. Im Augenblick ist er ganz schlecht auf mich zu sprechen. Er behauptet, ich hätte mein Konto in letzter Zeit zu schwer belastet.« »Du hast Angst vor ihm.« Über diese unbestreitbare Tatsache wollte er nicht diskutieren. »Ach lass doch, Wenda, du weißt doch, wie solche Anwälte sind. Mein ganzes Leben lang hat er auf mich heruntergeredet. Du kannst nicht erwarten, dass ich mich plötzlich überlegen fühle.« Er rieb sich sein Kinn. »Creed ist nicht der Schlechteste. Wahrscheinlich sollte ich ihm dankbar sein.« Sie wollte wissen warum. Lewis machte eine flüchtige Geste. »Ich weiß nicht. Der übliche Grund. Er hat sich als guter Freund erwiesen. Hat mir alle Arbeit gemacht und sich um meine Geldanlagen gekümmert und solche Sachen. Ohne ihn kann ich nicht fertig werden, Wenda. Der Mann kennt sich mit all meinen Angelegenheiten aus.« Sie hatte noch etwas anderes auf dem Herzen, etwas, das sie ihm gegenüber noch nie erwähnt hatte. Jetzt beobachtete sie ihn sorgfältig. »Lewis, kennst du eine alte Dame namens Mrs. Rutter?« Sie hatte erwartet, ihn zu überraschen, wurde aber enttäuscht.

»Mrs. Rutter? Ja, natürlich. Sie hat einen Besitz in Devonshire. Eine komische alte Vogelscheuche, immer krank und voller Wehwehchen. Warum fragst du?« Sie zuckte gleichmütig die Schultern. »Ich war mal bei ihr.« »In Battery House?« Er schien erstaunt. »Ich dachte nicht, dass du...« Er unterbrach sich rasch, doch das Mädchen lachte. »Red nur weiter, Lew. Ich weiß, was du sagen willst. Du meinst, dass ich unmöglich auf Mrs. Rutters Besucherliste stehen kann. Das tue ich auch nicht. Es war nur Zufall. Creed hat mich mitgenommen.« »Creed?«, sagte er erstaunt. »Ich wusste nicht, dass du so gut mit ihm stehst.« Es klang fast verletzt. Sie überhörte den Ton. »Natürlich bin ich mit ihm befreundet - rein geschäftlich selbstverständlich. Ich kenne ihn länger, länger als ich dich kenne. Mr. Creed hat sich für eine Show interessiert, in der ich aufgetreten bin, und ich habe ein- oder zweimal etwas für ihn gearbeitet. Sei nicht albern, Lew.« »Ich kenne Mrs. Rutter nicht sehr gut«, gab er zu, »aber sie ist eine entfernte Verwandte von mir. Ich habe mal eine Woche in Battery House zugebracht, und es war ziemlich schrecklich.« Die kleine Uhr auf dem Kaminsims begann zu schlagen, und Wenda sah leicht verärgert auf. »Fünf Uhr. Ich hatte keine Ahnung, dass es schon so spät ist. Du musst jetzt gehen, Lew. Wirklich. Ich muss vor sieben im Theater sein.« »Hör mal, Wenda - willst du wirklich, dass ich mit Creed spreche?« Es gab nichts, was sie sich mehr wünschte, doch im Augenblick war es vielleicht günstiger, dies zu leugnen. Sie zögerte. »Hältst du es für klug, Lew? Ich meine, ich möchte die Situation nicht noch schwieriger machen...« »In den nächsten Tagen vielleicht...« Sie lachte leise. »Gut, Lew. In den nächsten Tagen. Du bist ein Schatz. Komm und gib mir einen Kuss, dann muss ich gehen. Du darfst nicht zu lange

hierbleiben. Dolly ist nicht die Diskreteste, und wir wollen keine Redereien haben. - Und, Lew, sei lieb und komm nicht hierher, wenn ich es dir nicht gesagt habe. Creed kommt sonst dahinter - und er kann sehr unangenehm werden. Das weißt du.« Mit einer Handbewegung schob er Creed beiseite, »Ich habe keine Angst vor Creed...« Fünf Minuten später, als sie sich umzog, klingelte das Telefon. Dolly kam herein. »Ein Herr ist am Telefon.« »Ich komme sofort.« Es war Hennessy, der die Show leitete, bei der sie mitwirkte. Manchmal überlegte sie, wer hinter Hennessy stand. »Tut mir leid, zu hören, dass es Ihnen nicht gut geht«, begann er, und sie wusste, was folgen würde, da sie diesen Satz schon früher gehört hatte. »Nein - es geht mir nicht ganz gut, Mr. Hennessy.« »Ihre Kehle«, sagte er im Konversationston. »Nun, machen Sie sich keine Sorge. Mavis Kane kann für Sie einspringen.« Sie legte den Hörer auf und blieb einen Augenblick lang stehen. Auf diese Weise bereiteten die Namenlosen ihr Nichterscheinen im Theater vor. Bald würde sie einen zweiten Anruf erhalten. Sie schenkte sich etwas zu trinken ein und trank gerade, als sie die Klingel läuten hörte, und gleich darauf erschien Hamilton Creed. »Guten Abend, Wenda.« Er streckte seine weiche, glatte Hand aus. »Wie müde Sie aussehen! Ich glaube, diese Nachtarbeit strengt Sie zu sehr an. Sie brauchen eine Erholung, meine Liebe.« Sie lachte krampfhaft. »Mir geht’s gut. Was ist los?« »Mrs. van der Loon ißt heute Abend im Victory. Sie wird ihr Halsband tragen. Das Diamanthalsband, Wenda. Es ist auf Siebentausend versichert. Es wird einen

Raubüberfall geben. Sie wissen, was ich meine -. Ich habe einen Begleiter für Sie bestellt. Hören Sie gut zu. Ein Tisch ist für Sie arrangiert. Mrs. van der Loon wird hinter Ihnen sitzen.« Sie nickte beinahe teilnahmslos. »Was habe ich zu tun?« »Ganz wenig. Sie werden dort sein - um die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu lenken.« Sie empfand ein Gefühl der Kälte. »Ist die Polizei dort?« Creed lächelte. »Ja. Sie verhalten sich natürlich still, und man wird Sie verdächtigen. Der Yard ist nicht gerade dumm. Man wird Sie auffordern, sich durchsuchen zu lassen, und natürlich werden Sie zustimmen.« »Und wer wird das Halsband haben?« »Sie nicht, Wenda. Das kann ich Ihnen versprechen. Es- ist ein kleiner Scherz von mir.« Er sah sich um. »Ich muss jetzt gehen. Sie haben es sehr hübsch hier. Die Sache hat Stil. Das muss auch so sein. Die Wohnung kostet mir beziehungsweise dem jungen Mr. Bosanquet fünfhundertachtzig Pfund im Jahr. Das ist viel Geld; ich weiß nicht, ob er das immer aufbringen kann. Er gab seiner Stimme einen besonderen Nachdruck. Sie zitterte leicht. »Was meinen Sie damit, Mr. Creed?« Er beugte sich vor. »Man redet über Sie, Wenda. Jemand hat neulich Lewis Slesser hier herauskommen sehen. Slesser ist ein empfänglicher junger Mann. Beeindrucken Sie ihn nicht zu sehr, Wenda, oder ich finde eine neue Mieterin. Die Namenlosen werden rasch mit Leuten fertig, die nicht tun, was ihnen befohlen wird.« Er zog seine Handschuhe heraus. »Sie haben meine Instruktionen nicht vergessen?« »Nein, natürlich nicht.« Er nickte. »Ich werde morgen hören, was iert ist. Es kann interessant werden. - Wenn Sie zurückkommen, rufen Sie das Büro an, Miss Randall arbeitet in der Buchhaltung.« Er nickte und verschwand. Sie blieb lange Zeit still sitzen, nachdem er gegangen war, und sie dachte über

die Instruktionen nach, die er ihr gegeben hatte. Dass die Namenlosen fähige Agenten in dem Restaurant hatten, wusste sie. Creed war ein ausgezeichneter Organisator. In einem Dutzend ähnlicher Fälle hatte sie für ihn gearbeitet, und nur bei einer Gelegenheit hatte es eine Panne gegeben. Das war an dem Abend, als das Halsband der Lady Hammerdale gestohlen worden war und Tom Sutton sie erwischt hatte, als sie Lady Hammerdales Zimmer verließ. Auf ihre eigene seltsame Weise hatte sie ihm seine Ritterlichkeit übelgenommen. Sie war nach Old Bailey gegangen und hatte gehört, wie er verurteilt wurde; und sie hatte ihn um seiner Großmut willen gehasst. Sie zog sich fertig an, und eine halbe Stunde 'später läutete sie nach Dolly. In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür. »Sehen Sie nach, wer es ist, Dolly«, sagte sie. Das Mädchen nickte. »Ich glaube, es ist ein junger Mann, Miss. Auf der Straße steht ein Taxi, und ich habe ihn aussteigen sehen.« Sie ging hinaus, und Wenda hörte ihre schrille Stimme, als sie den Besucher bat, hereinzukommen. Sie hörte, wie er den Flur entlangkam und dann eintrat. Es war noch nicht dunkel, wenn auch die große Lampe angezündet war, die das Zimmer in ihrem Umkreis sanft beleuchtete, lag doch der Hintergrund im Schatten. Sie war froh darüber, denn sie fühlte, wie die Farbe aus ihren Wangen wich, als sie aufsah und in die ruhigen Augen von Tom Sutton blickte.

Achtes Kapitel

Für einen langen Augenblick stand Sutton schweigend da und blickte auf sie hinab. »Guten Abend, Wenda. Es ist einige Zeit her, seit wir uns gesehen haben.« Sie spürte die Farbe in ihre Wangen zurückkehren, als sie ihn mit mehr Herausforderung ansah. Er hatte sich kaum verändert, wenn auch um seine Augen neue kleine Falten lagen.

»Ja, es ist eine Weile her«, sagte sie. Er half ihr in den Mantel und sah sich dann bewundernd um. »Sie haben eine hübsche Wohnung.« Sie legte keinen Wert darauf, die Schönheit ihrer Wohnung zu diskutieren. »Na ja, ganz hübsch. Sagen Sie: Wussten Sie eigentlich, dass Sie hier zu mir kamen?« Sutton lachte kalt. »Ja, und ich war sogar froh darüber. Ich wollte Sie gern Wiedersehen, Wenda. Nein - Sie brauchen sich keine Sorge zu machen. Ich mache keinerlei Schwierigkeiten. Sollen wir gehen?« Erst als sie im Victory angekommen und beim Essen saßen, begann Sutton, wieder zu sprechen. »Sie sind jetzt bei der Bühne, habe ich gehört.« »Ja, ich bin in der Show von Hennessy: The Purple Slipper. Ich bin in ein paar Shows aufgetreten. Sie haben wohl Erkundigungen über mich eingezogen?« »Stimmt. Ich habe mich für Sie interessiert. Sie müssen zugeben, dass mein Interesse berechtigt ist, Wenda. Sagen Sie - hat Creed das HammerdaleHalsband bekommen? Ich habe oft darüber nachgedacht.« Sie lachte schrill. »Warum fragen Sie nicht ihn?« »Er würde es mir niemals sagen. Creed traut mir noch nicht. Ich kann ihm deshalb keinen Vorwurf machen. Ich traue ihm auch nicht. Wer ist dieser Bosanquet?« Sie spürte, wie sich ihre Hände so fest um die Tischkante klammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie schwieg lange und sagte dann: »Ich möchte Ihnen den Rat geben, nicht über Mr. Bosanquet zu sprechen.« »Warum nicht? Wer ist er, dass man nicht über ihn reden darf?« Sie beugte sich zu ihm hinüber. »Hören Sie zu, Sutton, ich will Ihnen einen Rat geben. Die Namenlosen mögen neugierige Leute nicht, und sie haben ihre besondere Art, mit ihnen fertig zu werden. Ich weiß nicht, was Sie Vorhaben.

Aber Sie sind nicht der Typ, sich auf solche Dinge einzulassen.« Der Tisch hinter ihnen füllte sich. Es war ein Tisch für sechs Personen, und der Eilfertigkeit der Kellner nach zu schließen, musste es sich um bevorzugte Gäste handeln. Wenda beobachtete sie verstohlen. »Mrs. van der Loon ist die Blonde am Ende. Der Große ist ihr Mann, der Kleine ist Lord Teller. Ich habe sie früher schon zusammen gesehen.« Sutton zündete sich eine neue Zigarette an. »Sie trägt ihre Diamanten. Ich möchte wissen, woher Creed seine Informationen bekommt. Der Mann muss einen großartigen Nachrichtendienst haben.« Er holte tief Luft, und dann hörte sie ihn leise fluchen. »Was ist?« »Kennen Sie Stacker?« Sie wurde blass. »Sergeant Stacker? Ist er hier?« »Persönlich«, sagte Tom Sutton, und als er die Augen hob, begegnete sein Blick dem des stämmigen Beamten. Stacker kam mit dem bedeutungsvollen Schritt des Polizeibeamten, der sich von Amts wegen auf Jagd befindet, zu ihnen herüber. Er trug einen altmodischen Smoking mit einem steifen Hemd, das sich höchst unbequem wölbte. »Ist das nicht Mr. Sutton, der bekannte Spezialist für Diamantenhalsbänder?«, sagte er mit lauter Stimme, und Wenda le Seur merkte, dass Gerald van der Loon sie interessiert beobachtete. Sutton grinste. »Guten Abend, Stacker. Haben Sie Ihren freien Abend?« Der Beamte nickte. Uneingeladen ergriff er einen Stuhl und ließ sich wuchtig und unbeholfen nieder. »Einmal im Jahr nehme ich mir einen freien Abend. Das ist heute.« Er betrachtete das Mädchen näher. »Und wenn das nicht Lottie Silas ist, die in Deptford gewohnt hat.«

Das Orchester hatte angefangen, einen bekannten Schlager zu spielen, und Wenda blickte auf. »Das hat Schmiss. Ich möchte tanzen.« Sergeant Stacker legte seine Pfeife nieder. »Es ist lange her, dass ich es versucht habe, aber ich glaube, ich habe es nicht ganz verlernt.« Wenda war erstaunt. »Ich wusste nicht, dass Sie tanzen, Mr. Stacker.« »Ich habe mal einen Preis für eine Mazurka bekommen«, sagte er. »Das war auf einem Polizeiball, als Sie noch nicht geboren waren.« Er streckte seine breite Hand aus, und sie ließ sich von ihm aufs Parkett führen. Trotz seiner Größe war er geradezu leichtfüßig; und nachdem sie ihre erste Überraschung überwunden hatte, fand sie es erstaunlich, dass er in dieser Kunst ohne Schwung sein sollte, was sie ihm mit leicht spitzer Stimme mitteilte. Als der Tanz zu Ende war und sie eben wieder an ihrem Tisch anlangten, ging das Licht aus. Ein erschreckter Schrei folgte, und dann ein Fluch. Mr. Sutton sah, wie Stacker herumfuhr, und hörte dann ein unterdrücktes bösartiges Schimpfen. In der Nähe schrillte eine Polizeipfeife; das Licht ging wieder an, und Sutton sah Stacker, dessen Hand um den Arm eines Kellners lag. Über die Tanzfläche kamen drei große Männer im Smoking, die offensichtlich mehr an die Wachtstube eines Polizeireviers als an Nachtklubs gewöhnt waren. Sergeant Stacker war beinahe heiter. »Alles schon vorbei, Greener. Nehmen Sie den Mann mit und durchsuchen sie ihn.« Er zog den entsetzten Geschäftsführer an seine Seite und gab ihm eine kurze Erklärung. »Sie können weitermachen, Caraccini. Es iert nichts mehr. Aber diesen Mann wollen wir mitnehmen.« Er sah in das mürrische Gesicht des Kellners. »Wo haben Sie denn den her?« Caraccini war äußerst beunruhigt. »Was für eine Aufregung! Was hat er getan?« Stacker rieb sich nachdenklich sein großes Ohr. »Ja, was? Das ist die Frage. Er ist ein Gauner.« Er musterte seinen Gefangenen näher und entdeckte hinter dessen Berufskleidung ein vertrautes Gesicht. Er drohte mit dem Finger. »Los, mein Junge! Sie heißen Pyke, nicht? Sie haben vor ein paar Jahren mit Long Larry Kempel zusammen gearbeitet.«

»Verdammt!«, sagte Pyke erbleichend, denn Stacker stieß ihm seine knollige Faust unter die Nase. Er beobachtete, wie der Mann abgeführt wurde, ein Lächeln melancholischen Stolzes in seinen dunklen Augen, und er setzte sich. »Ich brauche noch ein Bier, Mr. Sutton. Polizeidienst ist eine trockene Arbeit. Sie haben keine Ahnung, wieviel Kleinarbeit zu einer Sache wie dieser hier gehört.« Tom Sutton unterbrach ihn ruhig. »Um was ging es überhaupt, Stacker?« Der schwere Mann sah ihn mit einem seltsamen Blick an. »Raubüberfall, Mr. Sutton. Ich wette, als Sie heute Abend hierherkamen, haben Sie es sich nicht träumen lassen, dass der Versuch gemacht werden sollte, Mrs. van der Loons Diamanten zu stehlen! Sie sind natürlich über solche Dinge nicht informiert.« Sutton zündete sich ruhig eine Zigarette an. »Aber Sie?« »Ich bin recht gut informiert.« Er sah plötzlich auf. »Jetzt gehen die van der Loons weg. Und sie trägt immer noch ihre Diamanten. Wetten, dass ihr Mann sie morgen auf die Bank bringt - und er täte gut daran.« Er schnippte mit den Fingern. »Kellner, ein Bier.« Tom Sutton saß schweigend da. Hinter der Sache steckte mehr, als es nach außen hin den Anschein hatte. Hatte Creed irgendwie versagt, oder wie war Scotland Yard zu diesem Tip gekommen? Stacker drehte sich herum, als ein Mann in blauer Uniform neben ihn trat. »Was ist, Laken?« Constable Laken hustete. »Gerade ist ein Bericht durchgekommen, Sir. Der Wagen der van der Loons ist am Kensington Drive angehalten und ein Diamanthalsband gestohlen worden. Auf den Chauffeur wurde zweimal geschossen.« Ein kurzes gespanntes Schweigen entstand. Dann sagte Sergeant Stacker: »Verdammt!«, und selbst Tom Sutton hielt diesen Fluch für entschuldbar.

Neuntes Kapitel

Am nächsten Morgen fand in Scotland Yard eine Konferenz statt, und hier vor seinen kritischen Vorgesetzten gab Sergeant Stacker seine Erklärung ab. Er war gedrückterer Stimmung als üblich, doch sein mageres Gesicht war hart und entschlossen. »Die Namenlosen sind durchtriebener, als ich gedacht hatte«, sagte er langsam. »Ich will keine Entschuldigungen Vorbringen. Ich habe eine Information erhalten, dass gestern Abend ein Angriff auf das Van-der-Loon-Halsband gemacht werden sollte, und ich habe dementsprechend meine Vorkehrungen getroffen. Die Information lautete, dass das Hauptlicht ausgeschaltet und einer der Kellner des Victory den Schmuck stehlen würde. Nun ja - ich habe ihn gefasst.« Superintendent Benner von der Vine Street nickte. »Sie haben Pyke gefasst. Davon habe ich gehört. Wie steht es mit den anderen?« Stacker brummte. »Sonst war niemand da. Das Schaltbrett ist im Flur hinter dem Speisesaal, zu dem eine Tür führt. Ich hatte an jedem Flur-Ende einen Mann stehen. Beide sahen Pyke. Dabei war das nur ein Vorwand. Der richtige Angriff ist auf ihrer Heimfahrt gemacht worden. Ich hätte es wissen müssen, aber die Umstände schienen eindeutig. Sutton war zusammen mit Wenda le Seur da. Ich nehme an, die Namenlosen dachten, dass die beiden mein Interesse fesseln würden, und sie hatten damit recht. Ich habe die beiden beobachtet wie ein Adler. Die ganze Zeit müssen sie sich über mich kaputtgelacht haben, und das geht mir sehr gegen den Strich.« Major Drake klopfte seine Pfeife aus. »Mir scheint, die Namenlosen sind etwas zu klug gewesen.« »Stimmt«, sagte Stacker ohne Bitterkeit in der Stimme. »Entweder das oder ich bin zu dumm, und das ist etwas, was ich ungern zugebe.« Inspektor Flagg seufzte. »Woher hatten Sie Ihre Informationen wegen des geplanten Überfalls?«

Stacker legte seine großen Finger an die Nase, und Flagg sank in seinem Stuhl zurück. »Geheim, was? Das habe ich mir gedacht. Und falsch waren sie auch.« »Das ist es eben, was mir Kummer macht«, sagte Stacker grimmig, und damit war die Konferenz beendigt, und die Männer verließen das große Zimmer des Kommissars, um in ihre verschiedenen Büros zurückzukehren. Stacker ging bedrückt in sein kleines Zimmer zurück, wo er verschiedene Berichte zu seiner Prüfung vorfand. Darunter befand sich ein Bericht, in dem stand, dass der von den Banditen bei dem Überfall auf die van der Loons benutzte Wagen in der Nähe von Sheen Common verlassen aufgefunden worden war. Er rief den Inspektor an, der diesen Bericht durchgegeben hatte. »Es scheint der Wagen zu sein«, sagte Inspektor Davies. »Eine Humber Limousine - und die drei letzten Zahlen der Nummer waren zwei - drei - zwei. Das übrige haben die van der Loons nicht gesehen. Ich habe die Nummer überprüfen lassen. Der Wagen gehört einem Doktor in Peckham Rye. Er ist ihm gestern Abend kurz vor zehn vor einem Haus, in dem er einen Besuch gemacht hat, gestohlen worden.« Stacker seufzte. »Irgendwelche Fingerabdrücke?« »Tausende«, sagte der Mann heiter. »Ich habe den Kollegen gerade hier. Ich glaube nicht, dass er irgendetwas von Wert herausbringt. Die Namenlosen werden keine Fingerabdrücke hinterlassen.« Das stimmte wahrscheinlich. Wie sehr es stimmte, wurde ihm klar, als er seinen eigenen Bericht fertiggeschrieben hatte. Er war erschreckt und verwirrt. Als er seine laufende Arbeit beendet hatte, nahm er wieder den Telefonhörer und sprach gleich darauf mit einem seiner verlässlichsten Männer. Constable Peel war optimistischer Stimmung. »Ich glaube nicht, dass sich heute etwas tun wird, Sir. Ich habe hier ein kleines Zimmer, und ich kann das Fenster mit meinem Glas beobachten. Beim ersten Anzeichen von irgendetwas Außergewöhnlichem bin ich drüben. Was erwarten Sie?« Stacker fluchte. »Alles. Creed ist zu gerieben, um irgendwas in seiner Wohnung zu unternehmen. War er heute schon in seinem Büro?« »Er ist jetzt eben dort«, sagte Peel, und Stacker zögerte.

»Tatsächlich? Vielleicht besuche ich ihn.« Er fuhr in einem Polizeiwagen zur Wood Street, ließ ihn in einiger Entfernung von der Anwaltskanzlei stehen und ging den restlichen Weg zu Fuß. Hamilton Creed saß an seinem großen Schreibtisch, als das Mädchen hereinkam. Bei ihrer Nachricht war er leicht erstaunt. »Sergeant Stacker will mich sprechen?« Mary Randall nickte. »Ja, das hat er gesagt. Er scheint nicht gerade rosig gelaunt zu sein.« Als Sergeant Stacker eintrat, füllte der Anwalt eben ein rötliches Formular aus, löschte es ab und schob es zur Seite. »Ah, Sergeant Stacker. Bitte, nehmen Sie Platz.« Auf seinen vollen Lippen lag ein Lächeln. »Was kann ich für Sie tun, Sergeant?« Stacker zog sich einen Stuhl heran. »Im Grund wollte ich gar nicht Sie sprechen, Mr. Creed.« Creed nickte. »Das kann ich mir denken. Ich glaube nicht, dass sich unsere Wege kreuzen, Stacker.« »Nein. Es handelt sich um Mr. Bosanquet.« Creed seufzte und spreizte die Hände. »Wie schade! Der junge Mr. Bosanquet und ich nehme an, es ist der junge, den Sie sprechen wollen - ist gerade weggegangen.« »Kommt er wieder?« Creed zuckte seine Schultern. »Ich glaube kaum. Er kommt selten in die Kanzlei, Stacker. Er ist einer dieser modernen jungen Männer, die mehr Geld haben, als gut für sie ist. Unter uns gesagt, ich kann das nicht gutheißen -. Aber was will man machen?« Stacker zog seine Pfeife heraus und sah sich interessiert um. »Hübsches Büro, was Sie da haben, Mr. Creed. Ein Bekannter hat mir gesagt, Sie taugten nicht viel als Anwalt; aber das kann wohl nicht stimmen, denn wie sollten Sie sonst so

ein Büro unterhalten? Können Sie mir das beantworten?« Der große Mann sah sich mit kindlicher Unschuld um, doch Creed entwickelte wenig Sinn für Humor. »Ihr Bekannter scheint wenig vom Anwaltsberuf zu verstehen«, sagte er steif, und der Beamte schüttelte den Kopf. »Er müsste es eigentlich wissen. Aber das nur nebenbei. Wovon sprachen wir? Ach ja, von unserem Freund Mr. Sutton, dem bekannten Diamantendieb.« Creed hatte eine Berichtigung auf der Zunge, hielt sich aber zurück. Stattdessen lächelte er. »Ich kenne den jungen Mann. Er war neulich hier. Er wollte mit Mr. Bosanquet sprechen.« »Was Sie nicht sagen!« bemerkte Stacker interessiert. »Davon hat er mir gar nichts erzählt. Ich habe ihn gestern Abend im Victory getroffen. Das ist der schicke neue Klub, in dem jetzt allen Frauen die Diamanten gestohlen werden. Er war mit Wenda le Seur zusammen.« »Die kenne ich nicht.« »Sie ist eine Freundin von Ihnen«, sagte Stacker hilfsbereit. »Sie zahlen ihre Wohnungsmiete. Sie kostet Sie fünfhundertachtzig Pfund jährlich.« Falls sich Creed über diese Äußerung ärgerte, so ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen lachte er laut auf. »Wirklich, Sergeant, ich wusste nicht, dass Sie über diese kleine - Indiskretion orientiert sind. Ich hoffe, Sie behalten sie für sich. Es wäre mir nicht angenehm, wenn darüber geredet würde.« »Ich werde mit keiner Seele darüber sprechen.« Der schwere Mann erhob sich und setzte seine Melone auf. »Wenn Sie Mr. Bosanquet das nächste Mal sehen, sagen Sie ihm, ich käme wieder vorbei.« Er verschwand mit einem Kopfnicken und schloss die Tür hinter sich. Er ging durch den kleinen Flur in das Vorzimmer, wo Mary Randall zu ihm aufsah. »Sie sind schon fertig, Mr. Stacker?«

»Ich habe noch gar nicht angefangen«, sagte er bedeutsam, und sie lächelte. Er ging hinaus, und als das Geräusch seiner schweren Tritte die Treppe hinunter verklungen war, rief Creed sie in sein Zimmer. Sie kam, seine Frage vorausahnend. »Stacker ist ein gescheiter Bursche. Ich fange an, mehr von ihm zu halten.« »Ich ebenfalls«, gab er zu. Er legte seine wohlgeformten Fingerspitzen zusammen und sah sie an. »So sehr, dass ich überlege, warum er heute überhaupt gekommen ist.« Er zuckte die Schultern. »Na ja, Mary, Sie können jetzt gehen. Vielleicht brauche ich Sie später noch. Sind Sie zu Hause, falls ich anrufe?« Sie überlegte. »Wenn es wichtig ist, kann ich es einrichten. Sonst bin ich verabredet.« »Nicht so wichtig - es kann warten.« Er entließ sie mit einem Kopfnicken. Als er hörte, wie sie ein paar Augenblicke später hinausging, näherte er sich vorsichtig dem Fenster, wo er so stehenblieb, dass seine stattliche Figur hinter den breiten Jalousien verborgen blieb. Seine Augen glitten prüfend über die Straße und dann über das große alte Haus gegenüber. Eine Bewegung an einem der Fenster fiel ihm auf, und sekundenlang blieb er nachdenklich stehen. In einem Schrank neben ihm befand sich ein Zeiss-Glas. Er nahm es, stellte es ein und blieb lange regungslos stehen. Schließlich senkte er es. Seine Nachbarschaft war ihm vertraut. Die Exportfirma, die den gegenüberliegenden Block bewohnte, bildete keine Ausnahme, nur die massive Gestalt des Mannes, der ein Fernglas benutzte, war ihm fremd. Er trat an den Schreibtisch zurück, wählte eine Nummer und sagte, als sich eine Stimme meldete: »Ich möchte Balder sprechen.« Als Balder an den Apparat kam, sprach er mit ihm in fließendem Deutsch, das Balder ebenso wie seine Muttersprache Flämisch beherrschte. Als das Gespräch zu Ende war, hing der Anwalt ein und setzte sich, das Kinn in die Hand gestützt. Die letzten Ereignisse gaben ihm genügend Stoff zum Nachdenken. Stacker war fähiger, als er gedacht hatte. Dass dieser Durchschnittsmann so viel wusste, verletzte Creeds Stolz. Eine halbe Stunde lang blieb er still sitzen, dann klingelte das Telefon. Das war der Anruf, auf den er gewartet hatte, und er hob den Hörer. »Hier Hamilton Creed.«

»Mein lieber Hamilton, können Sie heute Abend zu mir kommen?« Falls er erstaunt war, Martha Rutters klägliche Stimme zu hören, so beherrschte er seine Stimme jedenfalls vollkommen. »Heute Abend, Mrs. Rutter? Ja, ich... ich bin ziemlich beschäftigt, aber wenn es wichtig ist, dann natürlich mit Vergnügen. Wie geht es Ihnen? Ihre Stimme klingt erschöpft -. Sie überanstrengen sich.« Die Frau seufzte. »Es sind meine schrecklichen Nerven. Wirklich, Sie ahnen nicht, was ich leide, Hamilton. Mir kommen die schrecklichsten Gedanken. Es ist alles so aufregend, aber ich habe meine Ansicht über diese amerikanischen Aktien geändert.« »Gut, ich komme. Aber es kann spät werden.« Sie dankte ihm im klagenden Ton. »Es spielt keine Rolle, wann Sie kommen. Sie wissen, dass ich nicht schlafen kann, Hamilton. Der Doktor meint, eine Abwechslung könnte mir guttun. Er schlug vor, ich sollte nach London gehen aber ich finde, das ist eine entsetzliche Idee; ich könnte die Aufregung nicht ertragen.« »Vielleicht wäre es doch gut«, sagte er zögernd. »Ihr Haus am Exeter Square befindet sich in ausgezeichneter Verfassung, und ich könnte alles für Sie vorbereiten.« »Wie liebenswürdig Sie sind, Hamilton! Was würde ich ohne Sie anfangen?« Sie hing ein, und einen Augenblick lang saß er still. Etwas Kaltes berührte sein Herz, und nicht einmal die Namenlosen konnten ihm hier helfen.

ZWEITER TEIL

Zehntes Kapitel

Es war beinahe zehn Uhr, als Mary Randall auf möglichst unauffällige Weise ihre Wohnung verließ. Zehn Minuten lang fuhr sie mit dem Omnibus, bis sie ausstieg und durch die grauen Straßen wanderte. Weitere fünf Minuten brachten sie bis zu ihrem. Bestimmungsort, einer kleinen Tankstelle, wo noch die Lichter brannten. Als sie den Hof betrat, kam ein großer Mann heraus, der seine Hände an einem öligen Lappen abputzte. »Wer ist da?« »In Ordnung, Smithers.« Er sah in die Dunkelheit hinaus. »Guten Abend, Miss. Ich habe Schritte gehört. Sie sind spät heute Abend.« Sie lachte. »Das bin ich, und es wird noch später. Ich muss eine kleine Fahrt machen.« Er schüttelte teilnehmend den Kopf. »Was für ein Leben Sie haben, Miss. Ich habe immer gesagt, ich möchte kein Arzt sein, aber Schwester scheint mir genauso schlimm. Sie müssen wohl kommen, wenn man Sie ruft?« Sie nickte. Die Version, sie arbeite als Privatschwester, war praktisch und erklärte dem gutmütigen Mann die unregelmäßigen Stunden, zu denen sie erschien. Sie holte den kleinen Wagen, der hier zu ihrer Verfügung stand, und fuhr nach Hendon, wo sie vor einem großen Appartementblock hielt und nach oben ging. Dort hatte sie eine kleine Wohnung; sie setzte sich ans Telefon und wählte eine Nummer. Ein paar Augenblicke später hörte sie eine männliche Stimme, aus der Gereiztheit klang.

»Sie sind spät heute Abend. Ich dachte bereits, es wäre etwas iert.« »Nein, aber ich habe das Gefühl, als würde bald etwas ieren.« »Wieso? Was ist los?« »Vorläufig noch nichts, aber ich glaube, mein Hiersein hat nicht mehr viel Sinn.« Er überlegte. »Wie kommen Sie darauf?« »Ich habe ein Gefühl für Atmosphäre«, sagte sie trocken. »Ich glaube, ich habe gestern einen Fehler gemacht. Heute war ein Mann vom Yard im Büro Stacker.« Sie hörte, wie er einen Pfiff ausstieß. »Was wollte er?« Mary Randall lachte. »Ich glaube, er wollte nur herumschnüffeln. Er hat nichts gesagt, und das war gut. Creed hört alles, was im Vorzimmer vorgeht. Ein Diktafon ist angeschlossen. Ich nehme an, dass Stacker das weiß.« »Glauben Sie, dass Creed Sie verdächtigt?« Einen Augenblick lang antwortete sie nicht. »Creed verdächtigt jeden. Ich bin ziemlich sicher, dass er jetzt Bescheid weiß. Und trotzdem - es ist schwer zu sagen.« Er schwieg, und sie wusste, dass er einen Entschluss fasste. »Dann ist es besser, Sie gehen. Wenn auch nicht zu rasch. Er wird keine übereilten Schritte vornehmen. So plump ist Creed nicht. Wir sprechen uns am Freitag wieder. Ist das recht?« Sie überlegte. »Ich glaube schon. Ich halte durch.« Er sprach noch ein paar Worte und hing dann ein. Sie lehnte sich, eine Zigarette rauchend, zurück. Das tat sie selten, denn Rauchen gehörte nicht zu ihren Lastern, aber ihre angespannten Nerven bedurften der Beruhigung. Vor ihr lag noch eine weitere Unternehmung, die eine letzte Beanspruchung ihrer Nerven erforderte. Sie hatte die Zigarette beinahe zu Ende geraucht, als sie die Uhr zwölf schlagen hörte und sich erhob. Neben ihr in einer Schublade lag eine starke Taschenlampe. Sie nahm sie, kehrte zu ihrem Wagen zurück und fuhr

wieder in die Stadt. Die Wood Street lag verlassen da, als sie sie erreichte, und sie parkte ihren kleinen Wagen in einigem Abstand von der Kanzlei Bosanquet, Brown & Bracebridge und begab sich zu Fuß dorthin. Als sie vor dem großen Gebäude ankam, war niemand zu sehen, und nach kurzer Überlegung sperrte sie mit ihrem eigenen Schlüssel auf und verschloss die schwere Eichentür von innen. Vorsichtig tastete sie sich zu den Räumen, die sie tagsüber benutzte, und blieb einen Augenblick lang auf der Schwelle stehen. Aber die Nacht war still, und nichts rührte sich. Sie ging auf das größere Zimmer, das Hamilton Creed benutzte, zu. Vor der Tür blieb sie stehen und drückte vorsichtig auf die Klinke. Wie sie angenommen hatte, war abgeschlossen, doch darauf war sie vorbereitet, und der Schlüssel, den sie hervorzog, war von einem Fachmann gearbeitet. Einen Augenblick später war sie drin, und sie spürte, wie ihr Herz heftig schlug. Sie richtete ihre Lampe auf den großen Safe, der in einer Ecke eingebaut war. Sie hatte ihn schon offen gesehen, hatte ihn sogar während ihrer Tätigkeit selber geöffnet, aber in dem Safe befand sich ein weiterer Safe, und diesen inneren Behälter zu untersuchen, hatte sie niemals Gelegenheit gehabt. Die schwere Tür schwang zurück, und sie beleuchtete das Innere. Dort lagen Akten und sauber ausgefüllte Karteikarten; dahinter war die dünne Stahlplatte, die zur Tarnung diente. Diese entfernte sie, um den inneren Safe freizulegen. Sie untersuchte ihn eine Weile. Bestand irgendeine wirkliche Notwendigkeit für sein Vorhandensein? Würde ein so gerissener Mann wie Creed in seinem Büro irgendwelche Beweise unterbringen, die ihm schädlich sein konnten? Sie beugte sich weiter vor, um ihn zu untersuchen, als sie aus weiter Ferne das leise schlurfende Geräusch von Schritten hörte. Sie erstarrte augenblicklich. War jemand in dem Gebäude? Sie spürte, wie es ihr eiskalt über den Rücken lief. War Creed zurückgekehrt? Waren die Namenlosen überall? Mit zitternden Fingern schob sie die Rückwand des Safes an ihren Platz zurück, schloss die schwere Tür und trat ins Büro zurück; jeder Nerv in ihrem Körper war angespannt. In ihrer Handtasche hatte sie eine kleine automatische Pistole. Sie nahm sie heraus und spannte den Hahn. Vorsichtig suchte sie den Weg zur Tür zurück, erreichte den Flur und blieb stehen. Eine Minute verstrich, dann fünf weitere. Sie begann, leichter zu atmen, denn

um sie herum blieb es still. Doch dann hörte sie einen leichten Schritt, und sofort wusste sie, dass ihr Schrecken berechtigt gewesen war. Über ihr waren Abstellräume, die kaum mehr gebraucht wurden. Dort oben bewegte sich jemand und näherte sich mit bedächtiger Heimlichkeit. Die Schritte kamen näher. Jemand stieg die Treppe herunter. Sie wartete einen Augenblick und öffnete dann ganz vorsichtig einen Spalt weit die Tür. Ein dünner Lichtstrahl fiel auf den Treppenabsatz vor ihr, aber dahinter konnte sie nichts erkennen. Jetzt ging der Fremde über den Vorplatz und hob sich gegen das Fenster ab. Sie sah eine große undeutliche Silhouette, die ihr merkwürdig bekannt vorkam. Der Mann verschwand aus ihrem Gesichtskreis, und sie hörte, wie sich die Tür des Vorzimmers öffnete und schloss. Sekundenlag blieb sie regungslos in der Dunkelheit stehen, nur in ihrem Hirn wirbelte es. Wer war der Eindringling? Ihre Neugier war stärker geworden als ihre Angst. Behutsam öffnete sie die Tür und lauschte. Wie sie angenommen hatte, war er in Hamilton Creeds Zimmer gegangen. Sie schlich auf dem Teppich hinüber und horchte an der zweiten Tür. Diesmal konnte sie hören, wie er sich drin bewegte. Wer war der seltsame Besucher? War es sicher, noch hierzubleiben, um einen Blick auf ihn zu werfen? Sie hatte sich lange genug aufgehalten. Es hatte keinen Sinn, ihr Leben zu riskieren, nur um ihre Neugier zu befriedigen. Sie wandte sich zum Rückzug, ging durch das Vorzimmer und war schon auf der Treppe, als das Hauptlicht auf dem Flur erlosch. - Angst durchbohrte ihr Herz. Von unten hörte sie das schnelle und harte Atmen eines Mannes, der rasch auf sie zukam. Noch einen Augenblick, und er war auf der Treppe, und ihr war der Weg abgeschnitten! Sie rannte zurück, während ihr Herz wie wahnsinnig schlug. Sie erreichte die Etagentür und öffnete sie. Vor ihr lag das Zimmer des Hausmeisters. Wenn sie das erreichen könnte...! Sie trat einen Schritt vor - ihre Hand berührte eine raue Tweedjacke, und. sie spürte, wie jemand mit eisernem Griff sie packte. Sie unterdrückte einen Schrei, der auf ihre Lippen kam, hörte, wie er einen verblüfften Laut ausstieß und spürte, wie sich seine Arme lockerten. Hinter sich vernahm sie das Geräusch schneller Schritte, und sie keuchte. »Es kommt jemand! Drüben auf dem Flur ist eine Kammer.«

In ein paar Sekunden hatten sie diese erreicht, und die Tür geschlossen. Sie stand zitternd im Dunklen, und dann spürte sie, dass er sich ihr zugewandt hatte. »Wer ist es?« »Ich weiß es nicht. Er kam von unten herein.« »Ist es Creed?« »Ich glaube nicht... Vielleicht. Er kann auch einen anderen geschickt haben.« Sie hörte ihn leise lachen, und dann merkte sie, dass die Tür einen Spalt geöffnet worden war, da ein Lichtschimmer vom äußeren Flur hereinfiel. Etwas glitzerte im Licht, und sie erkannte den langen Lauf einer Luger in der Hand des Mannes. Er blieb einen Augenblick lang lauschend stehen, trat dann auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Eine Minute verging – eine zweite... Sie sah, wie sich die Tür öffnete und er wieder hereinkam, und unlogischerweise fühlte sie sich erleichtert. Zunächst sprach er nicht, dann hörte sie sein Flüstern. »Sind Sie da?« »Ja. Haben Sie ihn gesehen?« »Ich habe ihn gesehen«, sagte er, und die Härte in seiner Stimme ließ sie erzittern. »Gott sei Dank, dass er Sie nicht gesehen hat.« Wieder erstarrte er, als die Schritte des Eindringlings auf dem Flur erklangen. Er ging nach unten, und wenig später hörte sie das Geräusch der sich öffnenden und schließenden Tür, und dann das Knacken eines Schlüssels. Sie holte erleichtert Atem und richtete sich aus ihrer verkrampften Haltung auf. »Er ist fort. Es muss einer von Creeds Männern sein, sonst hätte er keinen Schlüssel gehabt.« Er äußerte sich nicht dazu, sondern sagte: »Warten Sie hier, bis ich mich vergewissert habe.« Er ging leise bis ans Ende des Flurs, und sie hörte seine Stimme. »Jetzt können Sie kommen.« Sie ging den Flur entlang und sah die hohe Gestalt neben dem Fenster stehen.

Als sie in den schwachen Lichtschein trat, grinste er. »Miss Randall, nicht wahr?« Etwas in seiner Stimme klang merkwürdig vertraut. »Wer sind Sie?« »Ein Bekannter«, sagte er kühl, und sie entsann sich seiner. »Mr. Sutton...« Sie hörte sein leises Lachen. »Stimmt. Tom Sutton. - Wie sind Sie hier hereingekommen?« »Durch die Tür. Ich habe Schlüssel« Er überlegte kurz. »Ihr Weg war der beste. Ich bin übers Dach geklettert.« »Warum sind Sie überhaupt hierhergekommen?« Er blickte ruhig auf sie herab. »Und Sie?« Als sie nicht antwortete, lachte er. »Aber dies ist kein Ort für Vertraulichkeiten -. Besser, wir machen, dass wir von hier wegkommen. Womöglich hat Creed einen Wachtposten stehen.« Er rannte die Treppe hinunter und zur Tür, und sie folgte ihm. Einen Augenblick später gingen sie die Wood Street entlang. Hundert Meter weiter berührte sie seinen Arm. »Da drüben steht mein Wagen. Kann ich Sie irgendwohin fahren?« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, junge Dame. Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Und - lassen Sie sich einen Rat geben, Mary Randall, verlassen Sie Ihre Stellung bei Creed, bevor es zu spät ist.« »Was meinen Sie damit?« Er lachte kurz. »Ich glaube, Sie wissen, was ich meine. Die Namenlosen machen kurzen Prozess mit Menschen, die zu viel wissen. Und Sie wissen zu viel.« Sie schwieg sekundenlang und nickte dann. »Vielleicht haben Sie recht, Tom

Sutton. Und trotzdem möchte ich gern noch etwas wissen.« »Was wäre das?« »Warum sind Sie heute Abend in die Wood Street gekommen?« Er antwortete nicht, und sie seufzte. »Ich hatte nicht erwartet, dass Sie es mir sagen würden. Aber sagen Sie mir etwas anderes: Wer .war der Mann, den Sie in Creeds Büro gesehen haben?« Er blickte sie nachdenklich an. »Sein Name ist Selden. Drew Selden.« »Selden?« Es verband sich nichts für sie mit dem Namen. »Das letzte Mal habe ich ihn in Dartmoor gesehen, und er kam aus Brooor, der Anstalt für krankhafte Verbrecher. Erinnern Sie sich jetzt?« Sie fühlte, wie es ihr kalt ums Herz wurde. »Drew Selden - der Mörder von Hammersmith? Ja, natürlich. Wie entsetzlich!«

Elftes Kapitel

Hamilton Creed betrat am nächsten Morgen erst nach elf Uhr sein Büro. Er wirkte erschöpft. Seine vollen Züge wirkten eingesunken, und seine dunklen Augen waren verquollen, was von zu wenig Schlaf und nagenden Sorgen zeugte. Mary Randall fiel dies bei seinem Eintritt auf. Später am Vormittag rief er sie zu sich, um ihr Briefe zu diktieren. »Das muss heute Morgen noch hinaus«, sagte er. Er strich sich nervös über seinen Schnurrbart. »Vielleicht brauche ich Sie heute Abend. Ich muss jemandem eine Nachricht übermitteln - ziemlich weit weg. Am liebsten würde ich Ihnen diese Aufgabe anvertrauen - lieber als irgendjemand anderem.« Sie überlegte, ob er bemerkt hatte, dass jemand in sein Büro eingedrungen war; wenn dies der Fall war, so ließ er es durch nichts erkennen. Sie zog sich zurück,

und nachdem sie gegangen war, blieb er regungslos sitzen und grübelte über seine schwierige Situation nach. Heute Nacht war im Norden etwas geplant. Er stand mit Mercer, der die Sache handhabte, in Verbindung, und es war wichtig, dass es klappte. Es war fast Mittag, als sich die Tür wieder öffnete und Mary Randall erschien. »Ein Besucher für Sie«, sagte sie. »Lewis Slesser. Er sagt, er müsste Sie sprechen.« Mit einem unergründlichen Blick beobachtete er, wie der junge Mann hereinstürmte, er ihm die Hand reichte und bot ihm einen Stuhl an. »Was kann ich heute für Sie tun, Lewis?« Lewis Slesser fühlte sich keineswegs wohl in seiner Haut. Er fuhr mit der Hand durch sein blondes Haar, zupfte an seinem Taschentuch, und Creed, der einige Erfahrungen mit diesen Besuchen hatte, seufzte. »Handelt es sich um Geld?« Lew Slesser war erleichtert. »Genau das, Creed, alter Junge. Ich weiß nicht, wie Sie das immer erraten können.« »Sie haben dieses Jahr Ihre Rente bereits um vierhundert Pfund überzogen, Lewis. Was glauben Sie, wie lange Sie so weitermachen können?« Der junge Mann rieb sich sein schwaches Kinn. »Das ist, was mich beunruhigt, Creed. Ich habe nachgedacht, alter Junge, und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass deswegen etwas geschehen muss.« Creed hob seine kalten Augen. »Weswegen?« »Wegen des Geldes«, sagte Lewis hilfreich. »Lieber alter Junge - sind Sie sich klar, dass ich nicht im Geringsten weiß, was ich besitze? Nicht im allergeringsten. Ich weiß nicht, wieviel ich habe - wer es hinterlassen hat...« Creed seufzte. »Sie wissen, dass Ihnen Ihr Onkel Arnold Slesser das Geld hinterlassen hat. Wenn man den Betrag bedenkt, so ist er für Sie mehr als vorteilhaft. Es war eine stattliche Summe, Lewis, groß genug, um Ihnen jährlich zweitausend Pfund auszahlen zu können, bis es zu dieser - äh - unglücklichen

Steuererhöhung, die der Krieg mit sich brachte, gekommen ist.« »Ich möchte mehr darüber erfahren. Ich bin zweiunddreißig. Vielleicht möchte ich damit etwas unternehmen. Vielleicht möchte ich sogar heiraten.« Creeds Lachen wies darauf hin, wie grotesk diese unwahrscheinliche Idee war. »Heiraten, Lewis? Warum sollten Sie heiraten?«» Doch Slesser ließ ihn im Ungewissen. »Vielleicht möchte ich verschiedenes unternehmen«, sagte er vage. »Das wäre nur eine Sache. Nicht gerade wahrscheinlich...« »Natürlich«, sagte Creed, doch hinter seinem ausdruckslosen Gesicht arbeitete sein Verstand rasch. »Natürlich begreife ich, was Sie meinen. Ich werde versuchen, den jungen Mt. Bosanquet zu erreichen, der für diese Dinge verantwortlich ist. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Es braucht seine Zeit, ein Mann, der sich heute in Ägypten und morgen in Amerika aufhält, ist nicht so leicht zu erreichen, Aber ich kann Ihnen versichern, Lewis, dass ich die Sache bei der ersten Gelegenheit mit dem jungen Mr. Bosanquet besprechen werde.« Lewis Slesser war entsprechend dankbar. »Das ist eine Erleichterung, lieber, alter Creed. Wirklich. Und dann - noch etwas anderes...« Creed holte das Scheckbuch hervor. »Wieviel?« »Sind hundert zu viel? Ich habe zwei schrecklich große Ausgaben gehabt...« Der Anwalt schrieb den Scheck aus und Unterzeichnete ihn. »Sie werden extravagant, Lewis, etwas, was ein junger Mann in diesen harten und schweren Zeiten nicht sein dürfte. Sie haben Ihr Konto schwer überzogen. Ich bin sicher, dass der junge Mr. Bosanquet keineswegs damit einverstanden sein wird.« Slesser legte den rosa Scheck in seine Brieftasche. »Vielen Dank, alter Junge.« Er stand auf. »Ich war gestern Abend in Battery House, Lewis, und Mrs. Rutter hat sich nach ihnen erkundigt. Auf den Rat ihres Arztes hin hat sie beschlossen, nach London

zu kommen. Sie werden sie am Exeter Square besuchen müssen.« Als der junge Mann gegangen war, blieb Creed einen Augenblick lang gedankenvoll sitzen. Lewis Slesser war ein Problem, das ihn ziemlich beschäftigte. Er hob den Hörer des Telefons, das in einer Schreibtischschublade verborgen stand, und sprach. Balder, der in Reichweite des Haustelefons wohnte, meldete sich. »Sind Sie da, Balder? Lewis Slesser hat gerade mein Büro verlassen. Ich möchte, dass man ihm folgt.« Balder überlegte. »Ich mache es selbst, Mr. Creed. Slesser kommt gerade aus dem Haus und hat noch kein Taxi gefunden.« »Das ist gut«, sagte Creed. Er gab noch genauere Instruktionen, denen Solomon Balder genau zuhörte. Dann legte er auf und trat aus der grüngestrichenen Haustür. Dort war eine Messingplatte angebracht, auf der stand:

Brennan & Spencer

Export

Lewis Slesser hatte einen gewissen Vorsprung. Er sah sich am Ende der Wood Street vergeblich nach einem Taxi um. Bis er eins gefunden hatte, war Balder in einer Austin Limousine gefolgt, die aus dem Hof des Gebäudes gekommen war. Balder gab dem Fahrer genaue Anweisungen. »Fahr hinter dem Taxi her. Wenn der Mann aussteigt und ich ihm folge, warte in der Nähe, bis ich zurückkomme.« Doch die Fahrt war nicht lang. Beim Marmont stieg Slesser aus und ging hinein. Er aß gelegentlich in diesem Luxushotel, und der Ober geleitete ihn unterwürfig an einen Eck tisch. »Hier ist es Ihnen hoffentlich angenehm, Sir. Die Dame ist noch nicht da.«

Die Dame erschien einen Augenblick später, und Wenda le Seur befand sich in erregter Stimmung. »Ich habe deinen Brief bekommen, Lew. Wirklich, du hättest mir sagen sollen, dass du Creed besuchst. Du hast mir einen Schrecken eingejagt. Hast du ihm von - uns erzählt?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe die Angelegenheit mit Takt behandelt.« »Was hast du gesagt? Du hast mich nicht erwähnt?« »Nein, ich habe niemanden erwähnt. Ich bin sehr bestimmt aufgetreten, und das hat er gemerkt. Ich habe einiges festgelegt.« »Das kann ich mir denken«, sagte sie langsam. Einen Augenblick lang war sie wie von Panik ergriffen. »Ich hoffe, du warst diskret, Lew. Ich kenne Creed, und ich habe Angst vor ihm. Nein - ich kann dir nicht sagen, warum. Es ist so ein Gefühl, dass einen eben befällt. Hat er Fragen an dich gestellt?« »Ich habe die Fragen gestellt«, sagte er selbstzufrieden, »und ich habe einige Antworten bekommen.« Während der nächsten zehn Minuten erzählte er ihr geradezu zungenfertig, was er zu Creed gesagt und was dieser ihm geantwortet hatte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das könnte. Seit ich den Burschen kenne, habe ich Angst vor ihm gehabt, und jetzt fraß er mir sozusagen aus der Hand. Als ich ihm sagte, ich würde vielleicht heiraten...« Sie starrte ihn an. »Was hast du ihm gesagt?« »Dass ich vielleicht heiraten würde!« Er beugte sich vor. »Eines Tages muss ich es ihm sagen - und es kann nichts schaden, schon ein bisschen vorzubauen...« Sie lehnte sich schwach zurück, und es lief ihr eiskalt über den Rücken. Wenn Lewis Slesser so viel gesagt hatte, würde Creed ihre Absichten erraten. Slesser beobachtete sie. Du siehst nicht gut aus, Wenda.« »Ja, ich glaube, ich bin ein bisschen... Du hast mich erschreckt, Lew. Es ist mir nicht recht, dass du davon gesprochen hast. Jetzt noch nicht. - Bestell mir was zu

trinken.« Er beeilte sich, diesem Wunsch nachzukommen. »Ich wollte dir keinen Ärger machen, Wenda. Ich habe dich auch nicht erwähnt. Außerdem verstehe ich nicht, was es ausmachen soll.« »Es gibt ein paar Dinge, die du nicht verstehst, Lew.«

Zwölftes Kapitel

Tom Sutton fuhr in einem großen starken Alvis durch London. Als er eine Stunde gefahren war, erreichte er seinen Bestimmungsort, wo er den untersetzten Mann an dem verabredeten Ort zu sich einsteigen ließ. Brophey war begeistert. »Alles läuft wie ein Uhrwerk«, sagte er. »Glauben Sie mir, Mr. Sutton. Wenn diese Männer etwas planen, läuft es wie ein Uhrwerk ab.« Tom Sutton behielt die Straße im Auge. »Wo findet die Sache heute statt, Brophey?« Der Ire überlegte. »Leeds«, sagte er schließlich. Er blickte auf die erleuchtete Uhr am Armaturenbrett. »Sie haben es jetzt schon geschafft. Die North and Midland Bank. Heute Nacht holen sie sich hunderttausend. Mercer macht die Sache. Ein guter Mann. Die Namenlosen könnten keinen Besseren für den Norden haben als ihn.« Sutton gähnte. »Glauben Sie, die Polizei hat wirklich keine Ahnung davon?« »Die?« In Bropheys Stimme lag Hohn. »Die haben nie eine Ahnung von irgendetwas, Mr. Sutton. Warum?« »Ein Polyp hat mich den ganzen Tag über beobachtet.« Brophey war amüsiert. »Mein halbes Leben lang sitzt einer vor meiner Tür. Sie verdächtigen einen immer, aber das beunruhigt mich nicht.« Er blickte in die Nacht hinaus und stieß einen kleinen befriedigten Laut aus. »Es fängt zu regnen

an. Eine feuchte Nacht ist bei solch einer Sache günstig. Dann bleiben die Polypen zu Hause im Bett. Wo sind wir, Mr. Sutton?« »In der Nähe von Slough. Zwischen Oxford und Cheltenham können wir gut Zeit aufholen.« »Dort treffen wir mit ihnen zusammen«, sagte Brophey gelassen. »Renwick bringt das Geld von Birmingham und übergibt an uns in Cheltenham. Wir bringen es bis Taunton. Dann müssen wir sehen, dass wir bis zum Frühstück in London sind, außer Sie sind ein sehr schneller Fahrer.« Sutton grinste. »Ich kann aufdrehen, wenn es sein muss. Der Wagen ist für Geschwindigkeit gebaut.« Er schwieg einen Augenblick. »Wer löst uns in Taunton ab?« Brophey schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht - und ich zerbreche mir auch nicht den Kopf darüber. Besser, nicht zu neugierig werden.« Er lehnte sich schweigend zurück, und Sutton konzentrierte sich auf die Straße. Der Nieselregen hatte sich jetzt verstärkt. Ein Westwind war aufgekommen, gegen den sie anfuhren. Die breite Landstraße wurde bald unangenehm und gefährlich, und Sutton musste die Geschwindigkeit verringern. Er fuhr über eine Stunde, während Brophey schlief. Sie ierten Wallringford, als er die Augen öffnete. »Ich muss eingenickt sein, Mr. Sutton. Das kommt bei mir manchmal vor.« Er sah auf die Uhr und zündete sich eine Zigarette an. »Wenn Sie wollen, fahre ich jetzt mal eine Runde.« Sie wechselten die Plätze, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten. Die Dunkelheit wich, und in der Luft lag das graue Licht des Morgens, als sie sich ihrem Bestimmungsort näherten, und Brophey machte halt. »Das vor uns ist Cheltenham. Wir fahren nicht hinein. Wir halten hier an der Ecke, um die der Wagen aus Birmingham kommen muss.« Tom Sutton beobachtete die Straße. Nach einer Weile richtete er sich auf. »Da kommt etwas: zwei Wagen.«

Brophey hatte ein Zeiss-Glas hervorgeholt und spähte durch. »Das sind sie - ein grüner Lastwagen und dahinter ein Bentley. Fahren Sie vor und lassen Sie den Lastwagen vorbei.« Ein oder zwei Minuten später war der Laster näher gekommen, und Sutton konnte die beiden Männer darin sehen. Der Bentley fuhr in einiger Entfernung dahinter, und er bemerkte, dass die Scheinwerfer in einem Signal aufblinkten. Brophey beugte sich zu ihm hinüber. »Fahren Sie langsam, und lassen Sie dem Lastwagen etwas Vorsprung, Mr. Sutton.« Der Lkw kam näher, und Sutton sah, wie die Insassen zu ihnen herüberblickten. Im Vorbeifahren las er die hübsche Aufschrift in sauberen goldenen Lettern:

Duckworth & Stillman

Obst und Gemüse

Und er sah hinter dem halboffenen Verdeck Kisten mit Möhren und Rhabarber. Der große Bentley war langsamer geworden. Aus dem Fenster winkte eine Hand heraus. Brophey winkte zurück. »Sie haben’s geschafft. Jetzt sind wir an der Reihe. Es ist nicht schwer. Wetten, dass sie zwei oder drei Wechsel gemacht haben, seit sie aus dem Norden kommen? Der Wagen, der das Geld aus Leeds herausgefahren hat, ist schon lange wieder in Leeds. Das ist Organisation. Wir haben nichts anderes zu tun, als hier herumzutrudeln und die Augen offenzuhalten.« Der Lkw war jetzt einige hundert Meter voraus und fuhr schnell über die leere Straße. Brophey hatte ein Paket mit Sandwiches und eine Thermosflasche hervorgeholt. »Wir wollen ein bisschen was essen und Kaffee trinken. Ich nehme eben einen Bissen, und dann wechseln wir wieder ab.«

Ein paar Minuten später hatten sie die Plätze getauscht, und Sutton trank Kaffee, wofür er dankbar war, denn die Müdigkeit lastete schwer auf ihm. Für ein paar Minuten versank er in einen leichten Schlaf; als er wieder aufwachte, merkte er, dass er an Mary Randall dachte. Welches Interesse hatte das Mädchen an den Machenschaften der Namenlosen? Dies war ein höchst erstaunliches Problem, das er unbedingt lösen wollte. Was verband sie mit Creed? Was wusste sie von diesem obskuren Mann? Als er mit ihr in Creeds Büro zusammen gewesen war, hatte sie Angst gehabt. Plötzlich sagte Brophey: »Sie biegen ab, Mr. Sutton. Sieht so aus, als führen sie in Richtung Dursley, was bedeutet, dass wir durch Bath kommen.« Sie waren eine Stunde gefahren, und die Sonne stand hoch am Himmel, als sie sich Taunton näherten, und ein paar Minuten später verringerte der Lkw seine Geschwindigkeit. Brophey beobachtete ihn. »Jetzt sehe ich den Devonporter Wagen. Oben links auf dem kleinen grünen Hügel. Sie können uns auch sehen, denn eben ist ein Sonnenstrahl auf das Fernglas des Burschen gefallen.« Er seufzte erleichtert. »Das ist das Zeichen, und wir machen kehrt, und zurück nach London. Keine Aufregung - keine Scherereien, und dafür kassieren wir mindestens ein paar Hunderter.« Sutton beobachtete, wie der Lkw seine Fahrt unter einer neuen Eskorte fortsetzte, und er bemerkte, dass eine große schwarze Limousine sie rasch einholte. Er beobachtete sie genau im Rückspiegel und erkannte einen uniformierten Chauffeur. Einen Augenblick später erklang eine Hupe, und der Wagen fuhr vorbei. Ohne besonderes Interesse warf er einen Blick hinein, und er sah, dass auf dem Hintersitz zwei Damen saßen, wovon die eine ältlich und bleich war. Er bemerkte das scharfe und kränkliche Gesicht, dann streiften seine Augen den Mann, der neben ihr saß, und in diesem Augenblick zog er scharf die Luft ein, so dass Brophey aufschaute. »Was ist los?« Sutton schüttelte den Kopf. »Nichts.« Eine seltsame Erregung ergriff ihn. War der Namenlose selbst einen so weiten Weg gekommen, um den Erfolg seiner Pläne zu beobachten - oder war dies ein einzigartiger Zufall? Denn der Mann, der neben der bleichen Kranken gesessen hatte, war Hamilton Creed. Dessen war sich Tom Sutton ganz sicher.

Dreizehntes Kapitel

Es war beinahe Mittag, als Sutton nach London zurückkam, und nachdem er Brophey abgesetzt und den Wagen fortgebracht hatte, kehrte er in seine Wohnung zurück und legte sich zu Bett. Um acht Uhr weckte ihn Dicey mit heißem Kaffee und der Abendzeitung. Während er seinen Kaffee trank, überflog er die Schlagzeilen; und diejenige, die er suchte, war nicht schwer zu finden. Auf der ersten Seite stand in schreienden Buchstaben:

Bankraub in Leeds - Polizei greift ein

Die Einzelheiten des Raubes wurden in einer langen Spalte mitgeteilt, doch war klar, dass die Presse sonst über keinerlei Neuigkeiten verfügte. Er griff nach dem Comet.

Bewaffnete Einbrecher stehlen £ 100.000

bei Bankraub in Leeds.

Er las die Einzelheiten, als er es an der Tür klingeln hörte, und gleich darauf trat Dicey ein. »Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Sir. Er heißt Stacker.« Sutton überlegte. »Lassen Sie mir ein Bad ein, Dicey, und sagen Sie Stacker, ich käme dann sofort. Geben Sie ihm das hier zu lesen.«

Dicey ergriff angewidert die Zeitung. Zwanzig Minuten später trat Sutton in das Zimmer, wo der Kriminalbeamte auf ihn wartete, und die Spuren der Müdigkeit waren aus seinem Gesicht gewischt. Er nickte freundlich. »Hallo, Stacker! Üben Sie sich im Lesen?« Der Beamte schüttelte nüchtern den Kopf. »Ich lese über den großen Einbruch, Mr. Sutton. Aber das liegt wohl nicht in Ihrer Linie? Anscheinend haben ein paar Kerle die Bank in Leeds um hunderttausend Pfund erleichtert.« Tom grinste. »Eine Bank? Das ist genau der richtige Ort, um einzubrechen. Ich habe nie viel Verwendung für Banken gehabt, Stacker. Aber unter uns, wenn ich irgendwo einbrechen würde, dann würde ich es auch in einer Bank tun.« Er sah sich um. »Ich esse jetzt zu Abend. Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?« »Ich esse um sechs«, sagte Stacker. »Aber etwas zu trinken?« Stacker ließ durchblicken, dass er gegen eine Erfrischung nichts einzuwenden habe. »Kommen Sie mit und sehen Sie zu, wie ich esse«, sagte Sutton, und Stacker willigte ein. »Vielleicht sind Sie erstaunt; mich heute Abend hier zu sehen, Mr. Sutton?«, begann er. Sutton schüttelte den Kopf. »Durchaus nicht. Sie haben sich in letzter Zeit sehr für mich interessiert. Gestern hat mich einer Ihrer Leute den ganzen Tag über verfolgt.« Stacker brummte, nahm sein Glas und betrachtete es düster. »Ich bin dienstlich hier. Letzte Nacht hat im Norden ein großer Einbruch stattgefunden. Sie haben hunderttausend Pfund ergattert.« »Das haben Sie in der Zeitung gelesen«, meinte Sutton,

»Nein - ich habe im Yard davon gehört. Etwas, was Sie nicht in der Zeitung gelesen haben. Zwei Nachtwächter sind verletzt worden; der eine ist inzwischen gestorben.« Sutton blickte mit einem Ruck auf. »Mord?« Der große Mann nickte. »Stimmt, Mord. Man hat ihn über den Kopf geschlagen und gefesselt. Sie haben ihm einen Knebel in den Mund gestopft - zu fest. Der arme Kerl ist erstickt. Damit kommt ein weiterer Mord auf die Rechnung der Namenlosen.« »Glauben Sie, dass die ihre Hand im Spiel hatten?« »Was glauben Sie denn, Mr. Sutton?« »Ich weiß es nicht, Stacker. Ich bin nicht gut im Erraten. Außerdem interessiert es mich nicht sonderlich.« Er sah den Kriminalbeamten an. »Haben Sie mit Creed darüber gesprochen?« In seiner Stimme lag ein kleiner spöttischer Unterton. »Ich würde mich gern mal mit ihm unterhalten. Fragen Sie ihn, wo er letzte Nacht gewesen ist. Fragen Sie ihn, wie weit westlich von London er sich aufgehalten hat. Wetten, das wird ihm einen Ruck versetzen.« Stacker seufzte. »Die Frage ist - wie weit westlich von London sind Sie gewesen, Mr. Sutton? - Leugnen Sie es nicht. Sie sind heute Vormittag auf der Edgware Road gesehen worden. Brophey war bei Ihnen. Ich wundere mich über Sie. Sie sind kein Gauner...« Suttons leises Lachen erfüllte den Raum. »Woher wissen Sie das, Stacker?« v

»Ich habe so eine Ahnung«, sagte der Beamte ruhig. »Ich wollte, Sie wären aufrichtig zu mir. Ich gebe Ihnen eine Chance. Wenda le Seur hat Sie in die Geschichte hineingezogen. Ich habe mir die Beurteilungen der Armee über Sie angesehen. Sie haben in Ihrem Leben keine krummen Sachen gemacht.« Stacker stand auf. »Ich glaube, Sie sind ebenso wenig ein Gauner wie ich. Sie sind mit offenen Augen in diese Sache hineingegangen, und Sie haben einen Grund dafür. Sagen Sie mir diesen Grund. Seit Jahren arbeite ich jetzt an dem Fall. Ich weiß mehr über die Namenlosen als irgendjemand sonst in England. Arbeiten Sie mit mir, und vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

Sekundenlang sah Sutton ihn an. »Und wenn ich es nicht tue?« »Dann kann Ihnen niemand helfen!« Der Kriminalbeamte machte ein grimmiges Gesicht. »Ich kenne diese Männer - weiß, wessen sie fähig sind. Sie schaffen Sie auf ein Feld, fahren ein dutzendmal mit dem Wagen über Sie weg und lassen Sie tot liegen. Das sind die Methoden der Männer, mit denen die Namenlosen zusammen arbeiten. Begreifen Sie?« Es herrschte ein kurzes Schweigen. Dann hob der jüngere Mann das Glas. »Noch einen Schluck, Stacker?« »Nein, ich habe genug. Ich merke, Sie sind schwer zu überzeugen, Mr. Sutton. Nun, ich werde es nicht mehr versuchen. Sie wissen selbst am besten, was Sie tun. Aber Sie gehen ihre eigenen Wege. Wenn Sie merken, dass Sie sich zu viel zugemutet haben, werde ich nicht mehr in der Lage sein, Ihnen zu helfen denken Sie daran.« »Ich werde daran denken«, sagte Sutton. Stacker seufzte. »Was ist das für ein Leben! Tja, das wäre alles, Mr. Sutton. Der Whisky hat mir gut geschmeckt.« Mit einem Kopfnicken war er verschwunden. Draußen wartete ein geduldiger Mann auf ihn, mit dem er sprach. »Bleiben Sie in der Gegend. Der Mann ist wie Quecksilber. Er wird sich nach Ihnen umsehen. Bleiben Sie außer Sichtweite!« Er ging rasch die Straße hinunter, wo an der Ecke ein Streifenwagen auf ihn wartete. »Jetzt holt Brophey«, sagte er, und der Wagen fuhr weg. Er ging zu Fuß weiter und stieß, einen Steinwurf von der Nelsonsäule entfernt, auf die große und imposante Gestalt von Chefinspektor Flagg. »Ich habe einen Spaziergang gemacht«, sagte er. »Haben Sie sich Creeds Haus angesehen?« »Ja. Eins dieser alten umgebauten Privathä.« Er rieb sich das Kinn. »Dirigiert Creed seine Unternehmungen von da aus? Ich möchte wetten, dass er noch ein oder zwei ähnliche Wohnungen in der City hat.«

»Er hat zwei, kommt aber kaum dorthin«, sagte Stacker. »Erinnern Sie sich an Balder?« Stacker sah auf. »Balder?« »Solomon Balder«, sagte Flagg. »Ein dünner Bursche mit einem runden Rücken. Manchmal nennt er sich Kayser, ab und zu auch van Luven.« »Was ist mit ihm?« Chefinspektor Flagg, der nie etwas vergaß, erzählte es ihm, und der Sergeant war beeindruckt. »Nicht schlecht, Mr. Flagg. Sie haben ihn tatsächlich hineingehen sehen? Ich kenne das Haus. Ich habe einen meiner Männer in der Nähe aufgestellt.« »Brennan and Spencer«, sagte Flagg grimmig. »Sie nennen sich Exporteure. Ich möchte gern herauskriegen, was sie exportieren. Es ist eine Kleinigkeit, Balder festzunehmen. Ein Mann wie der hat immer was auf dem Kerbholz.« Stacker war hocherfreut. »Eine gute Sache, Mr. Flagg. Ich trete dabei gar nicht in Erscheinung. Machen Sie das allein. Falls Creed in die Sache verwickelt ist, wird ihn das ein bisschen aufrütteln.«

Vierzehntes Kapitel

Es war fast drei Uhr,- als Creed im Büro erschien, und Mary Randall, größere Pünktlichkeit bei ihm gewöhnt, war erstaunt über diese Unregelmäßigkeit. Sie trank im Vorzimmer eben eine Tasse Tee, als sie seine Schritte hörte, und gleich darauf trat er ein. »Ich habe mich ein bisschen verspätet, Miss Randall.« Er schien guter Laune zu sein, denn sein gelbliches Gesicht war zu einem Lächeln verzogen. Sie nickte kühl. »Ich dachte schon, Sie seien krank.«

»Ich bin nie krank, Mary. Aber unglücklicherweise haben es nicht alle Menschen so gut. Ich wurde gestern Abend nach Devonshire gerufen - meine Starklientin wollte nach London kommen, und ich sollte die Vorbereitungen für sie treffen. Mrs. Rutter verlässt sich vollkommen auf mich.« »Sie kommt nach London? Ist sie denn nicht körperbehindert?« Er nickte. »Mrs. Rutter ist äußerst zart. Aber es gelang mir, sie heute in die Stadt zu bringen. Sie hasst Reisen, und wir sind mit dem Wagen gefahren.« »Sie haben sie hierhergebracht?«, fragte sie erstaunt. »Sie besitzt ein Haus am Exeter Square«, sagte er. »Ihr Mann hat es zu seinen Lebzeiten bewohnt. Er liebte die Stadt mehr als Mrs. Rutter.« Seine dunklen Augen betrachteten sie nachdenklich. »Vielleicht werde ich Sie einmal bitten, zu ihr zu gehen. Sie ist ziemlich einsam, und ich glaube nicht, dass sie viel ausgehen wird.« Er ging durch das Zimmer und ließ sie in Nachdenken über diese Neuigkeit versunken zurück. Sie hatte schon von Martha Rutter gehört und wusste, dass diese seine wichtigste Klientin war. Sie hatte sich darüber gewundert, dass er sich überhaupt mit ihren Angelegenheiten befasste. Etwas später klingelte er nach ihr. »Ich schicke Sie morgen nach dem Norden, um etwas für mich zu erledigen«, sagte er. »Wie weit nach Norden?« »Aberdeen«, sagte er kurz. »Bestellen Sie sich einen Platz im Zug und rufen Sie ein Hotel an. Es gibt da ein gutes - ich glaube, es heißt Fonteroy - zentral gelegen. Machen Sie die Bestellung auf den Namen Miss Rowell. Miss Anne Rowell aus Broddey, West Avenue. Dort trifft Sie einer meiner Männer.« Er sah auf die Uhr und nickte dann. »Sie können jetzt gehen, Mary. Ich werde ziemlich lange arbeiten.« Sie ging ins Vorzimmer zurück und war eben dabei, sich fertigzumachen, als sie in seinem Zimmer das Telefon klingeln hörte. Als sie nach unten ging, klingelte es immer noch. Es war jetzt kurz nach vier Uhr, und sie hatte das angenehme Gefühl, Zeit zu haben. Sie nahm einen Bus in die City, fand ein Lokal und trank in einer ruhigen Ecke Tee, als plötzlich ein großer stämmiger Mann vor ihr

stehenblieb und zu ihr herunterstrahlte. »Wenn das nicht Mary Randall ist«, sagte er, und sie zermarterte ihr Gehirn, wo sie ihn schon vorher gesehen hatte. Er setzte sich neben sie und bestellte Tee. »Ich habe Sie lange nicht gesehen.« Sie lachte leise. »Ich kann Sie im Augenblick nicht unterbringen, Mr. ...« Er ging nicht darauf ein, sondern sagte: »Ich habe erst gestern mit Ferguson über Sie gesprochen und...« Sie fuhr etwas zusammen, denn Ferguson war einer der drei Männer, die ihr Geheimnis kannten. »Ferguson? Sie meinen Andrew Ferguson?« Er nickte ruhig. »Natürlich. Was für ein Mann! Er hat eine hohe Meinung von Ihnen. Ich sagte ihm, ich würde so bald wie möglich mit Ihnen reden. Ich habe nicht gedacht, dass es so schnell sein würde. Vielleicht treffe ich Ferguson in diesen Tagen wieder, und ich hätte gern, wenn Sie mit dabei wären. Morgen vielleicht...?« Seine klugen blauen Augen beobachteten sie. Sie schüttelte den Kopf. »Morgen kann ich nicht. Ich fahre nach dem Norden nach Aberdeen.« »Aberdeen? Geschäftlich, nehme ich an. Mit dem Morgenzug?« Sie lachte kurz. »Mit dem Mittagszug. Warum fragen Sie?« Er schien ihre Frage nicht gehört zu haben, und als sie sie wiederholte, sagte er: »Neugier, wahrscheinlich.« Er zog eine große Uhr heraus und betrachtete sie mit ernsthaftem Blick. »Na, so was - da sitze ich und vertrödele meine Zeit, als hätte ich nichts zu tun. Auf Wiedersehen, Miss Randall. Es war mir ein Vergnügen, Sie zu treffen.« Es war jetzt beinahe sechs Uhr. Sie kehrte in ihre Wohnung zurück, ließ Wasser für ein Bad einlaufen, bereitete sich ein Essen und packte dann einen Koffer für die Reise am nächsten Tag. Dies war etwas, das sie sehr beschäftigte. Creed hatte ihr die verschiedensten Aufgaben anvertraut, aber niemals eine so weite

Reise. Sie war eben mit dem Packen fertig, und es schlug neun Uhr, als es an der Wohnungstür klingelte. Sie ging in den kleinen Flur, wartete eine Sekunde und fragte dann: »Wer ist da?« Sie hörte ein leises Lachen und wusste, dass ein Mann draußen stand. »Sie sind sehr vorsichtig geworden, Miss Randall.« Als sie die Tür öffnete, spürte sie, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Tom Sutton sah zu ihr herunter. »Darf ich hineinkommen?« Sie führte ihn ins Wohnzimmer, und seine ruhigen Augen nahmen alles mit einem Blick auf. Er sah auf den Koffer und hob den Blick. »Verreisen Sie?« »Ja, nach Aberdeen.« »Geschäftlich? Ich meine, für Creed?« Sie nickte. »Ja. Warum fragen Sie? Ist das so bemerkenswert?« »Alles, was Creed tut, ist bemerkenswert für mich.« Er setzte sich, und seine ruhigen Augen waren in gleicher Höhe mit den ihrigen. Sie bemerkte ein hartes, kaltes Licht in ihnen. »Ich glaube, Sie wissen, warum ich hier bin, Mary Randall?« »Was wollen Sie von mir?« Er sah sie lange an. »Ich habe Ihnen neulich nachts gesagt, dass ich Informationen brauche. Ich habe Ihnen einen guten Dienst erwiesen. Wenn Selden Sie gefunden hätte, hätte er sie umgebracht.« Sie nickte. »Das weiß ich. Hat Creed ihn geschickt?« Er zuckte die breiten Schultern und sah an ihr vorbei gegen die Wand. »Schwer zu sagen. Creed ist ein Mann, der niemandem traut. Ich bezweifle nicht, dass Sie und ich von ihm überwacht werden. Und Selden ist seine stärkste Karte. An einem der nächsten Tage wird er Selden auf Mord ausschicken.«

Sie zitterte. »Warum erzählen Sie mir das?« »Weil Sie es wissen müssen. Folgen Sie meinem Rat und gehen Sie fort. Von jetzt ab ist das Männerarbeit, nur ein Mann kann mit den Namenlosen fertig werden.« Seine Stimme klang ruhig, doch wusste sie, dass es ihm zutiefst ernst war. Einen Augenblick lang schwieg sie, aber innerlich war sie erregt und verwirrt. »Würden Sie eine Arbeit halb erledigt im Stich lassen? Ich glaube nicht. Ich weiß eine ganze Menge von Ihnen, Tom Sutton. Ich glaube nicht, dass Sie das tun würden.« Plötzlich lachte er. »Sie wissen also viel von mir? Und wieviel weiß Creed?« Darauf konnte sie keine Antwort geben, und er stand auf, um zu gehen. »Sie werden ein schwieriges Problem, Mary Randall. Ich hatte gehofft, Sie würden auf mich hören. Wie ein Gauner auf den anderen -Er sah, wie sie erstarrte, und grinste. »Sie ahnten nicht, dass ich so viel weiß? Holloway, nicht? Sechs Monate für - Fälschung, glaube ich. Creed holt sich seine Leute nur aus den besten Gefängnissen.« Ihr Unterkiefer war herabgesunken. »Woher wissen Sie das?« Er sah mit merkwürdigem Ausdruck auf sie hinab. »Eines Tages werde ich es Ihnen erzählen. Gute Nacht, Mary Randall.« Er ging zur Tür und verschwand. Sie rührte sich nicht, aber in ihrem Herzen spürte sie ein seltsames neues Gefühl, und seltsamerweise war es nicht Angst.

Fünfzehntes Kapitel

Es war zehn Uhr, als Brophey aus einem Taxi stieg, auf die Wohnung des sportlichen Mr. Max Steiner zuging, als sein dicker Finger nach dem Klingelknopf tastete und als er eine Hand auf seiner Schulter spürte und eine verhasste Stimme an seinem Ohr hörte. »Wenn das nicht Mr. Brophey ist!«

Er wandte sich um, und Constable Meade, ein alter und darum nicht weniger gehasster Feind, grinste ihm freundlich entgegen. »Wir machen einen Spaziergang, Brophey.« Der Ire runzelte die Stirn. »Wozu? Ihr seid doch immer die gleichen, Meade.« Er fuhr herum, und sein Arm wurde mit geübtem Griff gepackt. »Wir machen einen Spaziergang«, wiederholte Meade. »Wenn Sie eine Szene machen, vere ich Ihnen eine und schwöre, dass Sie Widerstand gegen die Verhaftung geleistet haben. Der Sergeant will Sie sehen.« Ein Streifenwagen brachte Brophey zur Polizei, wo er in einen kleinen Raum geführt wurde. Hier musste er lange Zeit warten, und die Uhr von Big Ben schlug Mitternacht, bis die Tür von einem Constable in Uniform geöffnet wurde. Er wurde durch einen langen Flur zu einem Zimmer geführt, in dem ihn Stacker freundlich empfing. »Ah, Brophey! Ich habe Sie gesucht, Brophey.« Er sah den Constable an. »Gehen Sie raus, Bell, und wenn Sie irgendwelche Geräusche hören, kümmern Sie sich nicht darum.« »Was hat das alles zu bedeuten, Mr. Stacker?«, sagte Brophey nicht gerade ermutigt. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie von mir wollen. Ich habe bestimmt nichts Unrechtes getan. Was wollen Sie von mir, Mr. Stacker?« »Informationen«, sagte Stacker grimmig. Bropheys blühende Wangen wurden grau. Er schüttelte energisch den Kopf. »Aus mir kriegen Sie nichts heraus, Stacker. Ich bin kein Denunziant. Das sollten Sie wissen. Ich weiß nichts und höre nichts...« »Und fühlen Sie auch nichts?«, fragte Stacker interessiert. Brophey fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wenn Sie mich auch nur anrühren...«, begann er. Stacker lachte leise. »Jetzt sind Sie hier - und ich kann Sie einen Monat lang hierbehalten. Niemand weiß, dass Sie hier sind, außer Bell und ein oder zwei anderen.«

Der Ire rutschte unruhig hin und her. »Sie machen Witze, Mr. Stacker, aber das geht ein bisschen weit. Schließlich gibt es auch Gesetze in diesem Land. Sie können mich nicht hierbehalten, ohne mich vor Gericht zu bringen. Das ist habeas corpus. Ich kenne meine Rechte, und auf denen bestehe ich. Ich möchte einen Anwalt.« »Hamilton Creed?« Der Ire runzelte die Stirn. »Nie von ihm gehört. Aber ich verlange einen Anwalt, oder es gibt Schwierigkeiten. Ich weiß, wie weit Sie gehen dürfen, Stacker.« Stacker erhob sich langsam. »Wann haben Sie angefangen, für die Namenlosen zu arbeiten, Brophey?« Das Gesicht des Mannes wurde grau. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Wo sind Sie mit Sutton zusammengekommen? Im Moor?« Brophey überlegte. »Mr. Sutton ist ein Freund von mir. Und wenn ich ihn auf dem Moor kennengelernt habe...? Na, wenn schon! Sie haben nichts, was Sie mir vorwerfen können. Ich weiß nichts von den Namenlosen. Mit solchen Leuten würde ich mich nicht einlassen. Die sind das reine Gift.« Stacker ging zur Tür. »Bell, führen Sie den Mann zurück.« »Ich verlange einen Anwalt«, fauchte Brophey, und der Constable grinste mitleidlos. »Ich weiß, was Sie wollen. Los, mitkommen!« Sergeant Stacker begab sich zu Inspektor Flagg, der an seinem Schreibtisch saß und düster ins Feuer starrte. »Ich habe Brophey unten.« Flagg sah auf. »Hat er geredet?« »Er hat von Anwälten und habeas corpus geredet«, sagte Stacker grimmig. Der große Inspektor rümpfte die Nase, dann stand er auf. »Gut, Sie haben

Brophey. Ich hole mir einen anderen. Balder kann ekelhaft werden, aber wenn er bei mir ekelhaft wird, verprügle ich ihn, dass er den Verstand verliert.« Er traf ein paar Vorbereitungen, und bald wartete ein Polizeiwagen unten im Hof auf sie. Darin saßen zwei junge ehrgeizige Kriminalbeamte, denen Flagg Verhaltungsmaßregeln gab. »Wir fahren zu einem gefährlichen Mann. Wenn er eine Waffe zieht, geben Sie ihm eins über den Schädel. Wenn er es nicht tut, geben Sie ihm ebenfalls eins aber lassen Sie es mich nicht sehen. Verstanden, Simmonds?« Simmonds bejahte. Auf dem Weg zur Wood Street klärte Flagg sie auf. »Balder schläft in dem Nebengebäude. Dann ist da noch ein anderer Bursche namens Hagan. Sie haben zusammen Räume unterm Dach. Sie haben auch eine Haushälterin. Ich glaube nicht, dass sie viel über Balder weiß. Sie ist taub wie ein Türstock. Soviel ich weiß, war sie die Frau des Hausmeisters, der vor ein paar Jahren gestorben ist.« Sie fuhren jetzt durch verlassene Straßen, und Flagg lehnte sich zurück und rauchte. Erst als sie die Wood Street erreichten, kehrte seine Lebhaftigkeit wieder zurück. »Sie gehen nach hinten, Stacker, und behalten die Tür im Auge. Burnaby, da oben ist ein Dachfenster, das auf das flache Dach führt. Bleiben Sie im Wagen und behalten Sie das im Auge. Wenn Sie jemanden herauskommen sehen, pfeifen Sie. Sie gehen mit mir, Simmonds. Wenn ich Hilfe brauche, pfeife ich.« Einen Augenblick später hatte er seine Entscheidungen getroffen und die Tür erreicht. Mit Hilfe einer Taschenlampe untersuchte er das Namensschild. »Brennan und Spencer. Das sind sie, Simmonds.« Am Eingang war eine schmale Säule, in die die Klingel eingelassen war. Flagg drückte auf den Knopf. »Vielleicht liegt Balder im Bett. So ein Kerl kann merkwürdige Angewohnheiten haben.« »Es kommt jemand«, sagte Simmonds, und er hatte recht, denn einen Augenblick später wurde ein Schlüssel umgedreht und eine große Gestalt erschien in der Tür. »Was ist los?«

Flagg seufzte. »Polizei. Wo ist Balder?« Der Mann räusperte sich. »Nie von ihm gehört, Mister. Und wenn Sie von der Polizei sind...« Flagg schob ihn zur Seite. »Wenn der Affe einen Ton von sich gibt, hauen Sie ihn hinters Ohr, Simmonds.« »Sie können sich auf mich verlassen«, sagte Simmonds. Er legte seine Hand auf den Arm des Mannes. »Hagan, nehme ich an. Machen Sie keinen Ärger, Hagan, oder ich tue, was der Inspektor gesagt hat.« Flagg ging nach oben. Was einmal Dachboden gewesen war, war jetzt in Schlafzimmer umgebaut worden, und in einem davon hörte er Geräusche. Dann ertönte eine männliche Stimme: »Wer ist da, Hagan?« Chefinspektor Flagg grinste. »Dreimal dürfen Sie raten.« Der Mann sprang auf. Er war von durchschnittlicher Größe, blass und schmalschultrig, und seine Augen blickten böse. Er stand neben einer Kommode, und sein Arm bewegte sich langsam auf sie zu. Flagg fasste ihn mit stählernem Griff und zwang ihn mühelos zurück. »Wenn ich darin eine Waffe finde, Balder, brumme ich Ihnen dafür fünf Jahre auf.« Er öffnete die Schublade, in der aber keine Waffe lag. Stattdessen fiel ihm ein langes Messer mit scharfer Klinge in die Hand. Er pfiff leise vor sich hin. »Sie gebrauchen Messer, Balder?« Er hob die Waffe hoch und steckte sie in die Tasche. »Holen Sie Ihre Jacke. Wir machen einen Ausflug.« Der Mann hatte sich jetzt erholt. »Wer sind Sie? Ich weiß nicht, was Sie wollen.« Flaggs dicker Zeigefinger stieß derb gegen seine Brust. »Holen Sie Ihre Jacke, Mann. Sie sind verhaftet. Sie sind Ausländer, unerwünschter Ausländer. Ich glaube, alle Anwälte, die die Namenlosen für Sie engagieren können, werden es nicht fertigbringen, dass Sie im Lande bleiben. Aber zuerst sitzen Sie Ihre fünf Jahre ab.« Hinter der Tür hing eine Jacke, die er

ergriff und durchsuchte. Er warf sie hinüber. »Ziehen Sie sie an.« Balder folgte stumpf. Sie gingen zusammen hinunter, wo Hagan sie in fassungslosem Schweigen beobachtete. Gefolgt von Stacker gingen sie auf den Polizeiwagen zu. »Steigen Sie ein, Balder, Sie können zwischen mir und dem Inspektor sitzen.« Stacker sah zu, wie der Mann einstieg, und richtete sich dann gespannt auf. Eine große, breitschultrige Gestalt stand auf dem Bürgersteig und beobachtete sie interessiert. Stacker trat auf sie zu. »Sieh mal an, Mr. Sutton!«, sagte er, aber in seiner Stimme war keine Spur von Humor. Tom Sutton nickte. »Persönlich. Dass ich Sie hier treffe, Stacker! Was ist los? Eine große Razzia?« Stacker verhielt sich ablehnend. »Keine große. Aber wieso sind Sie ausgerechnet jetzt in der Wood Street?« »Ich habe gerade einen alten Freund besucht«, sagte Sutton grimmig und hob einen Finger. »Sehen Sie dort, Stacker.« Der Polizist folgte dem ausgestreckten Finger. Tatsächlich erstrahlte ein Fenster von Wood Street 420a in Licht, dessen Schein auf die Straße fiel. Sekundenlang starrte er hinauf. »Das Licht ist gerade angegangen. Das Haus war dunkel, als wir ankamen.« Er sah Sutton verwundert an. »Wer ist dort oben? Creed?« Sutton erwiderte seinen Blick. »Vielleicht - vielleicht ist es aber auch ein noch gefährlicherer Mann als Creed, Sergeant. Womöglich ist es der junge Mr. Bosanquet.«

Sechzehntes Kapitel

Sergeant Stacker starrte auf die beleuchteten Fenster, und offensichtlich war er verwirrt. Dann kehrte er zum Wagen zurück. Flagg sah ihm schläfrig entgegen. »Ist was iert, Sergeant?« »Ich weiß nicht, Mr. Flagg. Das ist Sutton, aber wieso er hier ist, kann ich nicht sagen. Jemand ist in Creeds Büro. Kommen Sie mit mir hinüber?« Der schwere Mann stieg aus. »Halten Sie Balder im Auge, Simmonds. Wenn er entkommt, kostet es Ihren Kopf.« Er kam über die Straße, und Sutton betrachtete ruhig die massive Gestalt. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Inspektor.« Flagg grinste. »Nicht mehr, als ich von Ihnen gehört habe, Mr. Sutton. Man hat mir gesagt, Sie wären einer der Namenlosen! Was für ein Abstieg für einen Mann, der Colonel beim Intelligence Corps war - oder war es LieutenantColonel?« »Major«, sagte Sutton liebenswürdig. Er blickte ins Dunkel hinauf. »Ich sehe da einen Schatten, Sergeant.« Stacker nickte kurz. »Creed benutzt diese Wohnung nicht bei Nacht, wenn ich auch weiß, dass das Mädchen einmal hier war.« Er war verblüfft. »Auf jeden Fall wird ein Besuch interessant sein. Kommen Sie mit, Mr. Sutton?« »Gern«, sagte der Jüngere. Die große Tür war verschlossen, und einen Augenblick lang blieb Stacker, einen Finger auf dem Klingelknopf, stehen. Innen läutete es, doch sonst drang kein anderes Geräusch an ihr Ohr. Stacker sah sich ungeduldig um. »Merkwürdig, Inspektor«, und dann fuhr er zusammen. »Wo ist Mr. Flagg?« »Er ist nach hinten gegangen.« Stacker trat auf den schmalen Grasstreifen und sah auf. »Ist da jemand?« Keine Antwort. »Hallo - da kommt jemand.« Das stimmte. Dem Geräusch des Schließens folgte das Öffnen der Tür, und dann erschien die Gestalt von Flagg. Er trat mit einem Grinsen auf sie zu. »Die

Hintertür stand offen. Tatsächlich ist jemand hier gewesen. Ich habe sie herausgehen hören.« »Sie?« Stacker sah ihn an. »Warum glauben Sie, dass es eine Frau war?« »Ich habe sie gehört«, sagte Flagg. »Leichtfüßig wie ein Reh. Sie kam die Hintertreppe herunter, als ich um die Ecke bog. Aber noch wichtiger als das, ich habe sie gerochen. Wunderbar! Ich bin nicht wählerisch, was Parfüms anbelangt, Sergeant, aber das eben war eine Wucht.« Stacker runzelte die Stirn. »Vielleicht Miss Randall?« Tom Sutton schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen sagen, dass sie es nicht war. Ich bin vor kurzem mit Miss Randall zusammen gewesen. Sie benutzt kein Parfüm.« Der lange Beamte seufzte. »Alle wissen mehr über diese Sache als ich«, knurrte er. »Wir sehen uns besser mal um.« Er trat ein, und Sutton folgte dicht hinterher. Die Büros waren verlassen, soviel war offensichtlich. Sie gingen durch das Gebäude, und in Creeds eigenem Zimmer hing der schwache und nicht zu fassende Duft von Veilchen. Inspektor Flagg holte tief Atem. »Lässt einen direkt an den Frühling denken, Sergeant, was?« »Lässt mich an Wenda le Seur denken«, erwiderte er grimmig. »Was hat die hier zu suchen?« Er kratzte sich den Kopf, und Sutton machte einen Vorschlag. »Warum besuchen wir sie nicht, Stacker? Ich habe einen Wagen in der Nähe. Ich fahre Sie zu Wendas Wohnung. Das kann ganz interessant werden.« Flagg stimmte zu. »Ich bringe Balder zum Yard, Stacker. Tun Sie, was Mr. Sutton sagt. Das, was Lottie zu erzählen hat, wird vielleicht interessant sein.« Während der Fahrt durch London schwieg Stacker, doch als Wendas Wohnung in Sicht kam, wurde er etwas lebhafter. »Wir haben uns beeilt, Mr. Sutton, aber trotzdem ist bei ihr kein Licht. Wir scheinen vor ihr hier angekommen zu sein.« Sutton schaltete den Motor ab, und sekundenlang lauschten sie. Tatsächlich, es

erklang das Geräusch eines sich nähernden Wagens, und dann kamen die Scheinwerfer in Sicht. Stacker grinste, als der Wagen anhielt. »Wir lassen sie erst nach oben gehen. Ich möchte mich gern mit dem Fahrer unterhalten.« Sie sahen, wie eine schlanke Gestalt aus dem Taxi stieg und ins Haus ging, und als das Taxi wegfahren wollte, winkte Stacker. Der Fahrer war ein untersetzter Mann in offensichtlich gereizter Stimmung. »Was ist los?« »Polizei! Sie haben gerade eine junge Dame von Wood Street hierhergebracht?« Er zog seinen Ausweis heraus, und nach kurzer Überprüfung war der Fahrer von der Reinheit ihrer Absichten überzeugt. »Die Dame fahre ich oft. Die ist in Ordnung, so sicher, wie ich Bert Wilson heiße.« Er war, erklärte er, der Besitzer des Wagens, und Wenda le Seur war während des letzten Jahres sein regelmäßiger Fahrgast gewesen. »Eine Schauspielerin. Manchmal fahre ich sie ins Theater.« »Heute Nacht haben Sie sie in die Wood Street gebracht?« Er gab zu, dass dies stimmte. Sie hatte ihn am Abend angerufen und ihn für diese Stunde bestellt. Sie hatte ihm den Weg bis zu einem Garagenhof hinter der Wood Street gezeigt und ihn gebeten, dort auf sie zu warten. Sie war ungefähr zwanzig Minuten weggewesen, bevor sie zurückkam. »Rannte sie?«, meinte Stacker, und der Mann gestand, dies sei der Fall gewesen. Schließlich gab er zu, dass er es ziemlich merkwürdig gefunden hatte, aber eine Praxis von zwanzig Jahren hatte ihn gelehrt, dass Neugier nichts einbrachte. Als der Mann wieder zu seinem Wagen gegangen war, sagte Stacker: »Jetzt werden wir uns mit Wenda unterhalten. Bin gespannt, was sie uns für einen Bären aufzubinden versucht.« Zwei Minuten später klopften sie an die Tür von Wen- das Appartement, und Wenda selbst öffnete. »Na, so was, Mr. Sacker?«

»Stacker«, brummte der große Mann, und sie lachte. »Ich habe ein schlechtes Gedächtnis für Polypen. Aber was wollen Sie zu dieser Morgenstunde?« »Wir möchten hineinkommen«, sagte Stacker. »Und wenn Sie um Ihren Ruf besorgt sind, so ist das überflüssig. Jemand wie Sie verträgt noch mehr als das, Wenda.« Sie ließ sie schlechtgelaunt ein. »Wirklich ein bisschen stark, wie Sie sich den Weg in die Wohnung eines Mädchens erzwingen«, sagte sie. Ihre Augen ruhten auf Tom Sutton, und er entdeckte ein merkwürdiges Glitzern darin. »Was ist mit Ihrem Freund?« »Der ist schon früher hier gewesen«, sagte Stacker selbstzufrieden, und sie errötete. »Aber wir wollen zur Sache kommen. Warum sind Sie heute Nacht in der Wood Street gewesen?« Er hatte erwartet, dass sie erstaunt sein würde, aber er hatte nicht mit einer so heftigen Reaktion gerechnet. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sie weiß, dann trat in ihre Augen ein eisiger Schrecken. »Wood Street? Was meinen Sie?« Er seufzte. »Regen Sie sich nicht auf, Wenda. Wir sind Ihnen hierher gefolgt. Wir haben uns mit dem Mann unterhalten, der Sie hin- und zurückgebracht hat.« Sie sank in einen Sessel. Eine Zeitlang sprach sie nichts, und dann legte sie die Hände über die Augen. Stacker sah, dass sie wirklich Angst hatte. Ihre schmalen Schultern zitterten, dann sagte sie: »Sie haben mich beobachtet?« Er nickte. »Sie haben einen Besuch in Creeds Büro gemacht. Es ist meine Pflicht, Sie zu fragen, warum. Wenn Sie es mir nicht sagen, dann werde ich es von Creed hören.« Sie schwieg lange, bis sie plötzlich aufstand. »Ich muss etwas trinken, Stacker. Ich habe es dringend nötig. Wollen Sie auch ein Glas?« Tn ihrer Stimme lag eine neue Härte. Sie schenkte einen Whisky ein und kehrte damit zurück.

»Sie wollen wissen, warum ich in Creeds Büro war? Nun, ich habe nach etwas gesucht, das mir gehört.« »Und was ist das?« Sie lachte hart. »Nichts, das Sie interessieren könnte, Stacker. Privates Eigentum - Familieneigentum.« Ihre Stimme klang jetzt beinahe spöttisch. »Sie können das nicht verstehen, Stacker, und auf jeden Fall geht es Sie auch nichts an. Wenn Sie es Creed sagen wollen - ist das Ihre Sache. Ich weiß nicht, was er antworten wird - aber ich glaube kaum, dass er es Ihnen dankt.« Sie hatte jetzt ihre Sicherheit wiedererlangt. »Auf jeden Fall lasse ich mich nicht von der Polizei herumkommandieren.« Sie richtete ihre Augen auf Sutton. Stacker musterte sie traurig. »Sie sind ein komisches Mädchen, Wenda. Wenn ich eine Tochter wie Sie hätte, würde ich sie übers Knie legen.« »Auf solche Behandlung reagiere ich nicht.« Wenda hielt die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen. »Und jetzt - glauben Sie nicht...?« Der Polizist nickte. »Vielleicht haben Sie recht. Aber ich bin nicht befriedigt, Wenda. Sie, glaube ich, auch nicht. In den nächsten Tagen werde ich Creed besuchen, und was ich ihm sage, hängt davon ab, was Sie mir erzählen.« Einen Augenblick lang starrte sie ihn an. »Was meinen Sie damit?« Und wieder war die Härte in ihrer Stimme. Sergeant Stacker wandte sich zum Gehen. »Ich meine, dass ich Sie morgen zum Scotland Yard bringen lassen und ein paar Fragen an Sie stellen werde, Wenda.«

Siebzehntes Kapitel

Mary Randall wurde durch das Läuten des Telefons geweckt, und als sie sich im Bett auf setzte, schlug die Uhr auf dem Kaminsims acht. Sie stand auf, ergriff einen Morgenrock und ging in das kleine Wohnzimmer. »Hallo!«

Es war Creed, und in seiner Stimme lag ein Unterton von Eile. »Ich muss Sie doch bitten, ins Büro zu kommen«, sagte er. »Etwas Unerwartetes ist geschehen. Nein - ich kann am Telefon nicht darüber sprechen. Ich erwarte Sie hier im Büro vor zehn.« Sie badete und frühstückte, ein wenig verwundert über diesen neuen Auftrag. Um zehn Uhr kam sie ins Büro, Creed war bereits da. Er zeigte sich erregter, als sie ihn je vorher gesehen hatte; die Farbe war aus seinem gelblichen Gesicht gewichen, so dass es jetzt grau wirkte. Als sie eintrat, sah er auf, und in seinen Augen lag beinahe etwas wie Erleichterung. »Ah, da sind Sie! Ich möchte, dass Sie sich mit Dent and Soames in Verbindung setzen. Balder und Brophey sind festgenommen worden, und ich will erreichen, dass sie gegen Kaution freigelassen werden.« Dent and Soames war eine der Anwaltskanzleien, die solche kriminellen Fälle behandelte, die er selber nicht übernehmen wollte. Brophey kannte sie vom Sehen, aber Balder war ihr fremd. »Wer ist Balder?« Er sah auf. »Ein Mann ohne Bedeutung. Aber er hat für mich gearbeitet, und ich will ihn nicht im Stich lassen.« Sie ging in ihr eigenes Büro, traf die entsprechenden Vereinbarungen mit den Anwälten und kehrte dann wieder zu Creed zurück. Er schrieb etwas auf einen großen Bogen und fügte eben seine Unterschrift hinzu, als sie eintrat. Dann nahm er einen langen blauen Umschlag, faltete den Bogen, schob ihn hinein und versiegelte den Umschlag. »Ich möchte, dass Sie diesen Brief zu Mrs. Rutter bringen. Ihr Stadthaus liegt am Exeter Square. Seien Sie bitte vorsichtig, es sind wertvolle Papiere.« »Soll ich zurückkommen?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Sie können nach Hause gehen. Ich rufe Sie morgen an und gebe Ihnen Ihre Instruktionen. Der Mann, den Sie in Aberdeen treffen, heißt French - Adam French.« Er zählte zehn Fünfpfundnoten aus seiner Brieftasche. »Das wird für Ihre Ausgaben mehr als genug sein. Sie bleiben wahrscheinlich eine Woche fort.«

Sie wurde mit einem Nicken entlassen. Er hörte, wie sie nach unten ging, und als sich die schwere Eichentür hinter ihr geschlossen hatte, trat er ans Fenster. Ein großer Mann mittleren Alters las am Rande des Bürgersteiges eine Zeitung. Mary Randall ging an ihm vorbei; der Mann musterte sie, steckte seine Zeitung in die Tasche und folgte ihr in angemessenem Abstand. Creed machte ein nachdenkliches Gesicht, als er ins Zimmer zurücktrat. Dann hob er den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. Als eine Stimme an sein Ohr klang, sagte er: »Das Mädchen kommt jetzt hinüber. Erwarten Sie sie innerhalb einer Stunde.« Drew Selden seufzte. »Sie kommt hierher?« »Sie kommt und geht wieder«, sagte Creed und erklärte mit ein paar Worten seinen Plan; der Mann mit den kalten Augen bemerkte nichts dazu. »Wo ist Mrs. Rutter?« »In ihrem Zimmer, im Bett«, sagte Selden. »Das Mädchen ist bei ihr. Sie lässt sie nie allein.« Creed hing ein, zog seinen Mantel an und ging nach unten. Mit einem kleinen Morris, den er in der Nähe stehen hatte, fuhr er nach Chelsea, und Wenda le Seur schrak bei seinem Anblick zusammen. »Aber, Mr. Creed, ich hatte Sie nicht erwartet...« Er unterbrach sie. »Ich habe einen Auftrag für Sie, Wenda. Sie nehmen den Nachmittagszug nach Aberdeen. Hören Sie gut zu. Es ist wichtig.« Zehn Minuten lang sprach er, und sie hörte zu. Dann nahm er seine Brieftasche und zählte fünfzig Pfund daraus. »Das wird Ihre ganzen Ausgaben decken. Sie können, sobald Sie wollen, zurückkommen.« Sie nahm das Geld und schob es in ihre Handtasche. »Was ist mit den Fahrkarten?« »Die hat sie gestern bestellt. Sie müssen in ihrer Handtasche sein.« Er erhob sich, um zu gehen. »Seien Sie vorsichtig, Wenda. Das ist sehr wichtig. So wichtig, dass Sie sich womöglich im Gefängnis wiederfinden werden - falls Sie Verdacht erregen -, und das könnte ich niemals gestatten.«

Sie zitterte, denn das Gewicht seiner Worte wurde ihr klar. »Keine Sorge. Mr. Creed. Ich werde damit fertig.« »Ich hoffe es«, sagte er liebenswürdig und ging hinaus. Nachdem sie sich angezogen hatte, verließ sie ebenfalls das Haus und gelangte innerhalb einer halben Stunde zu Mary Randalls Wohnung, die sie ohne Schwierigkeit mit dem Schlüssel, den Creed ihr gegeben hatte, öffnete. Minutenlang ging sie umher und prägte sich mit ihren scharfen Augen die für sie interessanten Einzelheiten ein. Eine halbe Stunde war vergangen, als sie das Geräusch eines Wagens hörte, der in der Nähe hielt. Sie trat ans Fenster und sah unten einen kleinen grauen Lastwagen. Diesem entstieg ein Mann, der die Treppe heraufkam, und einen Moment später läutete die Klingel. Sie ging, um zu öffnen, und er trat ein. »Was ist los?«, fragte sie. Er sah sie ruhig an. »Sind Sie neugierig?« Seine Augen waren grau und frostig, und etwas darin ließ sie gefrieren. Irgendwie kam er ihr merkwürdig bekannt vor, als habe sie diesen Menschen schon einmal gesehen. Dann fiel es ihr ein. »Sind Sie vor ein paar Monaten auf dem Moor gewesen?« Er nickte beinahe humorvoll. »Ja - stimmt. Ich erinnere mich an Sie, Miss le Seur. Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie mich zwischen so vielen berühmten Männern überhaupt beachten würden.« Sie ging in das kleine Schlafzimmer hinüber. »Ich warte lieber hier«, schlug sie vor. »Wenn die Randall kommt, braucht sie mich nicht zu sehen.« Sie sah ihm zu, wie er ein schmales Lederetui aus der Tasche zog, dem er eine Spritze und eine winzige Ampulle entnahm. Er brach die Spitze der Ampulle ab, tauchte die Nadel ein und zog die Spritze auf. Der scharfe Ton einer Hupe erklang. Drew Selden sah auf. »Das ist Gretzer. Jetzt kommt das Mädchen. Gehen Sie besser ins Zimmer.« Sie stolperte gegen die Tür, stieß sie auf und hörte, wie einen Augenblick später der Schlüssel gedreht

wurde, und die Wohnungstür ging auf. Ein leicht schlurfendes Geräusch, und dann sagte die männliche Stimme: »Sie können herauskommen.« Sie trat mit schwer klopfendem Herzen heraus. Mary Randall lag auf dem Sofa, einer ihrer Arme hing schlaff herunter. Sie war bewusstlos, und Selden untersuchte ihre Augen mit beinahe beruflichem Interesse. Er sah auf. »Nehmen Sie ihren Mantel und Hut - und die Schuhe.« Sie tat dies und fand in der Handtasche des Mädchens Fahrkarte und Hotelbestellung, die sie einen Augenblick lang musterte. Selden war ans Fenster getreten. Jetzt blickte er vorsichtig die Straße entlang. Als er zurückkam, lächelte er seltsam. »Rufen Sie ein Taxi. Sie haben viel Zeit. Sie fahren von Kings Cross ab.« In weniger als zehn Minuten stand das Taxi vor der Tür, und sie hob den Koffer auf, während Selden sie beobachtete. »Unten steht ein Polizist, aber Sie werden ohne Schwierigkeiten an ihm vorbeikommen. Sie ist etwas größer - und etwas jünger, aber ich glaube nicht, dass er es merkt.« »Was haben Sie - mit ihr vor?« Seine humorlosen grauen Augen wanderten langsam über sie hin. »Ich glaube nicht, dass Sie sich darüber Gedanken machen sollten«, sagte er leise. Sie wandte ihre Augen von ihm ab, um zu verhindern, dass er die Angst in ihnen las. Sie ging zum Taxi hinunter, und als sie darin saß, sah sie, dass der graue kleine Lastwagen bis zur Ecke vorgefahren war. Dreißig Meter entfernt las ein stämmiger Mann eine Zeitung, hob den Kopf, als das Taxi vorbeifuhr. Sie blickte sich nicht um, doch war sie sich seltsam bewusst, dass er sich für sie interessierte - was tatsächlich der Fall war. Am Ende der Straße war eine Telefonzelle, auf die Constable Parker zuging und Whitehall wählte. Nach ein paar Minuten war er verbunden. »Alles in Ordnung,

Sergeant. Die junge Dame ist vor ein paar Minuten mit einem Taxi weggefahren. Ich gebe Ihnen die Nummer.« Er nannte die Nummer, und der methodische Stacker schrieb sie auf. »Gut, Parker. Sie können jetzt zurückkommen. Ich habe einen Mann in Kings Cross, der ihr bis zum Zug folgt. Meredith fährt mit ihr nach Norden.« Er hing ein, um Chefinspektor Flagg mit den letzten Ergebnissen vertraut zu machen. Flagg nahm sie düster entgegen. »Das gefällt mir nicht, Stacker. Warum fährt sie überhaupt nach Schottland?« »Das würde auch ich gerne wissen, Mr. Flagg. Vielleicht erfahren wir es bald.« Flagg zog kräftig an seiner unvermeidlichen Zigarre. »Creed ist nicht der einzige Namenlose«, sagte er überlegend. »Ich habe das Gefühl, als würden diese Leute über kurz oder lang etwas unternehmen. Balder und Brophey sind heute Morgen gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden. Behalten Sie sie im Auge. Ich glaube, die Namenlosen sind etwas nervös geworden, weil sie keine Ahnung haben, wieviel wir wissen.« Stacker nickte. »Ich glaube, Sie haben recht, Mr. Flagg. Auf jeden Fall haben wir genug, um Brophey ein Jahr auf Nummer sicher zu bringen. Da ist eine Sache in Mortlake, an der er beteiligt ist. Bei Balder ist die Situation anders.« Flagg gähnte. »Für Balder habe ich die Auslieferungspapiere. Wenn er die sieht, wird er sich winden. Die belgische Polizei sucht ihn wegen eines Mordes in Antwerpen.« Als Stacker in sein Büro zurückkam, klingelte das Telefon. Es war der Beamte, der auf dem Bahnhof Dienst tat. »Alles in Ordnung, Sergeant. Die junge Dame sitzt im Zug. Sie reist Erster, und in ihrem Abteil sind noch zwei Frauen. Meredith ist bei ihr. Er sitzt im gleichen Wagen, zwei Abteile weiter.« »Sehr gut«, sagte Sergeant Stacker. Er lehnte sich zurück und starrte gegen die leere, verblichene Wand. »Zum Teufel mit Ferguson!«, sagte er bitter. »Zum Teufel mit der Presse!« Und ausnahmsweise waren die Flüche beinahe entschuldbar.

Achtzehntes Kapitel

Es war fast elf Uhr, als Mary Randall an dem großen Haus am Exeter Square läutete. Ein Diener öffnete. »Ich habe eine Nachricht für Mrs. Rutter«, sagte sie, und er nickte. »Wenn Sie bitte hereinkommen wollen, Miss, ich werde Mrs. Martin suchen.« Wie sich herausstellte, war Mrs. Martin die Haushälterin, eine müde ältliche Frau in schwarzer Seide, die die Haushaltsschlüssel an ihrer Taille trug. »Ich werde Mrs. Rutter benachrichtigen«, sagte sie, nahm den Umschlag und musterte ihn ohne Neugier. »Schwer, nicht? Wahrscheinlich Papiere. Diese Anwälte schicken dauernd Papiere. Aber es ist jetzt nichts im Vergleich zu damals, als der arme Mr. Rutter noch lebte. Das war ein Geschäftsmann. Es wird behauptet, er hätte eine Million Pfund verdient, ob es wahr ist oder nicht.« »Eine Million ist viel Geld«, sagte Mary. Mrs. Martin war geneigt, dem zuzustimmen. »Er hat mir tausend Pfund hinterlassen und diese Stellung fürs Leben. Das war ein feiner Mann, junge Frau, was man so einen Mann des Volkes nennt.« »Ein Selfmademan?«, fragte Mary interessiert. »Ja, das war er. Er war Angestellter bei der Firma, aber er hatte einen besonderen Kopf für Zahlen, Ich erinnere mich, dass Mr. Slesser einmal sagte, er sei der fähigste Geschäftsmann in London.« »Mr. Slesser?« Sie nickte. »Damals war Julian Slesser der Chef der Firma. Sie hieß Manfield and Slesser. Und als Mr. Rutter sie verließ, bestand sie kein Jahr mehr. Der arme Mr. Slesser beging Selbstmord. Es war ein sehr trauriger Fall, weil er eine Frau und ein Baby zurückließ.«

Sie fühlte, wie ihr Herz klopfte. »Eine Frau und ein kleines Baby? Wie schrecklich! Was ist aus ihnen geworden?« Die alte Frau lachte. »Ezra Rutter hat sie geheiratet. Sie war seine erste Frau. Und sie waren sehr glücklich, und er hatte den Jungen sehr gern. Als der Junge noch ein kleiner Bengel war, habe ich ihn ein- oder zweimal hier im Haus gesehen. Aber Mrs. Rutter - die erste Mrs. Rutter, meine ich, starb an Lungenentzündung, und Mr. Rutter brach beinahe das Herz. Er war viel älter als sie, und ich habe selten jemanden so verzweifelt erlebt. Dann ging er aufs Land, und ich habe ihn danach nicht mehr oft gesehen.« »Er hat dann später wohl wieder geheiratet?«, fragte das Mädchen. Mrs. Martin bejahte. »Die jetzige Mrs. Rutter. Ihr Vater war irgendein Geschäftsmann, aber ich habe nie viel über sie erfahren. Sie kommt nicht oft in die Stadt. Trotzdem - sie ist hier, ist mit vier Leuten hier angekommen, von denen keiner was taugt.« Sie seufzte. »Aber jetzt gehe ich besser nach oben. Eine Schwester ist da...« Sie ging hinauf, und Mary Randall blieb allein. Das war eine Mitteilung, die in eine neue Richtung wies. Der alte Ezra Rutter, der Millionen verdient hatte, war zweimal verheiratet gewesen, und seine erste Frau war die Mutter von Lewis Slesser. Sie dachte an den rührenden jungen Mann und spürte, wie ihre Neugier wuchs. War das Rutter'sche Vermögen die Quelle von Lewis Slessers magerem Einkommen? Dies war eine Frage, deren Klärung lohnte. Wenn das Rutter'sche Vermögen nur von Creed verwaltet wurde, was wahrscheinlich war, so bedeutete dies ein weites Operationsfeld für die Namenlosen. Während sie darüber nachdachte, hörte sie hinter sich ein leises Geräusch; und als sie sich umdrehte, sah sie den Diener, der die massiven silbernen Wandleuchter abstaubte. Er bückte zu ihr hinüber und nickte. »Mrs. Martin ist hinaufgegangen, nicht?« »Ja.« Etwas war an den harten grauen Augen des Mannes, das sie nicht mochte. Er verließ den Raum, bevor sie die alte Frau zurückkommen hörte, und einen Augenblick später trat sie ein wenig atemlos ein. »Sie möchten zu Mrs. Rutter hinaufkommen.« Mary war leicht erstaunt. »Will Sie mich sehen?« Mrs. Martin nickte. »Die arme, alte Lady empfängt nur wenig Menschen. Ja, Sie

möchten hinaufkommen. Ich glaube, Sie sollen einen Brief für sie schreiben.« Sie ging voraus, eine breite, mit schönen Teppichen belegte Treppe hinauf, aus der der Reichtum des Hauses Rutter sprach. Vor der Tür angekommen, klopfte Mrs. Martin an und trat ein. »Die junge Lady, Mrs. Rutter.« Martha Rutter lag auf einer Chaiselongue. Sie drehte sich um und richtete mit einem schwachen Lächeln ihre matten Augen auf sie. »Miss Randall, nicht wahr? Treten Sie ein und nehmen Sie Platz. Sie können gehen, Martin.« Sie beobachtete, wie die alte Frau hinausging. »Martin ist eine gute Person, aber sie klatscht so viel. Sie lebt in einer anderen Welt. Mein Mann hat sie vor vielen Jahren eingestellt.« Mary setzte sich. Sie blickte auf die farblose Frau, die vor ihr lag. Martha Rutter musste einmal schön gewesen sein, aber jetzt war ihre Schönheit dahin, und sie wirkte nur noch kalt und grau. Der große Umschlag, den Creed ihr geschickt hatte, lag in ihren Händen. »Hamilton hat mir hier Dinge geschrieben, die ich nicht begreife«, sagte sie. »Ich habe keine Ahnung von Geschäften, Miss Randall. Ich fürchte, ich muss Sie bitten, einen Brief an ihn zu schreiben.« »Selbstverständlich, Mrs. Rutter...« »Wenn Sie so liebenswürdig wären, ihn aufzunehmen«, begann die Frau. »Papier liegt auf dem kleinen Tisch in der Ecke.« Das Mädchen ging hinüber. In einem blauen Karton lag teures Papier, von dem sie einen Bogen nahm. »Was soll ich schreiben?« Mrs. Rutter wollte Creed verschiedene Dinge mitteilen, die sie weitschweifig erklärte. »Sagen Sie ihm, er soll heute oder morgen vorbeikommen. Lesen Sie mir vor, was Sie geschrieben haben.« Das Mädchen tat es, und die alte Frau nickte. »Das ist sehr gut. - Sie müssen irgendwann einmal wiederkommen und mich besuchen. Ich habe nur wenige Freunde in London, und keiner davon weiß, dass ich augenblicklich hier bin.

Können Sie morgen kommen?« Mary schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ich fahre heute Nachmittag nach Schottland.« Mrs. Rutter streckte dem Mädchen ihre schmale schwache Hand entgegen, und als sie diese berührte, spürte sie die Eiseskälte. »Bitte, stecken Sie den Brief ein, Miss Randall. Vielen Dank, dass Sie ihn geschrieben haben. Wenn Sie nach London zurückkommen, müssen Sie mich besuchen. Ich hoffe, die Reise macht Ihnen Spaß.« Sie entließ Mary mit einem Nicken. Mrs. Martin stand draußen auf dem Flur und führte sie nach unten. »Sie sind sicher erschöpft, Miss. Es ist schwer, es einer Kranken recht zu machen. Besonders, wenn man es Kranken nur so schwer recht machen kann wie einer, deren Namen ich nennen könnte.« Es war offensichtlich, dass Mrs. Rutter bei der alten Frau nicht hoch im Kurs stand. »Was sie braucht, ist eine Beschäftigung«, sagte sie düster. »Faulheit ist die schlimmste Krankheit. Der alte Mr. Rutter hat mir einmal gesagt, sie hätte einen besseren Geschäftssinn als irgendein Mann, der ihm begegnet sei. Sie war hart wie Stahl. Aber das ist lange her, und was man in der Jugend verliert, bekommt man im Alter nicht zurück.« Sie begleitete Mary bis zur Tür. Mary ging langsam bis zum Ende der Straße, dabei funkelten ihre Augen vor Interesse. Hier war ein Problem, das überlegt und besprochen werden musste. Wieviel war Wahrheit - wieviel Einbildung einer klatschsüchtigen alten Frau? Sie fuhr mit der U-Bahn durch die Stadt und aß, nachdem sie Martha Rutters Brief an Creed in den Kasten geworfen hatte, in einem nahegelegenen Lokal zu Mittag, dann begab sie sich zu ihrer Wohnung. Was die nächsten vierundzwanzig Stunden bringen würden, war schwer zu bestimmen, aber sie hatte das Gefühl, dass Creed vor ihrer Rückkehr nichts unternehmen würde. Sie wusste genau, dass sein Verdacht geweckt war, doch konnte er sie keinesfalls in Beziehung zu Balders und Bropheys Festnahme bringen. Sie befand sich in der Nähe ihres Appartementhauses, als sie ungefähr dreißig Meter entfernt einen kleinen grauen Lastwagen sah, an dessen Steuer gelangweilt ein Mann hing. Sie lief nach oben, steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete und schloss die Tür hinter sich. Als sie durch den schmalen Flur ging, umfingen sie zwei Arme. Etwas Weiches legte

sich über ihren Mund, und eine Sekunde später spürte sie einen brennenden Stich in ihrem Handgelenk. Einen Augenblick lang versuchte sie, sich zu wehren, aber alle Kraft war aus ihrem Körper gewichen, und sie spürte ein merkwürdiges Erschlaffen. Dunkelheit umfing sie, und dann versank sie in Bewusstlosigkeit.

Neunzehntes Kapitel

Fünf Minuten später hörte Selden Gretzers Signal und ging, die Tür zu öffnen. Gretzer kam herein, sah sich um und trat an den Kamin. »Der Polyp ist fort. Ich kenne den Kerl - heißt Parker!« Er fühlte dem Mädchen den Puls. »Bewusstlos. Die Frage ist, ob sie es bleibt?« Selden nickte. »Das Zeug legt sie für fünf oder sechs Stunden lahm.« Er sah sich um, und seine Augen fielen auf einen kleinen Schrank. »Das ist das Richtige. Nicht so verdächtig wie ein Koffer.« Er öffnete die Tür. Darin hingen Röcke und Jacken, die er hinauswarf. »Leg sie hinein.« Sie hoben das Mädchen gemeinsam auf, legten Mary in den Schrank, und Selden drehte den Schlüssel im Schloss. Dann ging er zum Fenster und beobachtete sekundenlang die Straße. Niemand war in Sicht und er wandte sich mit einem Kopfnicken um. »Gehen wir hinunter, Gretzer. Wenn wir jemanden treffen, übernehme ich das Reden.« Sie trafen niemanden, und einen Augenblick später lag der Schrank hinten im Wagen und Gretzer saß am Steuer. Am Ende der Straße hielt er an, und Selden stieg aus. »Halte dich nicht auf der Straße auf«, sagte er, und der kleine Mann nickte. »Verlass dich drauf.« Selden sah ihm nach, bis er außer Sicht war, und fuhr dann mit der U-Bahn zur Wood Street, wo er Creed beschäftigt antraf. Er sah auf, und bei Seldens Anblick kehrte sein Lächeln zurück. »Hat alles geklappt?«

Selden nickte. »Eine einfache Sache. Sie hatte keinerlei Verdacht.« Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Sie hat sich etwas mit der Alten unterhalten.« »Mit welcher Alten? Ach so, Mrs. Martin.« Creed war nicht sonderlich interessiert. »Die Frau weiß nichts, und ich mache mir keine Gedanken über sie.« Er sah Selden einen Augenblick lang an. »Wegen des Mädchens bin ich nicht sicher. Keineswegs so sicher, wie ich gern möchte. Wenn ich mir sicher bin - muss sie sterben.« Selden nickte gefühllos. »Sie kann da sterben, wo sie ist; der Fluss ist in der Nähe.« Er zuckte seine breiten Schultern. »Ich muss jetzt gehen, ich habe viel zu erledigen.« Er verließ das Büro, und Creed fuhr in seiner Arbeit fort. Der Brief, den Mary Randall eingeworfen hatte, kam mit der Abendpost; er las ihn, zerriss ihn und ging zu seinem Wagen. Er fuhr lange Zeit und dachte über die neue Situation, die entstanden war, nach. Bis er in Marlow ankam, hatte er noch keinen Entschluss gefasst, doch hatte ihn ein merkwürdiges Gefühl von Müdigkeit ergriffen. Innerhalb der nächsten Stunden musste er sich über das Schicksal des Mädchens entscheiden, und wenn sie das war, was er glaubte, musste Drew Selden eingreifen. Feine Regentropfen lagen jetzt auf der Windschutzscheibe, und als er Marlow hinter sich gelassen hatte, regnete es stärker. Eine halbe Stunde später gelangte er an eine Seitenstraße, in die er einbog, in der er seine Scheinwerfer abstellte und mit dem Parklicht langsam weiterfuhr. Die Straße führte einen halben Kilometer weiter und endete dann an einer üppigen grünen Wiese, hinter der in der Dunkelheit die Themse dahinplätscherte. Er stellte den Wagen ab und stieg aus. Vor ihm erhoben sich die vagen Umrisse von Bäumen und Büschen und dahinter die Silhouette des Landhauses gegen den blauschwarzen Nachthimmel ab. Der Rasen war kniehoch, und er suchte sich vorsichtig seinen Weg durch das Gras. Seltzer, der das Haus versorgte, hatte wenig Interesse an dem Garten. Er erreichte die Tür, zu der nur er einen Schlüssel besaß. Einen Augenblick später stand er im Haus und hatte die Taschenlampe eingeschaltet. Es war ganz still. Ein feuchter Modergeruch lag in der Luft, und ganz nah hörte er das Knabbern einer Ratte. An diesem Ende des Hauses benutzte Seltzer zwei Zimmer, und auf diese ging Creed jetzt zu. Hier fand er Spuren der Anwesenheit

des alten Mannes; vor kurzem war ein Essen zubereitet worden. Er überlegte einen Augenblick. Seltzer hatte sein Zimmer, in dem er schlief, oben. Der alte Mann war taubstumm, und es war schwer, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er blieb sekundenlang unschlüssig und stieg dann die enge alte Treppe hinauf; als er das Schlafzimmer erreicht hatte, öffnete er die Tür. Das Zimmer war leer. Ein altmodisches Eisenbett stand darin, das auch zurechtgemacht war; aber offensichtlich hatte Seltzer es nicht benutzt. Ein leichtes Gefühl von Beunruhigung bemächtigte sich seines Herzens. Er schob die Hand in die Manteltasche, der darin sich befindliche kurzläufige Revolver gab ihm sein Vertrauen zurück. Wo war Seltzer? Hatte der alte Mann das Mädchen allein gelassen und war weggegangen? Das war unwahrscheinlich. Am hinteren Ende des Landhauses befand sich ein Keller, den frühere Bewohner als Weinkeller benutzt hatten. Er besaß keine Fenster, lediglich eine schwere Eichentür. Dorthin wandte er sich und fasste an die Tür, die sich zu seinem Erstaunen öffnete. Hinter ihr brannte eine Petroleumlampe, und in deren Schein sah er Seltzer aufrecht dasitzen, doch von Mary Randall bemerkte er keine Spur. Für lange Zeit blieb er wie erstarrt stehen. Mary Randall war fort! Ein kalter Schauder erfasste sein Herz. Er trat auf den alten Mann zu und sah erst jetzt die Stricke, die ihn in dieser Haltung hielten. Einen Augenblick später hatte er sie losgeschnitten, und Seltzers reckte seine verkrampften Beine. Creed sah ihn wild an. Der alte Mann trug einen Block in der Brusttasche seiner alten Jacke mit sich. Der Anwalt zog ihn heraus und suchte nach einem Bleistift. »Wo ist das Mädchen?« Seltzer nahm ihm den Block ab. »Sie ist fort. Jemand kam - es ist keine Stunde her - und nahm sie mit. Sie haben mich hier zurückgelassen.« Creed fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Das war eine Katastrophe, die er nicht vorausgesehen hatte. Er kritzelte etwas auf den Block und schob ihn hinüber, doch der Alte schüttelte den Kopf. Er hatte den Angreifer nicht gesehen. Der Mann hatte im Dunklen gearbeitet. Nur einer Sache war er

sicher, dass er enorm stark gewesen war, denn er hatte ihn von der Küche bis hierher wie ein Kind getragen. Creed merkte rasch, dass es keinen Sinn hatte, Seltzer weiter auszufragen. Wenn Mary Randall entführt worden war, war es am besten, so schnell wie möglich aufzubrechen. Er folgte Seltzer in die Küche und nahm den Block. »Ich muss jetzt gehen. Falls die Polizei kommt, wissen Sie von nichts.« Seltzer nickte, und Creed sammelte die Papierschnitzel zusammen und hielt sie an den Docht der Lampe.

DRITTER TEIL

Zwanzigstes Kapitel

Als Mary Randall die Augen öffnete, war nichts als feuchte, kalte Dunkelheit um sie; einen Moment lang lag sie nur da und sah ins Dunkle, während es in ihrem Kopf durcheinanderging. Im Augenblick war sie zu verwirrt, um klar zu denken; und dann schob sie mit einem gewissen kalten Fatalismus die Überlegungen beiseite und konzentrierte sich darauf, ihr Gefängnis zu untersuchen. Sie stand vom Sofa auf, befühlte die Mauern und tastete sich umher. Einen Augenblick später war sie gegen einen Tisch gestoßen; ihre Hände glitten darüber, dann stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe mit Streichhölzern. Sofort war sie angezündet, und Mary betrachtete sich ihre Umgebung. Die Mauern waren aus Ziegeln, und die Decke war flach, die Tür massiv. Als sie daran rüttelte, vermochte sie mit ihrer ganzen Kraft nichts auszurichten. Sie kehrte zu dem Sofa zurück und setzte sich. Das Licht wirkte zum mindesten aufmunternd, und sie begann, sich ihre Situation zu überlegen. War Creed für ihre Entführung verantwortlich? Sie dachte immer noch an ihn, als sie draußen vor der Tür ein leises Schlurfen hörte; sofort wurde sie lebendig. »Wer ist da?« Es erfolgte keine Antwort, doch wurde der Schlüssel leise im Schloss gedreht, und sie sah einen großen alten Mann vor sich. »Wo bin ich? Warum bin ich hier?« Er sprach nicht, stellte aber das Tablett, das er trug, auf den Tisch und wandte sich schweigend ab. Er hatte etwas fast Mechanisches an sich, und so fragte sie

erneut: »Wo bin ich?« Ob er sie gehört hatte oder nicht, wusste sie nicht, aber plötzlich drehte er sich um. In der Hand hielt er einen Block, und als er einen Bleistift hervorzog, wusste sie, dass er stumm war. Er kritzelte etwas auf und reichte es ihr. »Ich bin taubstumm. Vielleicht bleiben Sie längere Zeit hier. Wenn Sie keine Schwierigkeiten machen, geschieht Ihnen nichts.« Sie starrte ihn an, doch seine Züge waren leer und ausdruckslos. Die Tür schloss sich hinter ihm, der Schlüssel wurde gedreht, und sie war wieder allein. Sie trat an das Tablett. Darauf lagen Brot, kaltes Fleisch und ein großes Stück Käse. Und noch wichtiger, auf ihm stand eine Kanne starken Tees, den sie ohne Milch und Zucker trank. Seltzer hatte den Zettel auf dem Tisch liegengelassen. Sie nahm ihn und wollte ihn in die Tasche stecken, doch dann entdeckte sie einen Bleistiftstummel und begann, sich Stichwörter aufzuschreiben; am Anfang der Liste stand der Name Martha Rutter. Jetzt, nachdem sie Zeit hatte, die Bemerkungen, die sie gehört hatte, zu überdenken, schien die Frau eine neue Bedeutung zu gewinnen. Sie war die zweite Frau von Ezra Rutter gewesen. Und noch wichtiger: Die erste Frau des alten Mannes war die Witwe von Julian Slesser gewesen, und Lewis Slesser war Rutters Stiefsohn. Was hatte das alles zu bedeuten? Eine Stunde lang mühte sie sich quälend, um eine befriedigende Antwort zu finden, aber ohne Erfolg. Auf ihrer Armbanduhr war es jetzt beinahe zehn. Sie war müde, denn ihre Augen blinzelten in dem flackernden Lampenlicht. Sie drehte den Docht herunter und legte sich wieder auf das Sofa. Einen Augenblick später schlief sie. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber als sie erwachte, war der Regen stärker geworden, und sie hörte, wie er stetig heruntertropfte. Und dann hörte sie etwas anderes - das Brummen eines Motors. Sie richtete sich auf und horchte, doch das Geräusch war verstummt, und nur das Prasseln des Regens und das dunkle Gurgeln des Flusses ertönten. War wirklich ein Wagen dagewesen? Sie lag eine Weile still und überlegte, ob sie den Docht ganz herunterdrehen sollte, als sie leichte gleichmäßige Schritte hörte. Jemand bewegte sich mit

langsamen, behutsamen Schritten den Flur entlang. Sofort sprang sie auf und ging an die Tür. »Wer ist da?« Sie hörte ein kurzes leises Lachen, und ihr Herz tat einen Sprung, denn sie hatte etwas darin vernommen, das sie immer wiedererkennen würde. »Tom Sutton!« Er schwieg einen Augenblick lang, dann sagte er: »Wie lange sind Sie schon hier?« »Seit Stunden - ich weiß nicht, wie viele Stunden.« »Ist hier irgendjemand?« Sie erzählte ihm von dem Taubstummen. »Ich erinnere mich an den Alten, Ich habe ihn schon einmal getroffen. - Diese Tür würde einem Rammbock standhalten. Ich nehme an, der Alte hat den Schlüssel dazu.« »Ja. Er hat mir was zum Essen gebracht.« »Gut. Ich werde sehen, was ich tun kann.« Er hielt eine Taschenlampe in der Hand, die er jetzt auf den schmalen Flur richtete. Am anderen Ende war eine Tür, unter der ei einen schwachen Lichtschein sah. Das Haus war leer bis auf Seltzer, soviel hatte er gleich festgestellt. Als er die Küche erreichte und davor stehenblieb, hörte er schlurfende Schritte. Er hatte gerade noch Zeit, in den Schatten zu treten, als der Mann an ihm vorbeistakste. Binnen einer Sekunde hatte er ihn mit stählernem Griff gepackt, und seine tastenden Finger hatten den Schlüssel entdeckt. Er hob den Mann hoch, als wäre er ein Kind, und trug ihn vor den Raum, in dem sich das Mädchen befand. »Sind Sie da?«, fragte er. Sie antwortete sofort. »Sie haben da irgendein Licht. Machen Sie es aus. Ich habe hier Ihren Wärter, der braucht mich nicht zu sehen.«

Sie drehte den Docht ganz herunter und blies die Flamme aus. Dann hörte sie, wie die Tür aufging. Tom Sutton kam herein, und sie merkte, dass er den alten Mann umklammert hielt. Er drückte ihr die Taschenlampe in die Hand. »Gehen Sie ans Ende vom Flur und suchen Sie irgendeinen Strick oder eine Schnur.« Sie rannte auf das Licht zu und befand sich in einer großen unordentlichen Küche. In einer Schublade entdeckte sie eine dicke Leine, die sie herauszog. Als sie zurückkam, hörte sie Sutton erleichtert aufatmen. Er beugte sich vor und band den Alten mit geschickten Knoten an den Stuhl. »Nun machen wir besser, dass wir fortkommen«, sagte er. »Halten Sie sich dicht an mich, und gehen Sie vorsichtig.« Sie folgte seiner großen Gestalt, und nach wenigen Minuten traten sie in die feuchte Nacht hinaus. Einen Augenblick lang blieb Sutton stehen, bis sich seine Augen an die Nacht gewöhnt hatten. »Hier entlang«, sagte er und bewegte sich vorsichtig weiter. Das Gras war hoch, und lange bevor sie den Wagen erreicht hatten, war sie bis zu den Knien nass. Kein Laut war zu hören außer dem Flüstern der Nacht und dem gleichförmigen Rauschen des Regens. Sie spürte, wie kalt und nass ihre Beine waren, und sie war froh, als er ihr in den Wagen half. Er setzte sich neben sie und ließ den Motor an. Eine Zeitlang schaltete er die Scheinwerfer überhaupt nicht ein, und in der Dunkelheit konnte sie lediglich erkennen, dass sie einen von Gebüsch umsäumten Weg entlangfuhren. Dann bogen sie in eine breitere Landstraße ein, und er schaltete die Scheinwerfer an. »Wie sind Sie zu dem Haus gekommen, Mr. Sutton?«, fragte sie. Er blickte sie an. »Ich bin schon einmal dagewesen.« »Wussten Sie, dass ich - in dem Haus war?« Er lachte grimmig. »Ich ahnte es. Ich bin dem Lastwagen gefolgt. Selden saß darin.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Sie fangen an, ein bisschen ein Problem zu werden, Miss Randall. Woher soll ich wissen, ob die Namenlosen nicht einen weiteren Versuch unternehmen?«

Sie zitterte bei dem Gedanken. »Hat Selden mich hergebracht?« »Nein, ein anderer Bursche. Aber Selden war in dem Lastwagen, als er zu ihrer Wohnung fuhr. Sie haben einen kleinen Schrank heruntergebracht; in den hatte man Sie hineingelegt. Wirklich, ganz einfach. Creed lässt sich nie auf komplizierte Dinge ein, darum ist er so gut. Er erweckt damit keinen Verdacht.« Sie blickte eine Weile auf die Straße und fragte dann: »Was wollen Sie jetzt mit mir anfangen?« »Das ist das Problem«, sagte er missmutig. »Ich kenne ihr schreckliches Geheimnis, das habe ich Ihnen schon gesagt. Warum folgen Sie meinem Rat nicht?« Sie lachte leise. »Holloway ist nicht schlimmer als Dartmoor, nicht? Ich habe nur sechs Monate bekommen, Sie achtzehn. Das ist dreimal so schlimm.« Sie sah zu ihm auf. »Warum machen Sie sich solche Gedanken um mich? Und was meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie kennen mein schreckliches Geheimnis? Es steckte kein besonderes Geheimnis dahinter, als ich ins Gefängnis geschickt wurde.« »Sie sind nicht vor ein Gericht gestellt worden«, sagte er langsam. »Sie sind auf Grund eines polizeirichterlichen Beschlusses zu Gefängnis verurteilt worden ein höchst ungewöhnlicher und illegaler Vorgang. Sie müssen viel Einfluss hinter sich haben, Mary Randall, und dahinter vermute ich die feingesponnenen Fäden von Ferguson und Ogden vom Eastern Monitor. Habe ich recht?« Sie holte tief Atem. »Sie sind recht klug, Mr. Sutton.« »Das finde ich auch«, sagte er zufrieden und fuhr schweigend weiter.

Einundzwanzigstes Kapitel

Während der meisten Zeit auf der Rückfahrt zur Stadt schlief Mary, und erst in den Vorstädten wachte sie plötzlich auf und sah, dass der Himmel grau war und die erste schwache Morgendämmerung heraufkam. Einen Augenblick lang lag sie still und steif, dann erinnerte sie sich an alles und sah auf.

»Ich habe geschlafen«, sagte sie. »Wo sind wir jetzt?« Er grinste. »In einer halben Stunde sind wir in der Stadt. Wohin soll ich Sie bringen? In Creeds Büro können Sie nicht zurück.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das würde Schwierigkeiten herausfordern. Nicht?« »Es würde den Tod herausfordern«, sagte er, und sie spürte, wie ihr etwas kalt den Rücken hinunterlief. »Creed weiß inzwischen zu viel von Ihnen. Er verdächtigt Sie natürlich schon seit einiger Zeit.« »Woher wissen Sie das?« »Sie haben Stacker den Wink gegeben, dass beabsichtigt war, sich das Van-derLoon-Halsband gewaltsam zu verschaffen.« »Ja - woher wissen Sie das?« »Das war ein Fehler. Creed hat Sie gebraucht, damit Sie die Information an die Polizei weitergeben. Er hat nur Ihre Verlässlichkeit geprüft und die Polizei hineingelegt. Der wirkliche Raubüberfall war niemals im Victory geplant. - Sie sind wirklich ein Problem, Mary Randall. Warum konnten Sie nicht dabeibleiben, Theaterklatsch oder sonst etwas Harmloses zu berichten? Die Sparte Verbrechen ist keine Sache für Frauen - und ganz bestimmt nicht diese Sorte.« Er sah forschend zu ihr hinab. »Sie setzen mich in Erstaunen - wirklich. Und was Ihre Redakteure anbelangt - so halte ich sie für einen Verein von...« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich habe sie dazu überredet.« »Trotzdem bleibe ich dabei: Das ist Männerarbeit. Sie wissen, was mit dem Mann iert ist, der sich damit beschäftigt hat. Sie wissen, was mit Ferrier iert ist?« Sie schwieg lange. »Ja, ich weiß, was mit Jack Ferrier iert ist. Wir waren verlobt...« Sie sah, wie er sich aufrichtete. »Das tut mir leid«, sagte er mit merkwürdig weicher Stimme. »Ich bin ein wenig

rücksichtslos. Ich wollte, ich hätte das nicht gesagt.« »Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, sagte sie. »Können wir anhalten und Ferguson anrufen? Ich möchte verschiedenes mit ihm besprechen.« Er stimmte zu. Es war jetzt beinahe vier Uhr, und die Straßen waren noch still. »Wo wohnt Ferguson?« Es stellte sich heraus, dass Ferguson in Golders Green wohnte. »Wir halten an der ersten Telefonzelle, und Sie rufen ihn an. Wenn er erreichbar ist, fahren wir zu ihm. Wahrscheinlich kann er Sie ein oder zwei Tage aufnehmen.« Seine Augen wanderten zu ihr hinüber. »Sie befinden sich in einer scheußlichen Situation, Mary Randall. Was die Namenlosen einmal versucht haben, werden sie bestimmt wiederholen. Das nächste Mal werden sie wahrscheinlich direkter Vorgehen - und erfolgreicher.« Eine Telefonzelle tauchte auf, und er hielt an. Sie ging hinein und kam nach fünf Minuten wieder. »Ich habe mit Ferguson gesprochen, und er sagt, ich solle kommen. Es ist sicher das Beste. Auf jeden Fall erwartet er uns.« Er fuhr nach Golders Green hinüber, und sie trafen zusammen mit der Milch und den Morgenbrötchen ein, und Ferguson, ein breiter, cholerisch wirkender Mann, empfing sie mit heißem Kaffee. »Trinken Sie das! Es wird Ihnen guttun. Ich habe mit Ogden telefoniert, und er kommt herüber.« Er sah Sutton an. »Nun, junger Mann, wer sind Sie, und wie sind Sie in diese Sache geraten?« Sutton lachte. »Am besten bezeichnen Sie mich als Zuschauer, Ferguson. Vielleicht bin ich auch etwas mehr. Auf jeden Fall bin ich an der Sache interessiert. Ich erzähle es Ihnen, wenn Ogden da ist. Inzwischen schlage ich vor, dass Miss Randall zu Bett geht. Sie hat eine recht unangenehme Zeit hinter sich.« Ferguson rieb sich sein unrasiertes Kinn. »Sie kann hier nicht zu Bett gehen! Meine Frau ist verreist. Das können wir nicht machen. Ich habe kein Mädchen. Wissen Sie was, das überlassen wir Ogden.« Ogden erschien nach einer knappen halben Stunde, und der Redakteur des Eastern Monitors hatte eine Idee. Er war ein breitschultriger Mann mittlerer

Größe, glatzköpfig von Stirn bis Nacken. »Ich bringe Sie bei MacGill unter«, sagte er kurz, und das Mädchen runzelte die Stirn. »Wer ist MacGill?« MacGill war der Polizeisergeant in Ogdens Revier. Er war verheiratet, und seine Frau war früher ebenfalls bei der Polizei gewesen. Unter diesen Umständen war es unwahrscheinlich, dass irgendein Überfall auf sie versucht werden würde. MacGill wurde angerufen und zeigte sich sofort einverstanden. »Wir wollen nicht, dass Sie sich noch mehr Schwierigkeiten aufladen, Mary«, sagte Ogden. »Eines Tages gibt das hier eine herrliche Geschichte, und ich möchte, dass Sie in der Lage sind, sie zu erzählen.« Sie lachte ein wenig. »Ich danke Ihnen für Ihre Selbstlosigkeit, Mr. Ogden.« Tom Sutton stand am Fenster, und sie ging auf ihn zu. »Ich gehe jetzt mit Mr. Ogden fort. Ich danke Ihnen.« Er grinste. »Eines Tages besuche ich Sie mal, Mary. Auf jeden Fall - für den Augenblick sind Sie sicher.« Und mit einem Kopfnicken war er verschwunden. Ogden beobachtete sie. »Wer ist dieser Sutton?« »Einer meiner Freunde«, sagte sie, und ihre Augen tanzten. »Ich habe eine Menge der verrücktesten Bekanntschaften gemacht. Tom Sutton hat achtzehn Monate in Dartmoor gesessen.« Seine Augen wurden lebhaft. »Natürlich! Ich erinnere mich jetzt an den Fall. Dahinter muss irgendeine Story stecken.« Er rieb sich seinen kahlen Kopf. »Gehen wir. Sie können ein paar Tage freinehmen. Dann schicke ich Sie wieder in ihre Filmspalte zurück. Das ist weniger aufregend.« Er ging hinaus, und sie folgte ihm amüsiert. Innerhalb einer halben Stunde erreichten sie das Polizeirevier. MacGill erwies sich als ein kräftiger, freundlicher Mann. Seine gleichaltrige Frau hatte graue Haare und eine anmutige Figur. Sie führte sie in ein gemütliches Wohnzimmer, wo bereits der Frühstückstisch gedeckt war. »Sie werden Hunger haben«, sagte sie. »Wir frühstücken zusammen, und danach

gehen Sie am besten zu Bett.« Nach dem Frühstück wurde sie in das Schlafzimmer gebracht, wo ein breites Doppelbett stand. »Hier haben Sie es bequem«, sagte Mrs. MacGill heiter. »Sie finden hier alles Nötige, und ich lasse jetzt ein Bad für Sie ein; Sie müssen todmüde sein. Haben Sie sonst irgendeinen Wunsch?« Mary überlegte. »Darf ich einmal telefonieren?« »Ich will hören, was Mac dazu sagt.« Ihre Stimme klang leicht zweifelnd. »Mr. Ogden wollte nicht, dass irgendjemand erfährt, wo Sie sind.« »Ich möchte mit Scotland Yard telefonieren«, lachte das Mädchen. Ein paar Minuten später sprach sie mit Stacker, der völlig verwirrt war. »Aber seit Tagen habe ich einen meiner Männer auf Sie angesetzt«, sagte er. »Er hat gemeldet, Sie wären nach Norden gefahren. In Aberdeen habe ich einen Mann an den Zug geschickt, der ein Auge auf Sie haben soll! Heute Morgen erst habe ich eine Meldung von ihm erhalten.« Sie amüsierte sich. »Und was tue ich gerade?« »Sie schlafen noch«, sagte er. »Meredith hat eine Abreibung verdient, und die werde ich ihm geben. Sie sagen, Sie sind in einem Polizeirevier. Geben Sie mir den Sergeanten.« Mary rief Mr. MacGill. Letzterer sprach ein paar Minuten lang mit Stacker, der ihm genaue Anweisungen gab. »Ich komme im Laufe des Tages vorbei, Sergeant, aber behalten Sie das Mädchen im Auge. Stellen Sie einen Mann vor ihr Zimmer - und geben Sie ihm eine Waffe. Wenn ihr noch mal etwas iert, können wir unsere Uniform ausziehen.« »Keine Sorge, Mr. Stacker. Ich e auf.«

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Es wurde später Nachmittag, bis Sergeant Stacker zum Polizeirevier fahren konnte. Flagg begleitete ihn. Sie gingen nach oben, wo Mary Randall auf sie wartete. Sie hatte jetzt geschlafen. Falls sie bei ihrem Abenteuer irgendwelchen Schaden genommen hatte, so waren jedenfalls keine sichtbaren Zeichen davon vorhanden. Sie begrüßte Stacker erfreut, da sie den brummigen Mann gern mochte; doch als sie Flagg sah, weiteten sich ihre Augen. »Inspektor Flagg! Natürlich - wir kennen uns schon. Vor ein paar Tagen haben Sie neben mir gesessen - ich hätte Sie erkennen müssen.« Flagg nickte. »Ich dachte, es gäbe keinen Reporter in London, der mich nicht kennt. Mein Stolz ist schwer angeschlagen.« Er machte es sich bequem. »Jetzt möchten wir gern etwas von Ihnen hören, Miss Randall; oder besser, mein Freund Sergeant Stacker möchte es. Es ist sein Fall, und ich mische mich niemals ein.« Sergeant Stacker pflichtete bei. »Wir möchten alles wissen, Miss Randall. Lassen Sie nichts aus.« Eine halbe Stunde lang berichtete sie, und die beiden Männer lauschten. Manchmal stellten die beiden eine Frage, manchmal äußerten sie eine Meinung. Als sie fertig war, zog Stacker sein Dienstbuch heraus und machte ein paar Eintragungen. Flagg saß da und rauchte, doch sie merkte, dass der kluge Mann tief in Gedanken versunken war. Schließlich sprach er. »Ich würde gerne dieses Haus am Fluss sehen. Sutton müsste in der Lage sein, uns näher darüber zu informieren. Wir werden es mit ihm versuchen.« Er sah das Mädchen nachdenklich an. »Ich kenne Ihren Taubstummen. Das ist Seltzer. Er ist Amerikaner und hat schon mit der Polizei zu tun gehabt. Sie haben niemanden gehört oder gesehen, der Creed erwähnt hat?« »Nein - Sie können ihn nicht damit in Verbindung bringen.« »Dazu ist Creed viel zu schlau. Wenn man Wenda zum Sprechen bringen könnte, käme vielleicht etwas heraus - aber ich bezweifle es. Wenda verrät nichts. Sie hat zu viel Angst. Sie steckt zu tief in der Sache, außerdem hat sie einen schicken

neuen Freund.« »Lewis Slesser«, sagte Stacker. Mary Randall richtete sich auf. »Wie interessant! Lew Slesser...?« »Kennen Sie ihn?«, fragte Flagg. Sie nickte. »Lewis Slesser ist einer von Creeds Mandanten. Ich kenne ihn ganz gut.« Sie schwieg einen Augenblick. »Erst gestern habe ich etwas Interessantes über ihn gehört.« »Und was wäre das?« »Haben Sie je von Mrs. Rutter gehört?«' »Die Frau des alten Ezra Rutter?«, fragte Flagg interessiert. Sie nickte. »Ich habe sie gestern kennengelernt. Sie war Mr. Rutters zweite Frau. Seine erste Frau war Witwe, und Lewis Slesser war ihr Sohn.« Stacker war erstaunt. »Das wusste ich nicht. Ich habe sogar einmal versucht, die alte Dame zu sprechen...« Mary lachte. »Im Grunde ist sie keine alte Dame. Ich würde sie auf nicht älter als fünfzig schätzen. Bestimmt nicht viel mehr. Sie sieht nicht einmal alt aus, nur ungeheuer gebrechlich.« Flagg hatte seine Zigarre beiseitegelegt. Seine blauen Augen blickten lebhafter, als Mary das bisher je hatte beobachten können. »Das ist interessant, Miss Randall. Der alte Mr. Rutter war also der Stiefvater von diesem Slesser?« »Das sagt jedenfalls Mrs. Martin.« Mary überlegte einen Moment. »Sie sagte sogar, dass der alte Mr. Rutter ihn sehr gern gehabt hätte.« Flagg rieb sich nachdenklich sein schweres Kinn. »Also ist die gegenwärtige Mrs. Rutter so eine Art Stiefmutter?« »Ich nehme an.«

»Nun, das war sehr aufschlussreich«, sagte Flagg. »Wenn Sie fertig sind, Stacker, fahren wir zurück.« Auf der Fahrt nach Scotland Yard schwieg er, was Stacker nur recht war, da er seine eigenen Probleme zu wälzen hatte. Als sie ankamen, lag eine Meldung von Meredith vor, die besagte, er käme mit Wenda nach London zurück. Sie hatte widerstandslos zugestimmt, ihn zu begleiten, jedoch hatte sie keine befriedigende Erklärung abgegeben. Um sechs Uhr erschien sie amüsiert im Yard. »Nun, Sergeant, worüber regen Sie sich auf! Kann eine Frau nicht mal wegfahren, um einen Freund zu besuchen, ohne dass eine Horde von Polizisten hinter ihr her trabt?« »Der Freund, der Ihnen gesagt hat, Sie sollten nach Aberdeen fahren, war Hamilton Creed. Das weiß ich, weil Sie beobachtet worden sind, seit Sie Mary Randalls Wohnung verlassen haben. Sie trugen Miss Randalls Mantel. Meredith sagt, Sie hätten ihn im Zug zurückgelassen. Das war dumm, Wenda, denn Miss Randall kann ihn identifizieren. Ich glaube, es reicht, um Sie einzubuchten.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben überhaupt nichts, Sergeant. Nein, ich habe keine Angst vor Ihrem Bluff. Wenn Sie mich brauchen, wissen Sie, wo ich zu finden bin.« Stacker sah zu, wie sie aus seinem Büro rauschte, dann drückte er auf die Klingel, die auf seinem Schreibtisch stand, und als ein Constable erschien, sagte er: »Bringen Sie mir die Akte von Hamilton Creed.« Der Mann kehrte mit einem dicken Schnellhefter zurück und legte ihn auf den Schreibtisch. Darauf stand in Stackers Handschrift: Streng Vertraulich!

Er öffnete ihn und verbrachte die nächste halbe Stunde damit, durch die vielen Papiere, Zeitungsausschnitte und Auf Zeichnungen, die den Anwalt betrafen, zu blättern. Dazwischen befand sich ein kleines Blatt, auf das der verstorbene Mackay in seiner sauberen Handschrift eine kurze Zusammenfassung von Creeds Leben niedergeschrieben hatte. Dieses nahm er auf und las es durch:

Hamilton Cranleigh Creed, Dr. jur. Geboren 1894 in Jeyley, Oxfordshire - Sohn von Edward Creed, Lehrer. Mutter starb bei der Geburt. Creed bekam ein Stipendium in Oxford, später Jurastudium in London. Praxis in Leeds, Liverpool und London. Trat 1932 in die Kanzlei von Bosanquet. Brown & Barcebridge ein. (Die Kanzlei existierte praktisch nicht mehr, der einzige Überlebende, J. B. Brown, stand am Rande des Bankrotts.) Creed hat einige Erfahrungen an den Landgerichten gesammelt, ist aber kaum in London vor Gericht aufgetreten. Er hat sich hauptsächlich auf Gesellschaftsrecht spezialisiert, in dem er, wie ich höre, als Kapazität gilt. Es war mir unmöglich, Creed in irgendeiner Form Missbrauch bei seiner anwaltschaftlichen Tätigkeit nachzuweisen. Besitzt gewisse Kontakte zu den meisten kriminellen Vereinigungen in London. Er ist ein ausgezeichneter Wissenschaftler und sehr sprachbegabt. Er spricht fließend deutsch und französisch und kann sich auf Russisch und Italienisch verständlich machen. Inspektor Willer, früher bei der Spezialbranche, meint, er habe in enger Verbindung mit Kranz und Froedell, den politischen Attentätern, gestanden. Creed hat nur wenige Mandanten. Unter diesen ist Martha Rutter, Witwe von Ezra Rutter, der vor einigen Jahren gestorben ist, die wichtigste. Auf Grund meiner Informationen glaube ich, dass Creed die meisten ihrer Geschäfte wahrnimmt. Sie ist seit einigen Jahren krank. Ich habe oft überlegt, inwieweit Creed über sie bestimmt. Creed ist ein Spielen Zwei aufeinanderfolgende Jahre hat er enorme Summen in Monte Carlo verloren.

Hier endete Inspektor Mackays Niederschrift, doch hatte Stacker selbst einige Notizen hinzugefügt. Eine Tatsache wunderte ihn ebenso wie schon zuvor Mackay. Wie hatte Creed es fertiggebracht, das Vertrauen eines so bedeutenden Mannes wie Ezra Rutter zu gewinnen? Wer war mit der Rechtsvertretung des alten Mannes betraut gewesen, bevor Creed auftauchte? Hier lagen Probleme, die er nicht lösen und über die er keine Informationen bekommen konnte. Irgendwo musste es einen Schlüssel zu Creeds Vergangenheit geben. Irgendwo musste auch ein Schlüssel zur Gegenwart zu finden sein.

Er legte das Blatt in den Schnellhefter zurück, erledigte seine Routinearbeit und begab sich dann zu einem verspäteten Mahl. Als er dann eben in Richtung West End aufbrechen wollte, betrat ein atemloser junger Beamter das Restaurant. Er sah ihn und kam erleichtert auf ihn zu. »Ich dachte schon, dass ich Sie hier treffen werde, Sir. Inspektor Flagg schickt mich, weil eine Nachricht für Sie gekommen ist, die er auf gemacht hat.« »Zeigen Sie her.« Der Mann zog einen Umschlag heraus. Darin befand sich ein einziges Blatt, auf das Stacker lange Zeit blickte:

Sergeant Jeffries meldet, dass heute um 15.00 Uhr Margaret Martin, Witwe, Haushälterin des verstorbenen Ezra Rutter, Exeter Square, von einem Wagen, der nicht anhielt, überfahren und schwer verletzt worden ist. 17.10 Uhr ist sie im Wellwood-Krankenhaus gestorben.

Sergeant Stacker holte tief Luft. Hier war das gesuchte Glied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Wenn die Namenlosen die alte Frau bisher in ihre Kalkulation nicht einbezogen hatten, so hatten sie jetzt dieses Versäumnis nachgeholt.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Als Wenda le Seur ihre Wohnung erreichte, fand sie sie leer. Dolly hatte während ihrer Abwesenheit anderswo geschlafen und wusste noch nichts von ihrer Rückkehr. Sie war froh darüber, da sie noch etwas vorhatte, wobei sie nicht gern beobachtet werden wollte. Sie ging zum Telefon und wählte. Lewis Slesser war erstaunt, sie zu hören. »Du bist schon zurück, Süße? Ich dachte...«

»Egal, was du gedacht hast, Lew«, begann sie. »Ich möchte dich sprechen. Kannst du herüberkommen? Ja sofort.« »Natürlich. Ich nehme mir gleich ein Taxi.« Sie hing ein und merkte zum ersten Mal, dass sie Hunger hatte. Sie ging in ihre Kochnische und warf einen Blick auf die Vorräte. Viel war nicht da, aber Eier und Tomaten waren vorhanden, und so bereitete sie sich ein Omelett und brühte eben Kaffee auf, als sie draußen einen Wagen halten hörte. Lewis Slesser kam voller Hochstimmung herein. »Wann bist du angekommen, Liebling? Ich wusste nicht...« Sie unterbrach ihn. »Lew, spar dir die Fragen. Jetzt möchte ich erst mal reden, es ist sehr wichtig. Hörst du mir zu?« Er sah sie erstaunt an. »Aber, Süße, ich begreife dich nicht. Was ist iert?« Und dann kam in seine Augen ein kleines Leuchten. »Erzähle mir nur nicht, dass der alte Creed dahintergekommen ist - ich meine, hinter unsere Sache!« Sie schüttelte beinahe gereizt den Kopf. »Darum geht es nicht, Lew. Ich möchte mit dir über etwas reden, worüber wir noch nie geredet haben. Über Mrs. Rutter!« Sie sah, wie er den Mund zusammenkniff und ein merkwürdig misstrauischer Blich in seine Augen trat. »Was ist mit ihr?« »Du kannst sie nicht sonderlich leiden, nicht wahr, Lew?« Er schüttelte den Kopf. »Das stimmt. Ich kann die alte Dame nicht ausstehen. Als Kind hatte ich eine Mordsangst vor ihr. Ich habe sie nicht oft gesehen, denn ich habe sie gemieden wie die Pest.« Sie sah ihn ruhig an. »Warum hast du behauptet, sie sei nur eine weitentfernte Verwandte, Lew? Warum hast du mir nicht erzählt, dass sie eine Art Stiefmutter von dir ist?« Er blickte von ihr weg, und sie bemerkte, dass er intensiv nachdachte. »Ich weiß nicht, wie du dahintergekommen bist. Aber es stimmt. An meine eigene Mutter kann ich mich nicht genau erinnern - nur ganz undeutlich. Aber Martha Rutter

hat mir immer Angst eingejagt. Die Frau ist ein richtiger Teufel.« Sie war etwas ungläubig. »Teuflisch kam sie mir nun nicht gerade vor, Lew. Die Frau hat doch gar keine Energie.« »Für mich war sie auf jeden Fall ausreichend teuflisch; und das war sie auch für den alten Herrn. Er hatte Angst vor ihr. Ich weiß, dass er...« »Welcher alte Herr? Oh, Mr. Rutter?« In ihre Augen trat ein Ausdruck von Gerissenheit. »Ich hatte ihn im Moment vergessen. Natürlich hast du ihn auch gekannt.« Er schüttelte den Kopf. »Da irrst du dich. Ich habe ihn kaum gesehen. Als Kind war ich viel zu Hause, und er war sehr nett zu mir, aber danach ging ich zur Schule und habe ihn nur ein- oder zweimal gesehen. Ich kann mich kaum erinnern. Es ist alles so lange her.« Sie schwieg einen Augenblick, dann: »Aber du hast Mrs. Rutter doch vor kurzem besucht?« Er nickte. Creed wollte es. Ein- oder zweimal veranlasste sie mich, Papiere zu unterschreiben. Sie war doch eine Art Treuhänderin für das Vermögen meines Onkels.« »Welches Onkels?« Er sah sie ängstlich an. »Hör mal, Wenda, für mich ist das Ganze zu kompliziert. Ich habe keinerlei Begabung für Geschäftliches, Süße. Creed kümmert sich sowieso um alle diese Sachen. Ich kann den Kerl ebenso wenig leiden wie du, aber er ist ein erstklassiger Geschäftsmann, genauso wie dieser Bosanquet - und demnächst werde ich mich auch mit ihm unterhalten. Creed arrangiert das für mich.« Sie blieb lange schweigend sitzen. Dahinter steckt mehr, als sie zu begreifen vermochte - so viel, dass sie der Gedanke daran erschreckte. Plötzlich nickte sie: »Gut, Lew. Ich will nicht weiter fragen. Und jetzt kannst du mich ausführen. Ich möchte in einen Klub gehen und tanzen.« »Fein! Gehen wir ins Victory. Dort gibt es eine neue Show. Zieh dich um, Süße!«

Sie lachte, doch das Lachen klang hart. »Schön, Lew. Du brauchst nicht lange zu warten, aber noch eine Frage...« »Was möchtest du wissen?« »Wer war der Onkel, der dir das Geld hinterließ?« »Der Bruder meines Vaters, Arnold Slesser. Er war ein recht wohlhabender alter Knabe. Creed hat mir oft von ihm erzählt. Warum fragst du?« »Neugier«, sagte sie und ging, sich umzuziehen. Als sie zurückkam, stand er am Fenster und blickte auf die Straße. »Ich habe ein Taxi angerufen«, sagte er. »Es muss gleich kommen.« Sie trat zu ihm, sah auf die Straße hinaus und straffte sich plötzlich. Hundert Meter entfernt sah sie die Silhouette eines Mannes, zu dem in diesem Augenblick ein zweiter trat. Lew Slesser hatte den Mann ebenfalls gesehen. »Der wartet auf jemanden«, meinte er. »Der stand schon da, als ich heraufkam. Sieht aus wie ein Polizist im Sonntagsanzug.« »Ein Polizist?« Irgendwie fühlte sie eine Erleichterung, die sie im Allgemeinen beim Anblick eines Polizeibeamten nicht verspürte. Dann sah sie die Scheinwerfer des Taxis näher kommen und vor ihrer Haustür halten.

Das Victory war überfüllt, trotzdem fanden sie noch einen Tisch. Bei dem Lachen und der Musik kehrte ihre Unbekümmertheit wieder. Sie tanzten ein paar Tänze und tranken ein paar Gläser, und danach sah alles ganz anders aus. Morgen sollte Lew zu Creed gehen und ihm die Wahr« heit sagen. Creed würde wütend sein, aber nach einigem Nachdenken würde er angesichts der Sachlage nachgeben. Ihre gehobene Stimmung wuchs. Creed war klug, aber nicht klüger als sie. Von dem Augenblick an, wo ihr die große Idee gekommen war, hatte sie sie unbeirrbar verfolgt. Sie entsann sich ihrer Überlegungen in Battery House. Lews Foto in Martha Rutters Zimmer hatte sie auf den Gedanken gebracht. Und jetzt -

Lew redete auf sie ein. Sie hörte, wie er sagte: »Na so was! Sie hier? Wie geht’s, alter Junge?« »Ausgezeichnet«, sagte Creed. »Lewis, ich möchte ein paar Worte mit Wenda sprechen. Geschäftlich. Haben Sie was dagegen?« Einen Augenblick lang kämpfte Lew mit sich, diese Aufforderung abzulehnen, doch Creed war durchaus in der Lage, mit so einer Weigerung fertig zu werden. Sie sah, wie sich Slesser widerstrebend zurückzog, und blickte dann zu dem Anwalt auf. »Was wollen Sie, Mr. Creed?« Seine schwarzen Augen waren hart wie Kristall. »Ich möchte eine Erklärung von Ihnen, Mrs. Slesser«, sagte er. Mrs. - Lewis Slesser!« Und in seiner Stimme lag der kalte Hauch des Todes.

Vierundzwanzigstes Kapitel

Mrs. Lewis Slesser! Sekundenlang spürte sie, wie ihr das Blut in den Schläfen pochte. Creed hatte ihr Geheimnis entdeckt! Er kannte es - also erriet er womöglich auch den Rest. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, und sie versuchte, mit einer verzweifelten Geste zu protestieren. »Mrs. Slesser? Was meinen Sie damit, Mr. Creed?« Er lächelte noch breiter. »Sie sind unternehmungslustig, Wenda. Sie haben vor genau drei Monaten Lewis Slesser mit einer Sondergenehmigung geheiratet.« Seine Stimme klang gelassen, aber sie spürte die Wut, die dahintersteckte. »Das ist seltsam - höchst seltsam.« Sie holte tief Atem. »Was ist daran seltsam?« Er legte die kleinen plumpen Hände auf den Tisch und sah Wenda an. »Weil Sie Lewis Slesser schon lange kennen. Zwei Jahre, soviel ich weiß. Und trotzdem haben Sie bis vor kurzem keinerlei Interesse an dem jungen Mann gezeigt. Das

kam erst, als Sie entdeckten, dass er ein - Freund von Mrs. Rutter ist.« Creed seufzte schwer. »Natürlich wird es - Schwierigkeiten geben. Sie wissen das hoffentlich. Schließlich bringt das Eheleben Verantwortung mit sich. Ich glaube nicht, dass Ihnen Slesser mit dieser Heirat etwas Gutes angetan hat. Im Gegenteil, würde ich denken. Aber davon sprechen wir später.« Sie rührte sich nicht und sah ihn an. »Im Augenblick möchte ich Ihnen empfehlen, sehr vorsichtig zu sein«, sagte er. »Sie haben sich in größere Gefahr begeben, als Sie wissen, Wenda, denn wenn Sie sich den Namenlosen in den Weg stellen, werden sowohl Sie wie Slesser vom Erdboden verschwinden, als hätten Sie nie existiert. - Wieviel Menschen wissen von dieser - Romanze?« Sie gab keine Antwort, und er grinste. »Ich verstehe, niemand. Es ist ein Geheimnis, wie? Das soll es auch bleiben.« Er beobachtete die tanzenden Paare. »Ich nehme an, Sie haben Slesser nichts von Ihren früheren Unternehmungen erzählt?« »Nein, Mr. Creed, das habe ich nicht.« Sie griff nach ihrem Weinglas. Ihr Mund war trocken. »Ich habe ihm nichts erzählt.« »Haben Sie ihn irgendetwas gefragt?«, sagte er rasch, und sie gab keine Antwort. »Ich verstehe«, sagte er. »Wie gesagt, Sie sind sehr unternehmungslustig, Wenda. Sie haben eine schwierige Situation heraufbeschworen; es wäre so leicht zu...« Er unterbrach sich, als er sich plötzlich einer neben ihm stehenden Gestalt bewusst wurde. Wenda sah auf, und nie in ihrem Leben war ihr Sergeant Stacker mehr willkommen gewesen. »Guten Abend, Mr. Stacker«, sagte sie, und der magere Mann nickte. »Wie nett! Im trauten Verein die beiden Menschen, die ich suche wie sonst niemanden auf der Welt.« Er strahlte den Anwalt an. »Ich habe Sie schon den ganzen Tag sprechen wollen, Mr. Creed, Als ich in Ihr Büro kam, waren Sie nicht da...« »Sie haben den jungen Mr. Bosanquet gesprochen?«, fragte Creed glatt.

Stacker seufzte. »Stimmt. Er sagte mir, Sie seien hier. Also bin ich gekommen.« Lewis Slesser näherte sich dem Tisch. Stacker beobachtete ihn und sagte: »Wenda, sagen Sie Ihrem Freund, er soll sich etwas zu trinken holen.« Sie sah ihm geradewegs in die Augen. »Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, Stacker, können Sie es auch in Gegenwart meines Mannes tun.« Stacker fiel das Kinn herunter. »Ihres Mannes? Slesser? Wann hat denn dieses interessante gesellschaftliche Ereignis stattgefunden?« Sie lachte leise. »Vor kurzem erst. Ich bin noch in den Flitterwochen.« Stacker rieb sich nachdenklich die Nase. »Das freut mich zu hören, Wenda. Ich halte viel von der Ehe. Sie gibt den Scheidungsrichtern Arbeit und macht den Anwälten Freude.« Er sah den schweigenden jungen Mann an. »Nun, Mr. Slesser, ich möchte Ihnen gratulieren. Ich kenne Wenda schon lange. Ich glaube bestimmt, Sie werden beide glücklich miteinander.« Lew Slesser war ein wenig verlegen. »Danke, alter Junge. Wie wäre es mit etwas zu trinken?« »Na ja, in diesem Falle -. Ist das in der großen Flasche Champagner?« Creed erhob sich wortlos von seinem Platz. Er ging zur Tür und sah sich von dort um, und trotz des Lächelns in seinem Gesicht tobte er innerlich vor Wut. Er ging nach unten und betrat eine buntdekorierte Telefonzelle. Dort wählte er eine Nummer und wartete. Gleich darauf hörte er Seldens vertraute kalte Stimme. »Ich bin im Victory«, sagte er. »Holen Sie mich in zehn Minuten ab.« Selden war etwas im Zweifel. »Ich will mein Bestes versuchen.« Er ging zurück in den Saal, wo Sergeant Stacker erstaunt sagte: »Ich dachte, Sie wären weggegangen, Mr. Creed. Wir trinken auf das Wohl der jungen Ehefrau. Trinken Sie mit?« Wenda war ein wenig nervös. »Mr. Creed hat mir schon gratuliert.« »Das kann ich mir denken«, sagte Stacker. »So viel Aufregung an einem Tag.

Das Tempo wird langsam zu viel für mich. Wollen Sie schon wieder gehen, Mr. Creed?« Creed seufzte. »Tut mir leid, Stacker, ja. Ich muss in mein - Büro zurück.« Er sah auf Wenda. »Vielleicht kommen Sie und Mr. Slesser morgen einmal zu einer kleinen Besprechung vorbei.« Er sprach gleichmütig, aber man hörte den Unterton von Bösartigkeit. »Ja, natürlich, Mr. Creed.« »Ich erwarte Sie also«, sagte er freundlich. »Gute Nacht.« Sie sahen ihm nach, als er hinausging, und Stacker entschuldigte sich. »Ich behalte Creed lieber im Auge«, sagte er sanft. Er ging in die große Halle hinunter und sah sich um, aber von dem Anwalt war keine Spur mehr zu sehen. Ein freundlicher Mann im Abendanzug kam auf ihn zu. »Creed ist hinausgegangen«, sagte er. Er war mit dem Anzünden einer Zigarre beschäftigt. »Vor zwanzig Minuten kam er herunter und führte ein Telefongespräch.« Stacker grinste. »Sehen Sie sich noch etwas um. Dann folgen Sie der le Seur. Begleiten Sie sie bis nach Hause.« Stacker trat hinaus. Ein feiner Nieselregen fiel, und ein kalter Wind war aufgekommen. Nachdenklich und düster machte er sich auf den Weg nach Whitehall. Im Gehen überdachte er die Probleme dieses ereignisreichen Tages. Creed war beunruhigt, das hatte er deutlich gemerkt. Das Unternehmen gegen Mary Randall war ein Fehler gewesen. Vielleicht, wenn... Wumm! Wumm! Die beiden Schüsse folgten so rasch aufeinander, dass sie in einen einzigen zu verschmelzen schienen. Etwas feurig Rotes flog an Stackers Schulter vorbei, und in der nächsten Sekunde fiel er auf das nasse Pflaster. Der Wagen, der an ihm vorbeigefahren war, raste weiter. Er sah, wie er in die nächste Straße einbog, und dann hörte er den schrillen Ton einer Polizeipfeife. Als ein uniformierter Constable herbeigerannt kam, stand er, die eine Hand

gegen die Schulter gepresst, aufrecht da. »Haben Sie Schüsse gehört?« fragte der Mann erregt. »Gehört und gespürt«, sagte Sergeant Stacker und fügte einige Flüche hinzu, die er sonst für den privaten Gebrauch zurückhielt. »Gehen Sie ans Telefon, Burton, damit der Wagen aufgehalten wird. Er ist nach links abgebogen...« Ein anderer Constable war hinzugetreten. »Sind Sie verwundet, Sergeant? Ich habe die Schüsse gehört, aber den Wagen nicht gesehen...« »Bringen Sie mich hinein«, sagte Stacker, »bevor es eine Menschenansammlung gibt. Ich kann im Augenblick keine Menschenansammlungen leiden und habe auch allen Grund dazu.« Ein paar Minuten später befand er sich in seinem Zimmer, und ein Polizeichirurg untersuchte seine Wunde; es war nicht mehr als ein langer Streifschuss über die Schulter. Der Arzt war zufrieden. »Das wird Ihnen keine Scherereien machen, Stacker. Ich verbinde Sie jetzt.« Später ging Stacker zu Chefinspektor Flagg und traf den stämmigen Mann, in einem kleinen schwarzen Buch lesend, an. »Man hat mir erzählt, Sie seien tot«, sagte er. »Das hat mir leid getan.« Sergeant Stacker knurrte. »Beinahe wäre es soweit gewesen, und beabsichtigt war es. Diese Kerle werden wieder frech. Auf diese Weise haben sie Mackay erledigt, und das in dem Augenblick, als er anfing, gefährlich zu werden. Einerseits ist es schmeichelhaft, Mr. Flagg. Das haben sie bisher bei mir noch nicht versucht. Allerdings lege ich auch keinen weiteren Wert darauf.« Flagg legte sein Buch nieder. »Wer hat auf Sie geschossen?« Stacker runzelte die Stirn. »Das weiß ich nicht. Ich habe kaum den Wagen gesehen.« Er schilderte, was iert war, und Flagg hörte kommentarlos zu. Als Stacker geendet hatte, sagte er: »Kann ich Ihr Telefon benutzen, Mr. Flagg?« Er ließ sich mit dem diensthabenden Inspektor der motorisierten Streife verbinden. »Hier Sergeant Stacker, Sir. Würden Sie bitte Ihren nächsten Wagen in die Wood Street schicken und Ihre Leute Hamilton Creed beobachten lassen?

Ich möchte gern wissen, ob er in seinem Büro ist.« Inspektor McKellar war erstaunt. »Von wo sprechen Sie, Stacker? Ich habe gehört, Sie seien tot.« »Das ist ein Gerücht«, sagte Stacker beleidigt. »Jedenfalls bin ich bei Inspektor Flagg, und in einer anständigeren Gesellschaft kann ich mich wohl kaum aufhalten.« Er hing ein, und Flagg betrachtete ihn interessiert. »Glauben Sie, dass Creed zu dieser Nachtzeit in seinem Büro ist?« Stacker nickte. »Seltsamerweise, ja. Als wir uns heute Abend trennten, wollte er noch arbeiten. Das hat er mir gesagt, und ich nehme an, dass er damit ein Alibi vorbereiten wollte. Allerdings habe ich nicht gedacht, dass er es in Bezug auf mich zu benutzen gedachte.« Inspektor Flagg war beeindruckt. »Der Bursche denkt an alles. Ich habe einen Mann ins Wellwood-Krankenhaus geschickt, um sich nach der alten Frau zu erkundigen. Sie hat keinen Augenblick das Bewusstsein wiedererlangt. Wetten, dass Creed sich selbst verflucht hat, weil er alles so lange hinausschob? Ich verstehe überhaupt nicht, warum er sich ihrer nicht schon seit langem entledigt hat.« »Sie halten sie für so wichtig?« Flagg grinste. »Sie ist die einzige wichtige Zeugin, die sie überhaupt gehabt haben«, sagte er. »Ich wette, dass die alte Frau genügend über Creed gewusst hat, um ihn baumeln zu lassen. Und jetzt ist sie tot - bleibt nur noch das RandallMädchen. Sie ist die einzige, die sich mit ihr unterhalten hat, und...« Stacker schnippte mit den Fingern. »Wenn die Namenlosen morden, dann ist keine der Frauen sicher. Wenda kommt morgen zu mir. Ich habe eine Überraschung für Sie, Inspektor. Wenda ist verheiratet. Das habe ich heute erfahren. Sie hat den jungen Slesser geheiratet - den Sohn von Ezra Rutters erster Frau.« Das Telefon läutete, und Stacker griff nach dem Hörer. »Hier McKellar - ich habe einen Wagen in die Wood Street geschickt, um nach Creed zu sehen. Sie haben ihn gefunden. Sie kommen besser her und sehen sich

die Bescherung an. Sie sagen, sie hätten noch nie einen so toten Mann gesehen!« Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Schweigen. Sergeant Stacker holte tief Atem. »Tot?« »Tot«, versicherte McKellar. »Zwei Stiche in der Brust.«

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Der Gerichtsarzt war bereits da, als Inspektor Flagg und Sergeant Stacker in der Wood Street dem Streifenwagen entstiegen; Dr. Sayle war mit intensiver Untersuchung beschäftigt. Zwei motorisierte Polizeibeamte standen in dem großen Raum, an der Tür ein Constable. Inspektor Appleby begrüßte sie erleichtert, konnte aber nur mit wenigen Tatsachen aufwarten. »Creed kam gegen Mitternacht. Dawson sah die Lichter angehen, und wegen des Zwischenfalls neulich, war er misstrauisch und läutete. Creed kam selbst herunter. Stimmt das, Dawson?« Der Constable stimmte zu. »Es war gegen zwölf Uhr zehn, Sir. Ich sah auf meine Uhr, weil ich es merkwürdig fand, dass er so spät noch hier war.« »Was sagte Creed?« »Er sagte, er würde noch bis zum Morgen arbeiten, Sir. Ich bin weggegangen und hörte, wie er nach oben ging.« »Hat er die Tür abgeschlossen?«, fragte Flagg. Dawson wusste genau, dass dies nicht der Fall gewesen war. »Sie war nicht abgeschlossen, als ich kam. Mir fiel auf, dass er nur auf die Klinke drückte, und er hat sie auch nicht abgeschlossen, als ich ging.« Der Arzt kam jetzt aus dem Zimmer und nickte kurz. »Ich bin fertig, meine

Herren, - bis zur Leichenschau. Jetzt sind Sie an der Reihe.« Stacker seufzte leise. »Was für ein Tag! Die besten Leute werden ermordet oder beinahe ermordet!« Seine eigene Wunde schmerzte ihn jetzt beträchtlich, und er spürte eine lähmende Müdigkeit. »Er ist erstochen worden, höre ich. War er sofort tot?« Dr. Sayle nickte. »Ich denke, ja. Es sind zwei Wunden. Das Messer steckt noch drin. Ich bin noch nicht ganz sicher, bis ich die Leichenschau vorgenommen habe, aber ich würde sagen, dass beide Stiche wahrscheinlich in die linke Herzschlagader eingedrungen sind. Es ist nicht viel Blut zu sehen, da die Blutung sicher innerlich ist.« Sie gingen in das Zimmer, in dem Creed im Leben seine Geschäfte abgewickelt hatte. Der Anwalt lag auf dem Boden, und das Messer war nicht aus der Wunde gezogen, genau wie Sayle gesagt hatte. Appleby lenkte ihre Aufmerksamkeit darauf. »Der Doktor meinte, Sie würden vielleicht gern die Stellung des Messers sehen.« Es war ein langes Messer mit schmaler Klinge, sehr scharf und aus bestem Stahl. Stacker zog es heraus, wobei er ein Taschentuch gebrauchte, und legte es auf den Schreibtisch. Es war leicht zu erkennen, dass der Anwalt gearbeitet hatte, als der Mörder zu ihm kam. Flagg hatte das Zimmer verlassen, jetzt kam er zurück und öffnete die Schubladen des großen Schreibtisches. Plötzlich stieß er einen erstaunten Ruf aus. »Hallo! - Was ist das?« Er hob ein Telefon heraus und entdeckte nach einiger Untersuchung, dass die Leitung hinten durch den Schreibtisch bis zur Wand lief. Einen Augenblick lang war er erstaunt. »Wie ein Feldtelefon. Wo mag das hinführen?« Er verfolgte es bis zum Fenster, und dann hörte Stacker, wie er mit den Fingern schnappte. »Natürlich - daran hätte ich denken müssen: Brennan and Spencer. Auf diese Weise stand er mit den Burschen in Verbindung. Hagan und Balder saßen am anderen Ende.« Stacker lehnte sich zurück und sah seinen Vorgesetzten fragend an. »Ich habe seine Taschen durchsucht, Mr. Flagg. Ich habe nichts Besonderes gefunden -

außer dem hier.« Er hielt einen kleinen Schlüssel hoch, den Flagg untersuchte. »Sieht wie ein Schlüssel zu einem Schließfach aus.« »Natürlich - das ist es. Ein Banksafe. Bei welcher Bank mag Creed es unterhalten haben?« Er trat zum Schreibtisch und durchsuchte die Papiere, aber es fand sich wenig, was einen Hinweis hätte geben können. Er stieß die Schubladen wieder zu. »Ich glaube, wir können bis morgen damit warten, Mr. Flagg. Wir holen uns dann das Mädchen zu Hilfe. Schließlich hat sie seit neun Monaten das Büro betreut, und sie muss einiges über seine privaten Angelegenheiten wissen.« Das war einleuchtend, und Flagg nickte. »Ich glaube, Sie haben recht. Und jetzt gehen Sie besser nach Hause.« Stacker gähnte, als er sich erhob.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Stacker griff nach dem Telefon und sprach einige Augenblicke später mit MacGill. Dieser hatte wenig zu berichten. »Gestern Nacht habe ich sie selber bewacht«, sagte er. »Sie ist eine sehr nette junge Dame, aber ich glaube, sie langweilt sich.« Stacker grinste. »Davon will ich sie gern erlösen. Sagen Sie ihr, sie soll ans Telefon kommen.« Mary Randall kam an den Apparat und war entsetzt über die Neuigkeit. »Creed tot! Ermordet! Das kann ich kaum glauben, Mr. Stacker.« »Er hätte schon vor langer Zeit umgebracht werden sollen«, sagte Stacker gefühllos. »Auf jeden Fall habe ich eine Aufgabe für Sie. Ich möchte, dass Sie ins Büro kommen und die Dinge hier in Ordnung bringen. Sie wissen viel mehr über Creed als ich.«

Sie stimmte gern zu, da die aufgezwungene Untätigkeit bereits ihren Reiz eingebüßt hatte. Er hing ein und beorderte einen Wagen mit zwei Beamten, die sie abholen und in Wood Street bewachen sollten. Eine Stunde lang saß er an seinem Schreibtisch, schrieb seine Berichte und las diejenigen, die eingelaufen waren. Es war beinahe Mittag, als er zur Wood Street fuhr, wo er Mary Randall bereits an der Arbeit fand. Bei seinem Eintritt saß sie an Creeds Schreibtisch, vor sich geordnete Stapel von Korrespondenz. Sie freute sich, ihn zu sehen. »Mr. Parker hat mir erzählt, sie wären gestern Abend beinahe erschossen worden. Stimmt das?« »Nur zu wahr. Wenn ich nicht Glück gehabt hätte, wäre ich so tot wie Creed.« Sie schauderte. »Ich habe die Sache durchgesehen«, sagte sie. »Diese ganze Korrespondenz hier ist geschäftlich - und es dreht sich dabei durchwegs um legale Dinge. Eine Menge von Creeds Arbeit war der Verwaltung von Mrs. Rutters Vermögen gewidmet.« »Was ist mit dem Safe?« Sie lächelte leicht. »Es sind in Wirklichkeit zwei Safes. Der große, den Sie sehen, und ein kleiner, der sich im großen befindet. Es dreht-sich dabei nicht um eine Kassette, sondern um einen richtigen kleinen Safe.« »Können Sie ihn öffnen?« »Ich kann den großen Safe öffnen, weil ich den Schlüssel dazu habe. Für den anderen braucht man einen Experten.« »Dafür werde ich schon jemanden finden.« Er hob den Telefonhörer, und nach ein paar Augenblicken hörte sie ihn mit einem Mann namens Steve sprechen. Steve, so nahm sie an, war eine jener etwas fragwürdigen Bekanntschaften, und als Steve eine Stunde später erschien, wurde diese Meinung bestätigt. Stacker stellte ihn schwungvoll vor. »Steve versteht sich auf Safes. Er würde mir jeden Safe im ganzen Land öffnen, wenn er nur die Zeit und Gelegenheit dazu hat.«

Steve war ein kleiner verhutzelter Mann mit verschlagenen Augen, dazu ein Könner. Er hatte einen Werkzeugkasten mitgebracht, den er aber nach Untersuchung des Safes als überflüssig erklärte. Innerhalb von zehn Minuten hatte er seine Arbeit beendet, und die Tür stand offen. Als er gegangen war, meinte Stacker: »Jetzt werden wir uns die Sache ansehen, wenn ich auch nicht glaube, dass etwas Wichtiges darin ist. Dazu war Creed zu klug.« Er richtete eine starke Taschenlampe in das Innere des Safes und holte einen kleinen Metallkasten heraus, der der einzige Inhalt zu sein schien. Er stellte ihn auf den Schreibtisch und betrachtete ihn kritisch. Er war alt, leicht verrostet und mit Klebeband verschlossen. Dieses hatte er in wenigen Sekunden entfernt und den Kasten geöffnet. Im Kasten lagen vier Kontobücher, die er sich interessiert betrachtete. »Sehen Sie sich das an, Miss Randall. Der Mann besaß an vier verschiedenen Banken Konten. Das ist verboten. Sie war leicht erstaunt. »Tatsächlich? Das wusste ich nicht.« »Tausende wissen es nicht«, sagte Stacker heiter. »Die Regierung ist streng dagegen. Die Steuerbehörden glauben, sie würden dann hintergangen.« Er sah die Unterlagen durch und nannte Mary die Endsummen. »Wieviel macht das zusammen, Miss?« Sie rechnete rasch. »Neuntausendvierhundertdreiundneunzig Pfund und achtzehn Shilling«, sagte sie, und Stacker nickte. »Zehntausend Pfund ist eine schöne Summe«, sagte sie. Er war bereit, dem beizupflichten. »Es ist eine fürstliche Summe, aber nicht groß genug, um einen Mann wie Creed zu beeindrucken. Die Namenlosen haben im Laufe der letzten Jahre ihre Hand auf einer Million Pfund gehabt.« Er legte die Bankunterlagen beiseite und griff nach einem anderen Umschlag. Sie hörte, wie er pfiff, und sie sah auf. »Was ist?« Aus einem festen Manilaumschlag zog er drei Pässe, die er nacheinander durchsah. Der erste lautete auf Emmanuel Verity aus Bristol, der zweite auf Geoffrey Learne aus Oxford und der dritte auf Aaron Globler aus Primrose Hill, doch die Fotos stellten alle drei Hamilton Creed aus der Wood Street dar.

»Creed war auf Schwierigkeiten vorbereitet«, sagte er. »Er hätte sich notfalls auf den Kontinent abgesetzt.« Mary hatte ein Inventar des Inhaltes aufgestellt. Jetzt sah sie auf. »Hier ist ein kleiner Schlüssel, Sergeant...« Er nahm ihn und verglich ihn mit dem Schlüssel, den er vorher gefunden hatte. Sie waren identisch. »Sieht so aus wie ein Schlüssel zu einem Schließfach. Die Schwierigkeit ist nur, herauszufinden bei welcher Bank.« »Versuchen wir es bei den Banken«, schlug sie vor, und er war sofort einverstanden. Sie rief sie der Reihe nach an, und bei der City of Benares Bank hatte sie Glück. »Der Geschäftsführer sagte, Mr. Creed hätte ein Schließfach dort«, sagte sie. »Aber vielleicht sprechen Sie selber mit ihm.« Stacker nahm den Hörer. Der Mann wusste von dem Tod des Kunden seiner Bank, da eine kurze Notiz in den Morgenzeitungen gestanden hatte. Stacker stellte eine Frage. Der Geschäftsführer war leicht verwirrt. »Das ist etwas ungewöhnlich«, sagte er. »Normalerweise hätte Mr. Creeds Anwalt die Befugnis...« »Mord ist ebenfalls etwas ungewöhnlich«, meinte Stacker, »und Hamilton Creed war sein eigener Anwalt. Auf jeden Fall kann ich eine richterliche Verfügung erwirken, aber ich möchte so wenig wie möglich von der Sache publik werden lassen. Können Sie mit Ihrem Vorstand reden?« Der Mann versprach, dies zu tun. Als Stacker vor der mächtigen Fassade ankam, war die Zustimmung offensichtlich erteilt worden, denn der Geschäftsführer und ein Angestellter empfingen ihn und führten ihn zu den Bankgewölben, in denen die Depositen lagerten. Der Inhalt des Schließfachs erwies sich als ein kleines, in starkes braunes Papier gewickeltes Paket, das dick mit Wachs versiegelt war. Sie erbrachen das Siegel, aber es befand sich nichts Besonderes in dem Paket; der ganze Inhalt bestand aus einigen Briefen, die an Creed adressiert waren und einem gelblichen Dokument,

auf dessen Außenseite geschrieben stand:

Letzter Wille und Testament von Ezra Rutter

Stacker nahm es auf und reichte es dem Geschäftsführer, doch dieser war nicht interessiert. »Das ist Rutters Testament. Ich habe es schon gesehen.« Es stellte sich heraus, dass Creed einmal seinen Rat wegen einer finanziellen Transaktion eingeholt hatte, wobei eine Kopie des Testaments vorgelegt worden war - jetzt legte er es beiseite. Die Briefe waren interessanter. Es waren Liebesbriefe, wenn auch sehr gemäßigte. Im Ganzen waren es sieben, und er nahm einen davon und las ihn.

Elmdene, Long Relford, 8. April Mein liebster Hamilton! Ich habe Deinen Brief bekommen, wenn auch zu spät, um ihn gestern noch beantworten zu können. Halliday war den ganzen Tag da und ging mir auf die Nerven. Ich habe in letzter Zeit mehr und mehr über unsere Idee nachgedacht. Ich persönlich habe keine Einwände. Einwände könnten aber von einer anderen Seite kommen. Du hast mir die Neuigkeit über Reeder und Sprone nicht rechtzeitig genug mitgeteilt, um von Nutzen zu sein, und ich ersehe aus der Zeitung, dass ich durch Deine Nachlässigkeit bereits Verluste gehabt habe. Wirklich, Hamilton, Du darfst nicht so nachlässig sein. Wie Du selbstverständlich weißt, vermisse ich Dich und freue mich auf unser nächstes Wiedersehen. Aber, wie Du auch sagst, es ist besser vorsichtig zu sein. Ich muss schließen, weil die Herren aufgehört haben, zu reden, und ich erwarte, dass sie zu mir kommen. Immer Deine Anna.

Er kratzte sich auf dem Kopf. Wer war diese geschäftstüchtige Anna? Er reichte den Brief Mr. Digby, dem Geschäftsführer, und dieser las ihn mit steigendem Interesse. »Reeder und Sprone! Natürlich!« Stacker sah auf. »Wer ist das?« »Das sind die ältesten und besten Börsenmakler in London. Und ich würde denken, dass der hier erwähnte Halliday wahrscheinlich Sir Galvin Halliday gewesen ist. Er ist vor ungefähr fünfzehn Jahren gestorben. Dieser Brief ist wahrscheinlich vor zwanzig Jahren geschrieben.« Stacker, der die Umschläge betrachtet hatte, sah auf. »Genau vor zwanzig Jahren. Sie haben Creed diese Anna niemals erwähnen hören?« Digby schüttelte den Kopf. »Unglücklicherweise nicht. Creed war nicht der Typ, der über seine Privatangelegenheiten sprach. Schade, dass die Unterschrift nicht vollständig ist.« Stacker grinste. »Wir haben wenigstens die Adresse. Möglich, dass wir sie auf diesem Wege finden. Zwanzig Jahre sind keine so lange Zeit...« Er hielt inne, denn etwas war aus dem Umschlag geflattert, und er bückte sich, es aufzuheben. Sekundenlang starrte er darauf. »Eine Heiratsurkunde«, sagte er langsam, »und die Beteiligten heißen Anna de Seckert und Hamilton Cranleigh Creed.«

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Hamilton Creed war also verheiratet! Das war eine mehr als interessante Neuigkeit. Stacker prüfte die Urkunde. Dann gab er sie dem Beamten zurück. »Das kann wichtig sein, Mr. Digby. Mit Ihrer

Erlaubnis lege ich das wieder in das Schließfach zurück - aber zuerst schreibe ich es mir ab.« Digby war interessiert. »Anna de Seckert. Ein sehr ungewöhnlicher Name. Sie kann nicht schwer zu finden sein.« Er überlegte einen Augenblick. »Als ich jung war, gab es ein sehr bekanntes Haus in der City: Darton und de Seckert. Die Firma war im Diamantenhandel tätig. Ja - jetzt erinnere ich mich. De Seckert war ein angesehener Mann. Aber die Firma erlitt im ersten Weltkrieg schwere Verluste. Darton starb damals. Dem alten Herrn ging es in den zwanziger Jahren sehr schlecht.« »Aber von Anna de Seckert haben Sie nie gehört?« »De Seckert war verheiratet. Ob er Familie besaß, kann ich nicht sagen.« »Das ist sehr interessant, Mr. Digby. Darüber werde ich Nachforschungen anstellen. Natürlich werden wir einen Aufruf nach ihr veröffentlichen lassen, und wenn sie noch lebt, werden wir sie wahrscheinlich finden.« Digby hüstelte. »Ich würde annehmen, dass sie lebt. Creed war immerhin Anwalt und in seiner Arbeit methodisch. Sie sehen, wie er diese Briefe und die Heiratsurkunde aufgehoben hat. Wenn sie tot wäre, würden Sie wahrscheinlich auch ihre Sterbeurkunde gefunden haben.« Das war sicherlich richtig. Stacker erhob sich dankbar. Er verließ die Bank, aß in einem kleinen Restaurant und ging von dort aus nach Scotland Yard, wo er sich an einen Schreibtisch setzte und die Neuigkeiten überdachte. Ob Anna de Seckert auftauchen würde? Das war ein Problem, das nur die Zeit lösen konnte. Die Frau konnte im Ausland oder wiederverheiratet sein. Vielleicht wollte sie den Namen Creed vergessen. Stacker erhob sich und ging in das Büro von Inspektor Flagg, der eben eine große Tasse Kaffee aus der Kantine trank und eine lange und eindrucksvoll wirkende Zigarre rauchte. »Haben Sie noch etwas über Creed herausgefunden?«, fragte er. »Ich habe entdeckt, dass er verheiratet war«, erzählte ihm Stacker, und Flagg zeigte sich sofort interessiert. Er hörte zu, was der Sergeant ihm zu erzählen hatte.

»Eine gute Information. Wenn es der gleiche Seckert ist, ist sie sogar sehr gut.« Plötzlich wurden seine kleinen Augen lebhaft. »Jetzt entsinne ich mich selber an den alten Herrn. Ein großer langer Mann, der immer eine Rose im Knopfloch trug. Sie vermuten, Anna war seine Tochter?« »Es besteht die Chance«, sagte Stacker vorsichtig. »Sieht so aus, als stecke hinter den Namenlosen noch etwas mehr, als wir angenommen haben.« Flagg seufzte. »Anna de Seckert wird sich nicht melden. Darauf können Sie sich verlassen.« »Wie kommen Sie darauf?« »Meiner Meinung nach sollten Sie sie nicht durch die Zeitungen suchen lassen. Das wäre ein Fehler. Wenn Creed ermordet worden ist, könnte das für seine Frau höchst ungesund sein. Das überlegen Sie sich besser vorher noch mal.« »Daran habe ich bereits gedacht«, sagte Stacker. »Im Übrigen habe ich einen Mann zum Somerset House geschickt, um die Personenstandseintragungen hinsichtlich der de Seckert nachzuprüfen. Wenn es die gleiche Anna ist, können wir uns die Suchaktion vielleicht sparen.« »Ist das Mädchen noch in der Wood Street?« »Ja. Sie bleibt auch noch ein paar Tage. Sie kennt sich im Büro und mit den Vorgängen aus. Ohne sie käme ich nicht weiter.« Stacker machte eine kleine Pause. »Sie ist durchaus sicher. Zwei Leute vom Funkstreifenkommando bewachen sie, und das sind harte Jungs.« Er verließ den Inspektor, begab sich zur Wood Street und fand dort Mary Randall noch genauso beschäftigt, wie er sie verlassen hatte. Sie blickte auf, als er kam. »Ich habe Besuch gehabt«, erklärte sie. »War es Sutton?« Sie nickte. Ihre Wangen waren leicht gerötet. »Ich habe verschiedentlich von ihm gehört, seit - seit er mich gebracht hat. Er wollte mit mir sprechen. Ich hatte Mühe, die Beamten zu überreden, ihn hereinzulassen.«

»Was hat er erzählt?« Sie dachte nach. »Nicht viel. Er war überrascht, dass Creed tot ist.« Sie seufzte. »Er ist ein aufreibender Mann. Ich begreife ihn einfach nicht.« »Aufreibend ist der richtige Ausdruck«, sagte Stacker. Sie setzte sich jetzt an Creeds Schreibtisch und wechselte rasch das Thema. »Haben Sie Erfolg gehabt?« Er grinste. »Ja. Vielleicht nicht ganz in der Richtung, die ich erwartet habe: Creed war verheiratet.« Sie fuhr erstaunt auf. »Creed?« »Ja.« Und er erzählte ihr von seinem Fund. »Wer war seine Frau?« »Sie hieß Anna de Seckert«, sagte Stacker. »Den Namen habe ich nie gehört. Wer ist sie?« »Das herauszufinden ist eines meiner Probleme«, sagte er. »Ich besitze eine Andeutung von Spur.« Sie schwieg und dachte über diese neueste Nachricht nach. Zwanzig Jahre waren eine lange Zeit. Was war in diesen Jahren mit Anna de Seckert geschehen?

Achtundzwanzigstes Kapitel

Es war schon sehr spät, als Sergeant Stacker müde nach Scotland Yard zurückging, und es wurde noch viel später, bevor er seine Berichte beendet hatte. Zwischendurch klopfte es an seine Tür, und ein junger Beamter kam mit einer Meldung, die er offenbar nur schweren Herzens überbrachte. »Brophey ist fort, Sergeant. Ich habe ihn die ganze Zeit im Auge behalten, seit er

herauskam. Heute Nachmittag ist er mir entwischt.« »Wie ist das iert?« »Es war mein Fehler«, sagte Smithers aufrichtig. »Ich habe mich den ganzen Tag vor seinem Haus aufgehalten, und um sechs Uhr habe ich gesehen, wie von dem Restaurant gegenüber ein Tablett in sein Zimmer gebracht wurde. Er lässt sich alle Mahlzeiten von da kommen. Na ja, und da dachte ich, für eine halbe Stunde wäre er sicher und ich könnte eine Tasse Tee trinken. Ich war keine fünf Minuten fort, aber als ich herauskam, war er am Ende der Hardy Street. Ich raste hinter ihm her, aber ich habe ihn nicht mehr gesehen. - Er muss gewusst haben, dass ich ihn beobachtete.« Stacker nickte. »Brophey hätte einen Mann mit mehr Erfahrungen, als Sie haben, abgeschüttelt. Gehen Sie zur Hardy Street zurück. Falls er zurückkommt, rufen Sie mich an.« Mit leichtem Stirnrunzeln beobachtete er den Mann beim Hinausgehen. Hatte dieser Vorfall etwas zu bedeuten? Seit seiner Verhaftung hatte sich der Ire nicht gerührt. Eine halbe Stunde später hatte er einen zweiten, glanzvolleren Besuch. Wenda Slesser war nervös. Sie betrat halb erleichtert, halb misstrauisch, sein Zimmer, und offensichtlich hatten die Ereignisse des Tages sie erschreckt. Sie sah ihn an. »Creed ist tot! Ermordet! Ich kann es nicht fassen.« »Er ist tot. Machen Sie sich keinen Kummer darum.« Sie zitterte. »Es kommt mir vor, als hätten wir erst vor einer Stunde miteinander gesprochen. Er muss das Victory verlassen und sofort in sein Büro gegangen sein. Man weiß nie, was einem blüht, Sergeant. Wenn ich geahnt hätte...« »Ja. Die Namenlosen sind stärker als Creed«, sagte Stacker. »Und die Polizei ist stärker als die Namenlosen. Wir werden sie jetzt kriegen.« Er drückte auf die Klingel am Schreibtisch und sagte, als ein Beamter erschien: »Suchen Sie Inspektor Flagg.« Flagg erschien ein paar Augenblicke später. »Wenda sagte er jovial, »Wenda Slesser, wie ich höre. Herzlichen Glückwunsch, junge Frau. Und wenn Sie schon einmal hier sind, Wenda, dann möchte ich die Wahrheit von Ihnen hören. Wenn Sie nicht die Wahrheit sagen wollen - dann reden Sie lieber überhaupt nicht.«

Sie schwieg einen Augenblick lang, und Stacker bemerkte ein merkwürdiges Licht in ihren Augen. »Was habe ich davon, Stacker? Das möchte ich gern wissen. Ich soll reden und dann selber in der Tinte sitzen. Ich kenne doch die Polizei. Sie tut alles, nur um jemandem was anhängen zu können. Was habe ich davon, wenn ich rede?« Inspektor Flagg kicherte spöttisch. Er stand auf und schlenderte zum Fenster. Einen Augenblick blieb er stehen und sah in den Hof hinunter. Dann winkte er mit dem Finger. »Kommen Sie her, Wenda.« Sie ging erstaunt zu ihm und er zeigte hinunter. »Sehen Sie den Burschen in dem Ulster - unten am Tor? Das ist ein Mann aus der Zentrale, der Sie in den letzten zwei, drei Tagen nicht aus den Augen gelassen hat. Er folgt Ihnen auf Schritt und Tritt. Wenn Sie einkaufen gehen, bleibt er in der Nähe, wenn Sie auf der Bühne stehen, steht er in der Kulisse. Das ist, was Sie von uns haben: persönlichen Schutz.« Sie wurde weiß bis an die Lippen. »Ich will Ihnen erzählen, alles, was ich weiß«, sagte sie schließlich. »Es ist nicht viel, glaube ich. Creed hat mir nie viel über sich selber erzählt. Aber ich sagte Ihnen, wovor ich Angst habe: Dass Sie es gegen mich vor Gericht verwenden, wenn ich Ihnen von einigen der Dinge erzähle, die iert sind. Das möchte ich unter keinen Umständen, Sergeant.« Stacker wurde nachdenklich: »Ich habe kein gutes Gedächtnis«, gestand er. »Und der Inspektor hat das schlechteste Gedächtnis von ganz Scotland Yard. Wenn Sie uns etwas wirklich Interessantes erzählen, besteht die Chance, dass wir beide vieles vergessen, was Sie uns sonst noch erzählen.« Seine kräftigen Finger trommelten einen Wirbel auf den Schreibtisch. »Wie war das mit dem Hammerdale-Halsband, Wenda? Sie haben es doch genommen?« Sie nickte. »Ja - stimmt. Sutton war an dem Abend dort und traf mich, als ich aus Lady Hammerdales Zimmer kam. Creed hat es dann von mir bekommen. Ich weiß nicht, was danach iert ist. Creed hat mir meinen Anteil dafür gegeben. Er war dabei ziemlich großzügig, ich muss das sagen, weil er sonst ein ausgekochter Geschäftsmann war.« Flagg beobachtete sie genau, »Er hat sich danach Ihrer oft bedient?« »Ja, ziemlich oft. Er hat mir außerdem ein oder zwei Rollen in Shows verschafft.

Creed hatte enorme Beziehungen.« Stacker seufzte. »Was hat er gesagt, als Sutton für Sie ins Gefängnis ging?« Sie zuckte ihre schmalen Schultern. »Creed hat darüber gelacht. Er hielt ihn für einen ritterlichen Idioten. Mir selbst war die Sache gar nicht angenehm. Ich bin an Männer wie Sutton nicht gewöhnt. Die meisten Männer, die ich kenne, überlassen das dicke Ende immer den Frauen.« »Sie kennen Mrs. Rutter, Wenda. Was ist das für eine Frau?« Wenda spitzte die Lippen. »Wenn sie nicht eine Million Pfund besessen hätte, hätte Creed sie wie Dreck behandelt. Eine hilflose, wimmernde Person. Sie ist irgendwie schwer krank - die Nerven, glaube ich. Sie hat mir keinen großen Eindruck gemacht, aber Creed war dauernd um sie rum. Es machte mich krank, wie der Mann sich benahm.« Ihre Augen wurden schmal. »Aber mich selber hat sie auch krank gemacht. All das Geld, ein Haus wie ein Palast - und sie selber liegt da herum und jammert über ihre Nerven und darüber, wie krank sie wäre.« Ihre Wangen röteten sich. »Ich will Ihnen was sagen, Stacker. An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal ihr Haus gesehen habe, habe ich beschlossen, Lew Slesser zu heiraten.« Flagg beugte sich vor. »Wie kamen Sie darauf?« Sie richtete sich auf, und ihre Stimme wurde hart. »Ich habe immer die Leute, die so leben wie sie, bewundert. Dienerschaft, Möbel, Silber und große Wiesen mit Blumen darauf. Hinter dem Haus ist ein Wald mit einem Wasserfall. Alles Sachen, von denen ich geträumt und gelesen habe. Und - dann stand in ihrem Zimmer ein Bild von Lew Slesser in einem silbernen Rahmen.« Es herrschte ein kurzes gespanntes Schweigen. »Sie kannten Slesser, nicht wahr?« Sie nickte. »Damals kannte ich ihn schon über ein Jahr. Lew war immer hinter mir her, aber ich hatte große Rosinen im Kopf und habe mich nie um ihn gekümmert, wenn ich ihn auch gern mochte.« »Warum nicht?« Sie zuckte die Schultern. »Weil ich nicht auf den Gedanken kam, dass er zu

irgendetwas anderem als zum Amüsieren taugte. Wahrscheinlich werden Sie mich geldgierig nennen, und vielleicht bin ich es auch. Aber ich wüsste, was ich wollte. Als ich Lews Foto dort sah, war ich sprachlos. Leute wie Martha Rutter stellen keine Fotos von Männern in ihr Zimmer, außer sie haben einen besonderen Grund dafür. Zuerst dachte ich, es steckte was dahinter; als ich dann aber ihre Jammergestalt sah, wusste ich, dass das Unsinn war, und ich überlegte, dass Lew irgendein naher Freund oder sogar ein Verwandter sein müsse.« Ihre Stimme hatte plötzlich einen anderen Klang. »Ich hätte nie gedacht, dass Lew aus so einer Umgebung stammen könne, aber das kam, weil er nie über sich spricht. Auf jeden Fall habe ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte Lew heiraten und sah mich schon mit ihm in so einem Haus.« »Und was war mit Creed?«, fragte Flagg. »Er wusste von nichts.« Sie zog leicht die Stirn kraus. »Ich hatte Angst vor Creed. Er wusste zu viel über mich, und er war Lews Anwalt. Abgesehen davon, war er gescheit genug, um zu merken, auf was ich aus war. Wenn er rechtzeitig davon erfahren hätte - wäre die Hochzeit aufgeflogen.« »Aber er erfuhr rechtzeitig davon.« »Nein. Ich glaube, Creed unterschätzte mich. Jedenfalls hat er es erst gestern erfahren. Er erzählte es mir im Victory. Wir sind seit drei Monaten verheiratet.« »Was hat Creed gesagt?« »Er hatte keine Möglichkeit irgendetwas zu sagen, weil Sergeant Stacker auftauchte. Er wollte, dass ich heute in sein Büro käme.« Sie zitterte. »Ich hatte Angst davor, Mr. Flagg. Der Mann ist wie ein Teufel.« »Was ist mit Slesser?« Sie lachte heiser. »Ziehen Sie Lew nicht auch noch mit hinein. Er ist nicht der Typ. Das will ich Ihnen sagen. Er hatte mehr Angst vor Creed als ich. Lew ist ein guter Junge, aber die Weisheit hat er nicht mit Löffeln gefressen. Er hat mit all dem nichts zu tun. Er konnte Creed nicht leiden. Creed hat ihn wie einen Hund behandelt.« »Das ist interessant«, sagte Sergeant Stacker.

Etwas in seiner Stimme ließ sie sich umdrehen. Was meinen Sie damit? Was ist interessant?« Er blickte sie nachdenklich an. »Er konnte Creed nicht leiden. Wir suchen nach einem Mann, der Creed nicht leiden konnte.« Sie wurde weiß. »Du lieber Himmel! Sie glauben doch nicht, dass Lew...?« Stacker stand auf und ging zu ihr hin. »Slesser bezog seine Einkünfte durch Creed - seine gesamten Einkünfte. Woher kam das?« »Er hatte einen Onkel«, sagte sie schweratmend. »Arnold Slesser! Ich habe mir selber darüber Gedanken gemacht und ihn erst gestern danach gefragt. Sein Onkel war ein reicher Mann, und Lew...« Flagg seufzte schwach. »Wir wissen eine ganze Menge über Slesser, Wenda. Und eines der Dinge, die wir wissen, ist, dass er keinen Onkel hatte. Wir haben im Personenstand im Somerset House nachgesehen. Ein Arnold Slesser hat nie existiert.« Sie stand langsam auf. Sehr langsam. »Ist das wahr, Flagg?« »Das ist Tatsache, Wenda. Ich möchte Sie noch etwas fragen. Sie haben das Victory eine halbe Stunde nach Creed verlassen. Slesser hat Sie nach Hause gebracht und ist dann gegangen. Was hat er danach getan?« »Ich weiß es nicht.« Sergeant Stacker seufzte. »Sie wissen es nicht. Er konnte Creed nicht leiden. Creed war sein Anwalt - Creed hielt den Daumen auf ihn. Creed war gegen die Heirat. Nun, ich weiß es auch nicht. Aber ich werde es herausfinden.«

Neunundzwanzigstes Kapitel

Für einen Augenblick herrschte Schweigen, so gespannt, dass die Luft förmlich zu vibrieren schien. Wenda starrte schweigend vor sich hin. »Sie erzählen uns am besten alles, was Sie über Slesser wissen«, sagte Flagg. Sie machte eine hoffnungslose kleine Geste. »Aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Lew kannte Creed kaum. Er war nur der Anwalt, der das Vermögen seines Onkels verwaltete.« »Des Onkels, der nicht existierte«, sagte Stacker grimmig. »Das wusste Lew nicht! Wie sollte er auch? Lew ist ein Mensch ohne Misstrauen. Er nahm es als gegeben hin, dass ein Onkel existiert hatte.« »Er hat nie irgendwelche Nachforschungen angestellt?« »Warum sollte er? Er bekam seine Rente. Und er hat ein seltsames Leben gehabt. Bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr in der Schule, dann Oxford und danach der Krieg. Er war fünf Jahre in der Armee. Er fand nichts Merkwürdiges daran, weil er gewöhnt war, dass andere Leute sich um seine geschäftlichen Angelegenheiten kümmerten. - Und das ist alles, was ich Ihnen erzählen kann. Lew selber weiß nicht mehr als das. Ich habe versucht, in Creeds Büro etwas herauszufinden. Das war in der Nacht, in der Sie mir bis in meine Wohnung gefolgt sind.« »Haben Sie etwas gefunden?« »Nur Lews Geburtsurkunde«, sagte sie. »Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Ezra Rutter sein Stiefvater war, aber das bekam ich bald heraus. Ich habe die Urkunde einem Bekannten in einer Anwaltskanzlei gegeben, und der hat für mich Nachforschungen angestellt. Als ich hörte, dass Rutter seine Mutter geheiratet hatte, bekam ich es mit der Angst zu tun, weil ich wusste, dass ich da in eine gefährliche Sache verwickelt worden war, ebenso wie Creed.« Flagg strahlte. »Mrs. Rutter ist also eine Art Schwiegermutter von Ihnen, Wenda. Das ist eine merkwürdige Situation. Sieht so aus, als würden sich Ihre Träume erfüllen.« »Glauben Sie mir, Inspektor, mir sind die Träume vergangen. Alles, was ich mir wünsche, ist, heil aus der Sache herauszukommen. Und was Martha Rutter

anbelangt, so glaube ich nicht, dass ich sie noch einmal wiedersehe. Lew hasst sie.« »Er hasst sie?« Stacker war überrascht. »Ich dachte, Slesser wäre ein sanfter Bursche, der niemandem etwas zuleide tut?« »Stimmt. Mein Lew würde keiner Fliege etwas zuleide tun.« In ihrer Stimme lag ein Unterton von Stolz. »Er hatte Angst vor ihr. Als Kind hat sie ihn schlecht behandelt. Sie war Treuhänderin für das Vermögen seines Onkels und...« Flagg grinste. »Wenn das Vermögen nicht existierte, existierte auch keine Treuhänderin. Jemand hat die Tatsachen durcheinandergebracht, oder jemand erzählt einen Haufen Lügen.« »Noch eine letzte Frage, Wenda«, sagte Stacker. »Haben Sie je von einer Anna de Seckert gehört?« Sie runzelte die Stirn. »Anna de Seckert? Wer ist das? Eine Schauspielerin oder...?« »Sie war Creeds Frau.«

»Creeds Frau? Ich wusste gar nicht, dass er verheiratet war. Anna de Seckert!« Sie wiederholte den Namen und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Nie von ihr gehört. Das ist ein Name, den man eigentlich nicht vergisst.« Stacker seufzte. »Tja, Sie können jetzt gehen, Mrs. Slesser. Wenn Sie vor Ihrem Haus einen Mann herumlungern sehen, machen Sie sich keine Sorge. Er bleibt da, bis alles aufgeklärt ist.« Sie erhob sich. Sie wirkte jetzt fast erleichtert, doch beschäftigte sie der Gedanken an Creeds Heirat offensichtlich. »Ein merkwürdiger Mann«, sagte sie. »In den vier Jahren, in denen ich ihn kenne, hat er niemals von seiner Frau gesprochen. Lew redet bestimmt jeden Tag von mir...« »Das möchte ich wetten«, sagte Inspektor Flagg und öffnete ihr die Tür. Im selben Augenblick erstarrte er, und der Mann auf der Schwelle blinzelte ihn erstaunt und erleichtert an.

Sekundenlang starrten sie sich an, dann trat Wenda einen Schritt vor. »Lew!« Slesser nickte. »Ja - da bin ich.« Flagg musterte ihn grimmig. »Wie lange stehen Sie schon vor der Tür, Slesser?« Der junge Mann räusperte sich. »Eine Minute - vielleicht auch zwei oder drei.« Sie wurde blass. »Warum bist du hierhergekommen, Lew?« Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ich wusste, dass du hier bist, Süße. Das Mädchen hat es mir gesagt. Ich wollte dich abholen. Warum auch nicht? Du bist meine Frau, und wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist - dann muss ich das wissen.« Gespanntes Schweigen folgte. Flagg nahm seine Zigarre aus dem Mund. »Ich habe den Eindruck, Sie haben an der Tür gelauscht.« »Das habe ich auch getan. Ein Mann unten - ein großer Polizist - hat mir gesagt, ich sollte hinaufgehen, aber ich wusste nicht, in welches Zimmer. Ich habe gehorcht, weil ich dachte, ich hörte Wendas Stimme -. Ich wollte eben klopfen, als Sie aufmachten.« Er sah von einem zum anderen. »Was ist los? Ich habe gehört, dass Creed tot sei. In den Zeitungen steht, er wäre ermordet worden. Stimmt das? - Ich habe ja immer gesagt, der Mann würde noch einmal ein schlimmes Ende nehmen. Habe ich das nicht gesagt, Süße?« Wenda warf ihm einen eisigen Blick zu. »Du redest zu viel, Lew. Weder Inspektor Flagg noch Sergeant Stacker wollen deine Meinung hören. Auf Wiedersehen, meine Herren. Komm, Lew.« Sie war sich beim Weggehen Flaggs bewundernder Blicke bewusst. Eine halbe Stunde später langten sie in ihrer Wohnung in Chelsea an, und Lewis kam mit hinauf. Wenda seufzte. »Es ist besser, du gehst jetzt, Lew. Ich bin müde und möchte schlafen. Bald wird das alles anders, aber die Nachbarn wissen noch nicht, dass wir verheiratet sind, und wir wollen keine Rederei.« »Natürlich«, sagte er und verabschiedete sich.

Vom Fenster aus sah sie ihm nach, bis er außer Sicht war. Unten erkannte sie die stämmige Gestalt des Kriminalbeamten, den Flagg ihr gezeigt hatte. Eben kam er über die Straße und unterhielt sich unten mit dem Hausmeister. Sie blieben einen Augenblick lang stehen und verschwanden dann zusammen im Haus. Sie wandte sich ab und ließ sich Wasser für ein Bad einlaufen, und als sie wieder in ihr Zimmer ging, hörte sie ein leise scharrendes Geräusch aus dem Schlafzimmer. Sie trat einen Schritt darauf zu, und in diesem Augenblick presste sich eine Hand auf ihren Mund, und ein Arm drückte sich wie ein Stahlseil gegen ihre Kehle. »Eine Bewegung, und Sie sind tot!« Die Stimme klang leise - aber eisig. Sie sackte zusammen, doch in diesem Augenblick lockerte sich sein Arm. Mit einer plötzlichen Anspannung aller ihrer Kräfte riss sie sich von seinem Griff los und schrie. Vor ihr lag die Schlafzimmertür; sie erreichte sie und schlug sie zu. Als sie den Schlüssel im Schloss drehte, hörte sie, wie er über den Flur lief. Eine Polizeipfeife schrillte, dann klangen schwere Schritte draußen im Flur, und jemand schlug gegen die Tür. »Aufmachen!« Sekundenlang blieb sie in Deckung. Dann fasste sie neuen Mut und rannte zur Tür. Ein großer Mann stürmte herein. »Fehlt Ihnen was? Gut! Wer war es?« Sie lief zum Fenster. »Er ist hier hinaus. Direkt darunter ist ein Dach.« »Er ist weg.« Er beugte sich aus dem Fenster, pfiff zweimal und ging dann ans Telefon. Er wählte eine Nummer. Dann hörte sie ihn leise fluchen. »Durchgeschnitten.« Tatsächlich hing die Leitung lose in seiner Hand. »Nun, Miss, was ist iert?« Sie berichtete, und er hörte zu, ohne zu unterbrechen. »So, er hat Sie an der Kehle gepackt. Er muss schon einige Zeit hier gewesen sein.« Plötzlich sah sie, wie er erstarrte. »Hallo, was ist das?« Er hob etwas auf, das wie ein Stück

Schnur aussah. »Was ist das?« Er antwortete nicht. »Ich glaube, Sie sollten heute Nacht hier nicht allein schlafen«, sagte er dann. Damit war sie einverstanden, denn kalte Angst packte sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich völlig schwach und hilflos. »Was soll ich tun?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Miss. Ich rufe den Hausmeister, damit er bei Ihnen bleibt, während ich im Yard anrufe.« Sie wurde in der Obhut des alten Mannes gelassen, der die Heizung betreute, während der umsichtige Burton Sergeant Stacker anrief. »Der Kerl ging aufs Ganze, Sergeant. Das Mädchen hat Glück gehabt. Ich habe ein Stück Schnur auf dem Boden gefunden, harte weiße Schnur mit einem Spezialknoten. Die gleichen Dinger habe ich auf dem Kontinent gesehen. Im Krieg haben die Maquis solche Schnüre benutzt, um jemanden zu erdrosseln. Die Belgier ebenso. Ein Ruck, und alles ist vorbei.« Er sprach noch eine Weile, bis Stacker einen Entschluss fasste. »Für heute Nacht werde ich schon ein Zimmer für sie bekommen. Eine von unseren Beamtinnen kann sie bewachen. In einer halben Stunde holt sie ein Wagen ab.« Burton kehrte zu der dankbaren Wenda zurück. Sergeant Stacker blieb an seinem Schreibtisch sitzen und dachte nach. Wenn Burton den Gebrauch dieser Schlinge auf dem Kontinent gesehen hatte, so wusste Stacker von geographisch näheren Gefilden dieser Methode des Erdrosselns. Er beorderte telefonisch einen Mann an. »Verhaften Sie Balder«, sagte er. Es dauerte eine Stunde, bevor der Mann zurückkehrte. »Balder ist fort, Sergeant. Er ist den ganzen Tag nicht in seiner Wohnung gewesen. Der diensttuende Constable sagte mir, er hätte das Haus beobachtet. Er hat Balder das Haus nicht verlassen sehen, und er kann sich nicht vorstellen,

wohin er gegangen ist.« »Ich könnte es ihm sagen«, erklärte Sergeant Stacker und ging zu Bett.

Dreißigstes Kapitel

Dicey betrat das Wohnzimmer in der South Audley Street. »Ein Anruf für Sie, Major.« »Wer ist am Apparat?« »Ich weiß es nicht. Ich habe gefragt, aber es wurde kein Name genannt.« Sutton ging hinüber und hob den Hörer ab. »Hallo!« »Sind Sie das, Mr. Sutton? Hier ist ein alter Bekannter.« Tom Sutton holte tief Atem. »Brophey? Woher sprechen Sie?« Der Ire räusperte sich. »Ich bin keine hundert Meter von Ihrer Wohnung entfernt, Mr. Sutton, und ich muss mit Ihnen reden. Ich bin schon seit ein oder zwei Stunden hier, aber ich kann nicht kommen. Vor Ihrem Haus steht jemand.« Sutton lachte leise. »Der steht schon lange da.« »Ich muss Sie sehen. Es ist wichtig.« Sutton überlegte. War das eine Falle? Merkwürdigerweise traute er Brophey bis zu einem gewissen Grad. »Gut, Brophey. Mein Wagen steht in einer Garage in der Nähe. Irgendwo auf der Straße steigen Sie zu mir. Gehen Sie die Straße entlang, und überlassen Sie den Rest mir.« Er hing ein und rief nach Dicey. »Ich muss gehen, Dicey, und brauche den Wagen. Bringen Sie ihn vors Haus.« Er gab ein paar genaue Instruktionen, und als Dicey mit dem Wagen kam, war er bereit, einzusteigen. Für einen Moment sah er, wie Parker, der Beamte, sie beobachtete und dann die Zeitung hob, während Sutton nickte. Ein kleiner Lieferwagen, keine hundert Meter entfernt, fuhr an und folgte ihnen. Stacker hatte dafür gesorgt, dass er ab jetzt unter Aufsicht stand. Sie fuhren ein paar hundert Meter, und dann erkannte er die untersetzte Gestalt von Brophey.

»Lassen Sie ihn bis zur Kreuzung gehen«, sagte er. »Dann wenden Sie. Wenn ich hinausspringe, geben Sie Gas.« Dicey nickte. »Ich kann diese Kerle jederzeit abhängen, Major. Überlassen Sie das nur mir.« Dies entsprach der Wahrheit, denn einen Augenblick später stand Sutton in einer Toreinfahrt. Als der Lieferwagen verschwunden war, trat er hinaus und beschleunigte seine Schritte. Brophey ging vor ihm, und als er ihn erreicht hatte, legte er eine Hand auf seine Schulter, und Brophey, der zunächst bei dieser ihm vertrauten Geste eine Haltung der Abwehr eingenommen hatte, drehte sich um. Auf seinem Gesicht zeigte sich Erleichterung. »Sie sind es, Mr. Sutton. Freut mich, Sie zu sehen, wenn Sie mir auch einen Schrecken eingejagt haben.« Er schüttelte düster den Kopf. »Ich bin nicht mehr ich selbst.« Sutton grinste. »Da ist eine Teestube, in der wir reden können.« Ein paar Minuten später hatten sie die Teestube erreicht. Brophey war nicht gerade auf Tee versessen, doch bereit, zu dieser Stunde des Tages Konzessionen zu machen. »Ich nehme besser alles mit, was ich kriegen kann, Mr. Sutton, denn in einer Woche ungefähr bin ich doch wieder auf dem Moor.« Sutton war überrascht. »Weswegen denn diesmal?«, fragte er. »Stacker will mich kassieren«, brummte Brophey. »Irgendeine veraltete kleine Sache, die längst vergessen war, aber ich kriege ein Jahr dafür.« Er schwieg einen Augenblick. »Vielleicht ist das Moor der beste Platz für mich. Ich weiß nicht - ich habe früher nie was mit Mord zu tun gehabt, und das ist viel zu gewagt für mich. Das sehe ich jetzt ein. - Darum wollte ich auch mit Ihnen sprechen, Mr. Sutton. Ich will Ihnen die Wahrheit erzählen. Ich bin froh, wenn ich nach Dartmoor komme - in meinem ganzen Leben bin ich nicht so froh gewesen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und sehen Sie sich vor! Schon haben sie Creed erledigt. Sie stehen auch auf ihrer Liste! Sie und das Mädchen, das für Creed gearbeitet hat.« Suttons Finger griffen nach ihm.

»Woher wissen Sie das, Brophey?« Aber der Mann zitterte vor Furcht. »Fragen Sie mich nicht, Mr. Sutton. Der Himmel weiß, was ich mir eingebrockt habe, um herzukommen und Sie zu warnen. Wenn die das wüssten, würde es mir genauso gehen.« Seine Augen blickten hart. »Es ist mein voller Ernst. Sehen Sie sich vor. Ich weiß nicht, wer Sie sind - oder was Sie sind, Sie waren ein prima Kumpel, soweit es mich betrifft. Ich gebe Ihnen diesen Tip. Diese Burschen sind das reine Gift. Sie sehen, was die mit Creed gemacht haben!« Sutton sah ihm in die Augen. »Selden, nicht wahr? Selden oder Balder?« »Selden, glaube ich. Aber fragen Sie mich nicht, warum. Creed war der einzige, den ich kannte, aber dahinter muss noch ein größerer Boss als Creed stehen. Als ich hörte, sie hätten ihn erledigt, habe ich den größten Schreck meines Lebens gekriegt. Selden ist ein Moder.« Er zitterte. »Es war Selden, der Stacker gestern Nacht angeschossen hat.« »Woher wissen Sie das?« Der Ire sah fort. »Weil ich gefahren habe. Und wenn ein anderer gefahren hätte wäre Stacker tot. Ich habe Selden im Spiegel beobachtet, und als er die Pistole hochzog, habe ich aufs Gas getreten.« Schweiß rann ihm übers Gesicht. »Es ging um einen Bruchteil von Sekunden, das kann ich Ihnen sagen, ich dachte, er würde die Pistole auf mich richten. Dagegen ist das Moor bestimmt wie ein Himmel. - Ja, das ist alles, was ich weiß, Mr. Sutton, und alles, was ich sagen kann. Ich musste Sie warnen. Sie stehen auf der Liste.« »Wer macht diese Liste?«, fragte Sutton. »Ich weiß nicht. Selden hat was damit zu tun, aber hinter Selden steht noch ein Mann. Der Himmel weiß, wer das ist. Ursprünglich habe ich gedacht, Creed wäre die Namenlosen in einer Person. Aber hinter Creed ist ein Mann - ein Mann, der sich Creeds bediente - und ein Mann, der Creed töten ließ, weil er fertig war.« »Warum ist Creed ermordet worden?«

Der Ire schüttelte den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Sutton. Es geht ein Gerücht, er hätte abhauen wollen, und das te dem Hintermann nicht. Aber das habe ich nur vom Hörensagen.« »Meiner Meinung nach haben Sie recht«, sagte Sutton. Brophey schob seine halbvolle Tasse beiseite. »So ist das, Mr. Sutton. Vielleicht sehen wir uns nicht mehr wieder. Das weiß ich nicht - aber wenn Sie ungeschoren davonkommen und ich auf dem Moor bin, dann wäre es nett, wenn Sie an mich dächten.« Der jüngere Mann nickte. »Das tue ich, Brophey. Sie sind mir eine große Hilfe gewesen. Sie können mir auch noch mehr helfen. Ich werde mich an vieles erinnern. Zum Beispiel an das, was Sie mir über Stacker gesagt haben.« Brophey befeuchtete seine Lippen. »Ich gehe jetzt, Mr. Sutton. Was ich in diesen Tagen mitgemacht habe, ist mehr als ein Sterblicher aushalten kann.« Er stand auf, und Sutton beobachtete ihn. »Sie sind ein netter Bursche, Brophey.« Er sah dem Iren nach, wie er hinausging. Peng! Peng! Er hörte die beiden Schüsse und sprang sofort auf. Die Kellnerin rannte durch die Tür, als er dort ankam, und schrie. »Mord! Ich habe es gesehen! Der Mann da...!« Keine fünfzehn Meter entfernt sah er eine graugekleidete Gestalt am Boden liegen und rannte darauf zu. Ein Mann drehte Brophey gerade um, als Sutton anlangte.

Einunddreißigstes Kapitel

Sergeant Stacker begab sich auf eine Mission, zu der er wenig Neigung hatte, dennoch konnte sich die Aussage von Mrs. Rutter als wertvoll herausstellen, da sie eine der wenigen Menschen war, die mit Creed auf einigermaßen vertrautem Fuß gestanden hatten. Das große Haus am Exeter Square wirkte düster und verlassen, und es verging eine Zeitlang, bis sich auf sein Läuten etwas regte und er das Geräusch von weiblichen Schritten hörte. Die Tür öffnete sich, und er sah eine Frau in Schwesterntracht, die ihn unfreundlich betrachtete. »Was wollen Sie?« Er zeigte seinen Ausweis und stellte sich vor. »Ich möchte gern Mrs. Rutter sprechen.« Sie ließ ihn zweifelnd ein. »Dauernd diese Polizeibeamten! Alles wegen der armen Mrs. Martin - wenn ich auch immer gesagt habe, dass sie eine trottelige alte Person war, und wahrscheinlich war es ihr eigener Fehler. Kommen Sie rein, Mr. ... Wie war Ihr Name? Ich will Mrs. Rutter fragen, aber ich kann nicht versprechen, dass sie Sie empfängt. Wenn sie ihre Stimmungen hat, bestimmt nicht.« Er betrat einen großen altmodischen Raum. »Fabelhaftes Haus, Miss. Dafür braucht man eine Menge Angestellte, denke ich.« Sie lachte kurz. »Die wir nicht haben. Mrs. Martin wohnte hier allein, aber das Haus war sozusagen geschlossen. Jetzt, wo sie nicht mehr lebt, ist es nicht leicht. Es sind eine Köchin, Edward und ein Küchenmädchen da, aber das genügt für so ein großes Haus nicht. Und dieser Edward ist nie da, wenn man ihn sucht. Wie war noch mal Ihr Name, Mister?« Stacker zog eine Karte heraus, die er ihr reichte, und sah ihr nach, wie sie hinaufging. Dann wandte er sein Interesse dem Zimmer zu, und während er es bewunderte, hörte er leise Schritte. Sofort drehte er sich um. Er vernahm, wie sich jemand verstohlen bewegte, und

ging rasch zur Tür. War das der als Nichtstuer verschriene Edward, von dem die Schwester gesprochen hatte? Er öffnete die Tür und sah eine lange Gestalt in dem dunklen Ende des Flurs verschwinden. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte er die verschwommenen Umrisse eines Gesichts, und als der Mann verschwand, richtete er sich erstaunt auf, denn dieser Eindringling war bestimmt Lew Slesser gewesen. Die Schwester kehrte zurück. »Sie dürfen kurze Zeit mit ihr sprechen. Ich bin erstaunt. Ich verschweige Ihnen das nicht, denn heute Morgen war sie sehr schwierig.« Stacker dankte ihr. »Sie sagten, Sie haben einen Diener?« Sie nickte. »Ich habe nicht viel mit ihm zu tun, aber er ist etwas merkwürdig. Dauernd unterwegs. Ich bin schon an vielen Stellen gewesen, aber ich habe noch nie einen Diener erlebt, der sich so viele Freiheiten herausnimmt.« »Wie sieht er aus?« Sie zuckte die Schultern. »Lang und dünn. Er hat sehr hübsche Hände. Man könnte fast denken, er wäre ein Herr. - Ich bringe Sie jetzt hinauf, bevor sie ihre Meinung ändert.« Er folgte ihr die breite Treppe hinauf, wo sie die Tür öffnete, und Stacker hörte sie sprechen. »Der Mann von der Polizei, Mrs. Rutter... Hier entlang, Sergeant.« Martha Rutter lag auf der Chaiselongue, auf der sie auch Mary Randall empfangen hatte. Ihre Stimme war dünn und klar. »Ich habe jemanden von der Polizei erwartet seit - seit ich die schreckliche Neuigkeit erfahren habe.« Er nickte. »Ich wollte schon gestern kommen, Mrs. Rutter, aber ich bin im Augenblick sehr beschäftigt.« Sie lächelte schwach. »Mit Verbrechen und Verbrechern. Ihr Name ist mir nicht völlig unbekannt. Ich bin eine eifrige Zeitungsleserin.« Sie sah ihn beinahe neugierig an. »Sind Sie jetzt mit dem Tod von Mr. Creed oder dem meiner Haushälterin beschäftigt?« Er runzelte die Stirn. »In gewisser Beziehung mit beiden.«

Sie machte eine kleine Handbewegung. »Kommen Sie etwas näher. Sprechen fällt mir schwer. Ich bin krank, müssen Sie wissen. Aber das wird Sie natürlich kaum interessieren.« Er zog seinen Stuhl näher heran. »Sie haben Mr. Creed in großem Umfang vertraut?« Sie stimmte zu. »Er war ein sehr fähiger Mann, Sergeant. Mein verstorbener Mann hielt viel von ihm. Ezra gab mir tatsächlich den Rat, mich auf sein Urteil zu verlassen. Mr. Creed hatte eine gute Hand für Geschäfte, und ich habe sehr von seinen Ratschlägen profitiert. Ich besitze überhaupt keinen Geschäftssinn, und es war für mich äußerst beruhigend, dass sich ein Mann wie Creed um die Angelegenheiten kümmerte.« Sie schwieg einen Augenblick lang. »Sein Tod ist für mich ein schwerer Schock gewesen - ein sehr schwerer Schock. Mord ist etwas, an das man nie denkt -. Und wenn es einen Freund trifft, ist man wie betäubt.« Ihre langen schmalen Finger spielten mit einem Umschlag, der vor ihr lag. »Hat die Polizei irgendeine Vorstellung, wer für diesen Mord verantwortlich ist?« »Die Polizei hat immer irgendwelche Vorstellungen, Mrs. Rutter. Unglücklicherweise kann man nur nicht darüber sprechen.« »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie nachdenklich und blickte ihm dann in die Augen. »Ich bin eine sehr wohlhabende Frau, Mr. Stacker, und wäre bereit, einen umfangreichen Geldbetrag zu spenden, um der Polizei zu helfen. Wenn ich Ihnen zum Beispiel tausend Pfund gäbe...?« Er schüttelte den Kopf. »Das entspricht nicht der Arbeitsweise der Polizei, Mrs. Rutter. Wir brauchen Ihr Geld nicht. Wir werden den Mann, der Creed ermordet hat, finden. Wann - das weiß ich nicht. Aber eines Tages werden wir ihn finden. Das tun wir immer. - Wussten Sie, dass Creed verheiratet war?« Er hatte erwartet, sie in Erstaunen zu versetzen, aber auf das Maß ihrer Überraschung war er nicht vorbereitet. Sie richtete sich kerzengerade auf und starrte ihn an, und er bemerkte rote Flecken auf ihren Wangen. »Verheiratet - Creed verheiratet? Was heißt das?«

»Er war seit ungefähr zwanzig Jahren verheiratet«, sagte er langsam, und sie schüttelte beinahe ärgerlich den Kopf. »Unsinn, Sergeant! Irgendeine böswillige Person hat diese Geschichte ausgestreut. Ich habe Creed seit meiner Verehelichung gekannt, und ich bin ganz sicher, dass er Junggeselle war. Diese Geschichte ist lächerlich.« Er hatte nicht im Sinn, mit ihr über die Widersinnigkeit seiner Feststellung zu argumentieren, aber sie sah ihn beinahe feierlich an. »Wer hat diese skandalöse Behauptung aufgestellt, Sergeant? Das will ich wissen. Hamilton Creed war ein sehr guter Freund von mir...« Er rieb sich seine große Nase. »Ich befürchte, es besteht kaum ein Zweifel, Mrs. Rutter. Ich habe in Scotland Yard eine Abschrift seiner Heiratsurkunde, die ich nach seinem Tod in seinem Schließfach aufgefunden habe. Da waren ein Päckchen Liebesbriefe, seine Heiratsurkunde und eine Kopie des Testaments Ihres verstorbenen Gatten...« Sie saß ganz steif da und hörte kaum zu. »Verheiratet!«, flüsterte sie, und dann: »Mit wem?« »Mit Anna de Seckert«, sagte er, »eine Frau, die wir sehr gerne ausfindig machen würden. Haben Sie den Namen je gehört?« Sie schüttelte den Kopf. »Anna de Seckert! Ist das Holländisch oder Flämisch? Nein, ich habe ihn nie gehört. Das ist merkwürdig, denn ich war mit Creed sehr befreundet und glaubte, sein Vertrauen zu besitzen. Lebt sie oder ist sie tot?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Madam. Aber wenn sie lebt, werden wir sie finden.« Sie schien ihn kaum zu hören. Sie war auf ihr Kissen zurückgesunken, und ihre Züge waren grau und müde geworden, als sei diese neue Eröffnung zu viel für sie gewesen. »Verheiratet!«, flüsterte sie. »Unvorstellbar!« Und dann sah sie ihn wieder an. »Ich muss Sie bitten, mich jetzt zu verlassen, Sergeant. Ihre Nachricht war zu überraschend - ich fühle mich ganz schwach. Nein - es ist nichts Besonderes. Ich habe oft solche Zustände. Mein Herz ist nicht sehr kräftig.«

Er erhob sich. »Ich möchte nur noch eine Frage an Sie richten, Mrs. Rutter.« »Und die wäre?« »Wann haben Sie Lewis Slesser zuletzt gesehen?« »Lewis?« Ihre Stimme klang fast rührend. »Wirklich, das kann ich nicht sagen. Er hat mich manchmal in Battery House besucht. Mein Mann war sein Stiefvater, und er mochte ihn sehr gern. Aber nach Ezras Tod habe ich ihn selten gesehen.« »Warum?« Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht war es mein Fehler, Sergeant. Wir gehören verschiedenen Welten an. In jeder Beziehung. Lew war etwas schwierig. Nicht schlecht, verstehen Sie - nur schwierig. Nach dem Tod seiner Mutter benahm er sich mir gegenüber besonders ablehnend. Auf jeden Fall sehe ich ihn kaum.« »Er hat Sie hier nie besucht?« »Am Exeter Square?« Sie war über seine Frage direkt erstaunt. »Lewis besucht mich fast nie. Ich habe sehr wenig Besucher. Die letzte Besucherin war das junge Mädchen aus Hamiltons Büro. Wirklich ein sehr nettes Mädchen, eine Miss Randall. Sie muss noch mal vorbeikommen. Ich hätte mir ihre Adresse geben lassen sollen.« Er lächelte beglückt. »Ich kann Ihre Nachricht überbringen, Mrs. Rutter, denn ich will anschließend mit ihr sprechen. Sie bringt Creeds Nachlass in Ordnung.« Sie zeigte sich nahezu interessiert. »Dann wird sie in der Lage sein, Ihnen eine Menge Informationen zu geben, Sergeant. Sie ist eine ganze Weile bei Mr. Creed gewesen. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit. Vielleicht fragen Sie sie, ob sie im Laufe der Woche einmal herkommt. Ich habe die verschiedensten geschäftlichen Dinge zu erledigen und bin so unfähig in der Beziehung.« Offenbar hatte sie geläutet, denn er hörte, wie sich die Tür öffnete und die Schwester erschien. »Führen Sie Sergeant Stacker hinaus«, sagte sie, und der Polizist verabschiedete sich. Sie gingen schweigend nach unten, und als sie die Diele erreichten, fragte

er: »Wo ist dieser Edward, von dem Sie gesprochen haben?« Sie überlegte. »Ich weiß nicht, ob er da ist. Ich weiß nicht, was der Mann die ganze Zeit tut. Warten Sie hier, und ich will mich erkundigen.« Nach wenigen Minuten kam sie mit gerunzelter Stirn wieder. »Er muss gerade weggegangen sein, Mr. Stacker. Wenn er wiederkommt, werde ich ihm sagen, dass Sie ihn sprechen wollten.« »Spielt keine Rolle«, sagte er. »Ich werde später mit ihm reden. Auf Wiedersehen, Miss.« Er trat nach draußen und setzte sich neben den wartenden Polizeichauffeur in den Wagen. »Haben Sie jemanden aus dem Haus kommen sehen?«, fragte er, und der Constable nickte. »Ein Mann ist herausgekommen, ziemlich bald, nachdem Sie hineingegangen sind, Sergeant. Ein großer Mann mit einem Schnurrbart.« Er beschrieb ihn mit allen Einzelheiten, und Stacker seufzte. »Das war Lew Slesser. Ich überlege, ob ich geschlafen habe. Gut, Constable Scotland Yard.«

Zweiunddreißigstes Kapitel

Stacker betrat sein kleines Büro und sah Lewis Slesser auf seinem Stuhl sitzen und rauchen. Wenda saß auf dem Schreibtisch, baumelte mit ihren schlanken Beinen und hatte eine Zigarette zwischen den Lippen. Jetzt sprang sie auf. »Gott sei Dank, dass Sie zurück sind, Sergeant.« Stacker nickte freundlich. »Da wären wir mal wieder alle beieinander. Woher kommen Sie, Slesser?« Lew Slesser hüstelte. »Um die Wahrheit zu sagen...«, begann er, aber Wenda unterbrach ihn.

»Sei still, Lew, lass mich mit Mr. Stacker reden. Lew wollte mit seiner Stiefmutter sprechen. Da ist er gewesen.« Stacker öffnete den Mund und ließ ein großes, pferdeartiges Gebiss sehen. »Also Sie waren es, den ich am Exeter Square gesehen habe?« Slesser machte ein unbehagliches Gesicht. »Ja, alter Junge. Um die Wahrheit zu sagen - ich hatte gehofft, Sie würden mich nicht sehen. Ich hatte mich entschlossen und wollte die alte Dame sprechen.« »Warum?« In Stackers Stimme lag kaltes Misstrauen, und Slesser zuckte die Schultern. »Weil ich Geld wollte. Verdammt noch mal! Ich bin jetzt ein verheirateter Mann.« Er sah Stacker unruhig an. »Ich habe keinen Pfennig mehr. Der alte Creed hat mich immer so knapp gehalten. Und ich dachte, sie würde mir ein bisschen unter die Arme greifen, bis sich alles geklärt hat.« »Das müsste sie tun, sagte Wenda entschieden. »Das wäre nur ihre Pflicht. Blut sollte dicker als Wasser sein.« Lew Slesser nickte eifrig. »Das meine ich auch.« Stacker war leicht erstaunt. »Sie wollten sie also anzapfen? Haben Sie Mrs. Rutter gesprochen?« Slesser schüttelte den Kopf. »Nein - es gab keine Möglichkeit. Ich war gerade eingetroffen, als Sie erschienen. Ich wusste, dass Sie mit ihr über Creed sprechen würden und dass sie dann in keiner rosigen Laune wäre - darum bin ich weggegangen.« »Wer hat Sie hineingelassen?« »Nun - ich selber. Da ist eine kleine Seitentür, die nicht viel gebraucht wird - und ich habe einen Schlüssel. Ich habe immer einen Schlüssel zu dieser Tür gehabt.« Er war offensichtlich unruhig. »Ich wollte nicht, dass mich irgendein alter Hausdrache abwies. Ich wollte direkt und ohne Anmeldung zu ihr gehen.« Er schien jetzt über seine eigene Verwegenheit erstaunt. »Ich dachte, sie würde dann so erstaunt sein, dass sie - sich meinen Wünschen fügen würde.«

Sergeant Stackers Augen blickten ausdruckslos. War das die Wahrheit? Hatte dieser rosahäutige junge Mann wirklich erwartet, von Martha Rutter Geld zu bekommen, oder log er? Einen Augenblick lang stand er regungslos, dann sagte er: »Ich glaube, Sie gehen besser in Ihre Wohnung zurück, Wenda.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte jetzt nicht dahin, Sergeant. Meine Wohnung jagt mir Angst ein. Lew will, dass ich mit ihm komme, aber ich wollte warten, bis Sie zurück waren. Meinen Sie, dass das geht? Die Leute wissen ja nicht, dass wir verheiratet sind, und Sie wissen, wie gemein die Leute sein können. Sie reden über jeden.« »Entschließen Sie sich. Hier können Sie nicht bleiben. Sie demoralisieren die ganze Polizei. Auf alle Fälle gehen Sie jetzt zum Essen. Sie hinterlassen besser Ihre Adresse, Slesser. - Und raus jetzt.« Nachdem sie gegangen waren, sagte er zu einem Polizisten: »Schicken Sie einen Mann hinter den beiden her. Er soll den beiden so dicht wie möglich auf den Fersen bleiben. Ich will wissen, wohin sie gehen und was sie tun.« Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Dort fand er eine Notiz von Flagg: Balder sei im East End gesehen worden, und der Distrikt würde durchsucht. Das war eine gute Nachricht. Die Namenlosen wurden aufgerollt. Balder, Brophey, Seltzer, Hamilton Creed. Selden würde bald ins Netz gehen. Aber wer stand hinter Selden? Nach einigem Nachdenken begab er sich in die Wood Street. Mary Randall freute sich über sein Erscheinen. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Sergeant. Ich hoffe, dass ich bis heute Abend mit dieser Arbeit fertig bin.« »Ich habe eine Nachricht für Sie«, sagte Stacker. »Nein, nicht von Sutton. Ich weiß nicht, wo sich der Bursche herumtreibt. Langsam fangen alle diese Rätsel an, meinen Blutdruck zu beeinflussen.« »Von wem?«, fragte sie interessiert. »Von Mrs. Rutter«, sagte er. »Ich bin heute Morgen eine Stunde bei ihr gewesen. Sie möchte, dass Sie sie aufsuchen. Warum sie sich allerdings keine eigene Sekretärin anstellt, begreife ich nicht. Sie sollen etwas für sie erledigen. Sie

verstünde nichts von Geschäften.« Mary lächelte leicht. »Das ist eine ihrer merkwürdigen Seiten. Sie hat mir das auch gesagt, und Hamilton Creed betonte es jedes Mal, nur Mrs. Martin behauptete das Gegenteil. Das hat mich sehr erstaunt.« »Was hat Mrs. Martin gesagt?« »Sie sagte, sie sei einmal eine äußerst gerissene Geschäftsfrau gewesen, und Ezra Rutter habe gesagt, sie sei eine der klügsten Köpfe in der City.« »Martha Rutter?« Sie nickte. »Martha Rutter! Der alte Ezra hat gesagt, sie sei gerissener als irgendein Mann in der City. Mrs. Martin meinte, sie sei hart wie Stahl.« Sie lachte ein wenig. »Die alte Frau meinte, sie sei nicht genügend beschäftigt.« Er nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Das hat sie gesagt?« Er stand langsam auf. In diesem Augenblick schien bei ihr ein Groschen zu fallen, und sie sah, wie ein erregter Blick in seine Augen trat. Er schlug seine Hände zusammen. »Ich Idiot! Was bin ich für ein Polizeibeamter! Ich habe die Aufklärung sozusagen direkt unter meiner Nase...« Er ging zur Tür. »Ich war nahe daran, den größten Fehler meines Lebens zu machen, mein liebes Kind...« Damit verließ er sie, ging nach unten und stieg in den Wagen. »Fahren Sie mich zur City of Benares Bank - so schnell wie möglich.« Zwanzig Minuten später wurde er in das gutausgestattete Büro von Mr. Digby geführt. »Um was handelt es sich diesmal, Sergeant?« »Ich möchte Creeds Schließfach sehen.« Digby ging voraus in den Keller und öffnete eigenhändig das Fach. »Die Papiere sind im selben Zustand, wie wir sie gelassen haben«, sagte er. »Die Briefe...« Stacker hatte das zusammengefaltete Testament ergriffen. »Letzter Wille und Testament von Ezra Rutter«, las er laut und öffnete das steife Pergament. Sekundenlang starrte er darauf und ließ den Blick von der festen großzügigen Unterschrift Ezra Rutters zu den dünnen der Zeugen schweifen. Dann lachte er

bitter. »Ich wusste, dass ich irgendwo einen Fehler gemacht hatte, Mr. Digby - und zwar einen so gewaltigen, dass es mir das Genick gebrochen hätte, wäre es herausgekommen. Ich hätte mir überlegen sollen, warum Creed eine Kopie von Ezra Rutters Testament in seinem Schließfach aufbewahrte, wenn eine weitere Kopie in seinem Zimmer lag und wenn ich eine dritte Kopie jederzeit auf dem Amtsgericht einsehen konnte. Aber ich habe es mir nicht überlegt. - Und warum? Weil ich der größte Idiot von Scotland Yard bin. Und das will was heißen.« Der Geschäftsführer hüstelte. »Sie - Sie meinen, es ist etwas Bemerkenswertes an dem Testament?« »Bemerkenswert ist der richtige Ausdruck«, sagte Stacker, und in seiner Stimme lag Triumph. »Sehen Sie selbst.« Mr. Digby setzte einen Kneifer auf. Sekundenlang las er, dann fiel sein Kinn herunter. »Gott im Himmel, Stacker! Die Erbin ist nicht seine - Frau. Der Erbe ist Lewis Slesser!«

Dreiunddreißigstes Kapitel

Lewis Slesser war der Erbe des Rutter'schen Vermögens! Digby starrte Stacker an, und auf seinen blassen Wangen erschienen rötliche Flecken, Das war allerdings ein schicksalhafter Tag für die Bank, denn Ezra Rutters Guthaben bei ihnen war groß. »Das ist unglaublich, Stacker! Wirklich...« Der Beamte unterbrach ihn kurz. »Ich muss zurück zu meiner Arbeit, Mr. Digby. Sie erwähnen lieber nichts von dieser Sache, bevor Sie nicht von uns hören.«

Mr. Digby versicherte Stacker heftig seines Schweigens. »Sie können sich auf mich verlassen, Sergeant. Wenn das herauskommt...« Er wischte sich den Schweiß von seiner blassen Stirn. »Was für eine entsetzliche Situation! Ich begreife es einfach nicht. Es ist zu verwirrend.« »Ich begreife durchaus«, sagte Stacker grimmig. Der Wagen wartete auf ihn, und er stieg ein. »Ich möchte zum Exeter Square, und zwar so schnell wie möglich.« »Verlassen Sie sich auf mich«, sagte der Fahrer. Ein feiner Nieselregen fiel jetzt herab, und die asphaltierten Straßen waren feucht und glitschig, doch der Polizeiwagen machte gute Fahrt, während sich Stacker zurücklehnte und die Bedeutung seiner neuen Entdeckung überdachte. Er wusste, was für ein Glück er gehabt hatte. Wäre das Testament aus der Geborgenheit des Schließfaches in die Hände derjenigen Person gelangt, in deren Interesse es lag, den Inhalt geheimzuhalten, wäre seine Chance, das Rätsel zu lösen, für immer dahin gewesen. Denn ohne das Testament gab es kein Motiv und keinen Tatbeweis. Das große Haus lag eingehüllt in das feuchte Grau des Nachmittags, und der Regen rann an seinen Mauern herab. Stacker stieg aus und ließ den Fahrer mitgehen. »Gegen Sie nach hinten, Brand, und wenn jemand versucht, das Haus zu verlassen, halten Sie ihn auf.« Der Mann ging um das Haus herum, während Stacker an die Haustür trat und die Klinke niederdrückte. Die Tür gab nach, und er trat ein. Einen Augenblick blieb er in der Diele stehen und lauschte angespannt auf irgendein Geräusch, doch es herrschte Schweigen wie in einem Grab. Vorsichtig machte er sich auf den Weg durch die beiden Vorderräume, doch sie waren leer, und nur das leise Ticken einer italienischen Uhr durchbrach die Stille. Er ging in die Halle zurück und stieg die breite, teppichbelegte Treppe hinauf. Vor ihm lag das große Zimmer, in dem Martha Rutter ihn empfangen hatte, und auch dieses war leer. Er trat ein und sah sich verwundert und beunruhigt um. Irgendetwas war an diesem verlassenen Haus unheimlich, etwas

jagte einem den kalten Schweiß den Rücken hinunter. Die Uhr auf dem Kaminsims begann zu schlagen, und der silberne Ton ließ ihn zusammenfahren. Sekundenlang zögerte er, dann trat er an das breite Fenster und öffnete es. Unten stand die vierschrötige Gestalt des Fahrers, der zu ihm aufsah. »Nichts los, Sergeant.« »Kommen Sie herauf«, sagte Stacker, und der Mann ging auf das Haus zu. Einen Augenblick später hörte er seine Stimme. »Die Tür ist abgeschlossen.« »Dann kommen Sie vorn herein.« Er kehrte in den Flur zurück, und ein paar Minuten später hörte er Brand heraufkommen. »Ich muss das Haus durchsuchen«, sagte Stacker. »Gehen Sie nach oben und sehen Sie sich die Zimmer an. Ich kümmere mich um dieses Stockwerk.« Der Mann stieg in den zweiten Stock, während er selbst den Flur entlangging. Hier waren vier Zimmer, die offenbar nicht in Gebrauch waren, die Möbel waren mit Staub überzogen. Er kehrte zurück, und Brand kam die Treppe herunter. »Da oben ist nichts«, meldete er. »Versuchen wir es unten«, sagte Stacker. Ein eisiger Schrecken erfasste ihn. War er zu spät gekommen? Sie erreichten die Diele, und Stacker ging in Richtung auf die Tür, durch die Lew verschwunden war. Hier zweigte ein schmaler Flur ab, und links lag die große düstere Küche. Er trat über die Schwelle, und in diesem Augenblick spürte er Brands Hand auf seinem Arm. »Da ist jemand, Sergeant.« Stacker fand den Schalter, und in dem hellen Licht der starken Birnen erstarrte er. Drew Selden hatte das Zeitliche gesegnet! Er lag auf seinem Stuhl zurückgelehnt, und über seiner leicht aufgeworfenen Nase befand sich ein blauschwarzes Loch! Für den Bruchteil einer Sekunde stand Stacker still, dann ging er auf den Mann zu, während Brand ihn beobachtete. »Wer ist das?« »Drew Selden. Er ist seit einer halben Stunde tot. Eine Kugel im Kopf. Gehen

Sie ans Telefon, Brand. Die Jungs sollen so schnell wie möglich herkommen.« Als Brand gegangen war, sah er sich um. Der Tisch war für eine Person gedeckt. Eine irdene Teekanne, halb gefüllt mit Tee, ein Brötchen und auf dem Teller ein Klecks Marmelade. Als Drew Selden sich hingesetzt hatte, hatte er nicht geahnt, dass ein Besucher zu erwarten stand und dass dieser Besucher der Tod sein würde. Er rekonstruierte das Verbrechen, was nicht schwer war. Selden hatte hiergesessen, und die Tür hatte sich geöffnet. Mehr nicht. Brand kam zurück. »Die Männer vom Distrikt kommen sofort, Sergeant.« Stacker ging zur Tür. »Erwarten Sie sie. Ich gehe zur Wood Street.« In seinen Augen lag kalter Triumph, als er durch die Stadt fuhr. Selden war tot, und mit ihm war der letzte Mann verschwunden, der reden konnte. Hier war die Rechtfertigung, die er für seine Theorie brauchte. Als er ankam, stand vor der Anwaltskanzlei ein Wagen, und er stellte fest, dass es ein Streifenwagen war. Er trat ein und sah Inspektor Flagg, der ihn fröhlich begrüßte. »Ich habe Sie gesucht, Stacker. So ein Glück. Ich dachte mir, Sie kämen hierher. Wir haben Balder gefunden. Er ist jetzt im Yard.« Das war eine gute Nachricht, und Stacker atmete erleichtert auf. »Wir räumen sauber auf, Mr. Flagg. Was für ein Fall!« Er sah den Constable an. »Wo ist das Mädchen?« Der Mann sah auf. »In Creeds Büro. Vor dreißig Minuten war ich oben. Sie hofft, gegen fünf fertig zu sein.« Sergeant Stacker lachte kalt. »Sie ist schon fertig!«, sagte er. Er hatte einen Fuß auf der Treppe, als der Schuss krachte. Ein einziger Schrei ertönte, und dann herrschte Stille.

Vierunddreißigstes Kapitel

Lange, nachdem Sergeant Stacker gegangen war, saß Mary Randall an dem großen Schreibtisch und blickte auf die gegenüberliegende Wand und überdachte die Ereignisse der letzten Tage. Die Geschehnisse näherten sich ihrem Ende. Das spürte sie in ihrem Herzen, denn der neue Ton in Stackers Stimme konnte nichts anderes bedeuten. Bald würde die Liga der Namenlosen lediglich eine Story sein - eine Story, deren Darstellung ihr oblag. Die lange Kette von Betrug, Raub und Mord würde enden, wie so viele andere Fälle geendet hatten, während der Yard seinen langen Arm ausstreckte - nach wem wohl? Sie wog nach wie vor die Fragen ab. Die neun Monate, die sie als Sekretärin von Creed in diesem Büro verbracht hatte, hatten viel Nebel gelichtet, dennoch lag hinter den Nebeln immer noch das Dunkel. - Sie seufzte und machte sich wieder an die Arbeit. Es war noch eine ganze Menge zu tun, doch hoffte sie, bis heute Abend fertig zu werden. Der nächste Brief, den sie schreiben musste, war an Lew Slesser. Vielleicht... Etwas bewegte sich leise vor ihr, und sie sah auf. Die große schwarze Tür des Safes stand auf, und auf der Schwelle des Safes stand die graue Frau. Wie eine Ewigkeit wirkende Sekunden starrte das Mädchen sie mit vor Überraschung geweiteten Augen an.« »Mrs. Rutter!« Martha Rutter trat ins Zimmer. In ihrer Hand lag eine Pistole, deren Mündung ohne Zittern geradeaus gerichtet war. Zwei Sekunden lang schwieg sie, dann sagte sie: »Ja - ich bin Martha Rutter.« Ihre Stimme war gedeckt, doch kalt und tonlos. Sie ging langsam auf die Wand zu, und dann ertönte das Geräusch des Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde. Mary Randall war aufgestanden. »Mrs. Rutter - was wollen Sie? Warum sind Sie...?« Und dann war ihr plötzlich alles kristallklar, und bei der Gewissheit musste sie keuchend Atem holen. »Sie - Sie haben ihn ermordet! Sie haben Creed ermordet!« Die Frau blickte sie beinahe nachdenklich an. »Nein - Selden hat Creed getötet.

Er hat den Tod verdient. Er war ein dummer, hirnloser Narr mehr als das, er war ein Verräter! Ich hätte ihn umgebracht, aber es war für mich zu schwer. Selden hat ihn getötet. Selbst die Polizei weiß das.« In ihren Augen war ein kleines Lächeln, in dem aber aller Hass lag, dessen ein Mensch fähig war. Das Mädchen keuchte: »Selden hat ihn ermordet? Aber warum?« »Weil er ein Verräter war, weil er Angst hatte, weil ich keine Verwendung mehr für ihn hatte.« Das Lächeln wurde breiter. »Es war ganz einfach. Selden fuhr ihn hierher - und tötete ihn. Selden ist auch tot.« Mary Randall war auf ihren Sitz zurückgesunken. In ihrem Kopf ging es um und um, doch aus einem merkwürdigen Grund war sie plötzlich frei von Angst. »Sie waren sehr töricht, Mrs. Rutter! Sie...« Die Frau lächelte. »Sagen Sie nicht, Sie verstünden mich nicht. Sagen Sie nicht, Sie wüssten nicht, dass alles ich geplant habe! Ich habe Creed gesteuert -. Er war ein armer schwacher Tölpel, wenn er auch mein Mann war!« »Ihr Mann?« Mary Randall starrte sie fassungslos an. »Ja - ist Ihnen das nicht klargeworden? Ich dachte, Stacker hätte den Verdacht gehabt. Ich sah es in seinen Augen, aber er vermochte nicht, es zu beweisen. Er hätte es nie erfahren, wenn Sie nicht gewesen wären.« In den dunklen Augen lag eine kalte Welle des Hasses. »Ein kleines Mädchen und eine klatschsüchtige alte Frau! Sie hätte schon vor langer Zeit ins Gras beißen sollen, aber ich habe sie nicht für gefährlich gehalten.« Sie hob die Pistole. »Ich dachte, Sie wüssten mehr als tatsächlich der Fall ist. Ich habe Sie überschätzt. Das war ein unbedeutender Fehler.« Mary war wieder aufgestanden. »Sie sind Anna de Seckert! Wie merkwürdig, dass ich daran nicht gedacht habe, aber...« Sie zitterte. »Wie sind Sie in dies Zimmer gekommen?« Martha Rutter lachte leise. »An der Rückwand des Safes ist eine Tür. Ich bin fast erstaunt, dass die Polizei sie nicht entdeckt hat. Creed fand sie sehr praktisch, denn sie führt in das nächste Haus. Es gehört auch mir. Wenn Sie jemals im Grundbuch nachgesehen hätten, hätten Sie festgestellt, dass jedes Haus in diesem Block mir gehört.« Jetzt richtete sie sich auf.

Von der Straße klang das Geräusch eines haltenden Wagens, und Martha Rutter trat einen Schritt näher. »Sie haben mich für eine Invalidin gehalten«, sagte sie, »ein armes, schwaches Ding, eine nutzlose neurotische Frau ohne Rückgrat-.« Sie seufzte, und dann verhärtete sich ihre Stimme. »Wenn Sie nicht gewesen wären, Miss Randall, wüsste Stacker nicht, was er jetzt weiß. Darum müssen Sie sterben. Und wenn er mir beweisen kann, dass ich Sie erschossen habe, ist er klüger, als ich es ihm zutraue.« Sie richtete die Waffe auf Mary. Sie sah die winzige schwarze Mündung und wusste, dass in ihr der Weg zur Ewigkeit lag. Dann sah sie im Bruchteil einer Sekunde, wie ein langer Arm aus dem Dunkel des Safes fuhr und sich stählerne Finger über dem Kolben schlossen. Peng! Ein rötliches Aufblitzen, und die Kugel jagte gegen die Decke. Martha Rutter wurde herumgerissen, und ein Arm presste sich gegen ihre Kehle, so dass ihr jede Bewegung unmöglich war. »Stehen geblieben und keine Bewegung, Mrs. Rutter!«, sagte eine leise Stimme, und für Mary Randall war der Bann gebrochen. »Tom! Tom Sutton!« Sie tat einen Schritt vor und hörte sein leises Lachen. »Schließen Sie die Tür auf, Mary. Ich glaube, die Namenlosen sind erledigt! Das ist doch Stackers Stimme, oder ich muss mich sehr täuschen.« Sie schwankte auf die Tür zu. Stacker raste an ihr vorbei. Dahinter tauchten die massigen Gestalten von Inspektor Flagg und Palmer auf. In Stackers Augen lag Triumph. »Martha Rutter, ich verhafte Sie wegen Beihilfe zum Mord und wegen Mordes...« Sie hörte den Worten ohne ein Zucken zu, doch ihre Augen waren zu dem Mann gewandert, der sie mit eisernem Griff festhielt, »Sutton«, sagte sie, »Sie sind der Mann, der nach Dartmoor ging?«

Inspektor Flagg nickte. »Der Mann, der nach Dartmoor ging - und der zurückkam. Darf ich Ihnen Superintendent Sutton vom Nachrichtendienst vorstellen? Was für ein Mann! Es heißt, er würde stellvertretender Chef von Scotland Yard!«

Fünfunddreißigstes Kapitel

Ein warmer Sonnenstrahl fiel durch das breite Fenster von Chefinspektor Flaggs Büro. Major Drake trat ein, begleitet von Tom Sutton. Der Major war bester Laune. »Nun, Stacker, Sie haben reinen Tisch gemacht. Aber ein oder zwei Punkte müssen noch aufgeklärt werden.« Stacker klopfte seine Pfeife aus. Ich habe eine lange Unterhaltung mit Miss Rutter gehabt, Sir. Sie wird vor kein Gericht kommen. Sir Edwin Hoare sagt, sie sei nicht in der Lage dazu. In einer Weise bin ich froh darüber, weil für viele Dinge, die wir wissen, vor Gericht kein schlüssiges Beweismaterial vorgelegt werden könnte. Martha Rutter ist Anna de Seckert und eine erstaunliche Frau. Sie war die Tochter eines bekannten Finanzmannes in der City und eine Frau von brillanter Klugheit. Als junge Frau ist sie in die Geschäftswelt eingeführt worden, und hier hat sie Hamilton Creed kennengelernt. Creed war damals ein vielversprechender Anwalt und wahrscheinlich für einen Typ wie Anna de Seckert ein attraktiver Mann. Sie haben in aller Stille in einer Dorfkirche geheiratet.« Drake beugte sich vor. »Wurde die Heirat geheimgehalten?« »Ja. Ich habe die Angeklagte danach gefragt, und sie äußerte sich ganz offen. Zu der Zeit war ihr Vater gestorben, und sie befand sich in finanziellen Schwierigkeiten. Creed hatte auch nicht viel Geld, und sie hielten es für besser, die Heirat nicht an die große Glocke zu hängen. Der Hauptgrund war allerdings, dass ihr Ezra Rutter einen Posten in seinem Büro angeboten hatte, und sie

wusste, dass der alte Herr sie nicht einstellen würde, wenn sie verheiratet war. Er gehörte zu jener altmodischen Schule, die von verheirateten Frauen im Geschäft nichts hielt. Rutter war Witwer. Er hatte seine Frau sehr geliebt und behandelte auch seinen Stiefsohn Lewis Slesser wie seinen eigenen Sohn. Rutter war zu der Zeit über Siebzig und, wie sie sagte, am Rande der Senilität. Anna de Seckert hatte weniger als ein Jahr für ihn gearbeitet, als sie merkte, dass der Zusammenbruch nahe bevorstand. Da kam ihr der Gedanke, Rutter zu heiraten. Er begann, sich mehr und mehr auf sie zu verlassen. Sie erklärte Creed ihre Idee, der zunächst dagegen war. Aber schließlich stimmte er zu, und es war nur eine Sache von Wochen, bis sie Rutter heiratete, den sie völlig beherrschte.« »Sie meinen, sie hat vorsätzlich Bigamie betrieben?« Stacker nickte. »Das war kein großes Risiko. Sie heiratete Rutter unter dem Namen Anna Smith. Smith war der Name ihrer Mutter, und Rutter dachte sich nichts dabei. Sie lebten als Mann und Frau zusammen. Lew Slesser, der damals ein kleiner Junge war, wurde in ein Internat gesteckt. Von da ab sah Rutter sehr wenig von ihm. Das war natürlich ein Teil ihres Planes. Sie wollte verhindern, dass Lewis Slesser vom Tode des alten Mannes profitierte.« »Machte Rutter ein Testament zu ihren Gunsten?« Stacker grinste. »Nein, Rutter hat nur ein Testament gemacht - und das zu Gunsten des Jungen. Sie wollte Rutter dazu bringen, dieses Testament zu vernichten und ein neues zu machen, aber der alte Herr wurde nach und nach misstrauisch. Dann bekam er einen Herzanfall und starb plötzlich, bevor sie hatte handeln können. Nun musste die Entscheidung fallen. Rutter war tot, und es war nur das eine Testament vorhanden, in dem Slesser als Erbe eingesetzt war. Creed hatte es im Besitz, denn er hatte für den alten Herrn das meiste erledigt, seit sie mit Rutter verheiratet war. Creed fälschte die Unterschrift unter einem neuen Testament, in dem Ezra Rutter alles seiner Frau vermachte.« Major Drake seufzte. »Ganz einfach. Besaß Rutter keine Verwandten?«

»Keine«, sagte Stacker. »Nur Lewis Slesser. Creed hatte sich um Slessers Erziehung gekümmert. Nun überlegte er, dass es klug sein würde, Slesser eine Rente auszusetzen. Dies tat er, und er erfand einen geheimnisvollen Onkel, Arnold Slesser, um dieses Einkommen zu erklären. Dabei stieß er auf keine Schwierigkeiten. Slesser war ein einfältiger Junge, ohne einen bösen Gedanken im Kopf. Er hatte seine Stiefmutter nie leiden können - er hatte immer Angst vor ihr -, aber er hat sie nie verdächtigt.« Drake nickte. »Und was ist mit den Namenlosen?« Der Sergeant lächelte grimmig. »Sie hatte eine Enttäuschung zu schlucken. Ezra Rutter hatte vor seinem Tod ziemlich regelmäßig verloren. Für normale Begriffe war er noch ein wohlhabender Mann, aber es war keineswegs so viel Geld vorhanden, wie sie erwartet hatte. Außerdem war Creed ein großer Spieler. Zunächst ließ sie ihn machen, was er wollte - aber dann gab es Schwierigkeiten. Creed hat sich immer mit seltsamen Existenzen umgeben. Jedenfalls wurde er in einen Juwelendiebstahl verwickelt, kam zu ihr und bat sie um Geld. Da tauchte in ihr die Idee der Namenlosen auf. In kurzer Zeit hatten die beiden einen Plan ausgearbeitet, der ihnen große Einnahmen bringen sollte. Sie war immer eine erstklassige Organisatorin und eine Meisterin des Details. Das darf man nicht vergessen. Sie hat jeden der Pläne ausgearbeitet - und sie hatte enormen Erfolg. Sie war diejenige, die Creed schob. Er war nur ein Kontaktmann, eine Art gehobener Brophey. Sie stand dahinter und zog die Fäden, und sie genoss es, weil sie die Macht liebte. Sie hätte jederzeit aufhören können, aber sie wollte nicht. Sie dachte, sie sei klüger als wir. Den Rest kennen Sie. Wir sind lange hinter den Namenlosen her gewesen - und wir waren besorgt, weil es eines der größten Unternehmen war, mit dem wir je zu tun hatten. Nachdem Ferrier vom Eastern Monitor ermordet worden war, befassten sich auch die Zeitungen damit. Mary Randall bat, mitarbeiten zu dürfen. Ferrier und sie waren verlobt gewesen. Sie ging zu Odgen und Ferguson, die sich bereitfanden, ihr zu helfen, ihr ein Vorstrafen anzudichten. Wir wussten davon, waren aber nicht sehr begeistert davon, weil wir es für zu gefährlich hielten. Sie saß ihre Zeit in Holloway ab und kam zu Creed; sie lieferte einige nützliche Informationen, aber schließlich fasste Creed Verdacht.« Er sah zu Tom Sutton hinüber.

»Zu dem Zeitpunkt stieß Major Sutton zu unserem Unternehmen. Nur Flagg wusste über Sie Bescheid, Sir.« Tom Sutton lächelte. »Das Innenministerium hat mich da hineingezogen. Ich war eben aus der Armee gekommen und wollte nach Übersee zurück, als mich das Ministerium um Hilfe anging. Es war ein vertraulicher Auftrag, von dem nur Flagg wusste. Er war der Meinung, dass der Yard unter zu großen Schwierigkeiten arbeitete, da die besten Leute des Yards den Namenlosen bekannt waren. Mit Flaggs Hilfe machte ich mich auf meine Weise an die Arbeit.« Er lächelte trocken. »Ich war nicht darauf versessen, achtzehn Monate auf das Moor zu müssen, aber in gewisser Weise hat es geholfen, den Verdacht gegen mich zu verwischen.« Stacker nickte. »Martha Rutter war Nummer eins der Namenlosen, und während der ganzen Zeit war sie der Kopf hinter Creed und den Männern, die er engagierte. Sie hat Creed wegen seiner Fehler und weil er die Nerven verlor erschossen. Selden fuhr ihn zur Wood Street, und als er in seinem Büro arbeitete, kam Selden durch die Safetür und erstach ihn.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Frau war erbarmungslos. Als sie wusste, dass ich ihr auf der Spur war, erschoss sie Selden. Dann ging sie zur Wood Street, um ihre Arbeit zu beenden. Sie wusste nicht, wieviel Mary Randall ahnte, aber sie hatte Angst vor ihr. Wenn Major Sutton nicht dort gewartet hätte - wäre ein weiterer Mord geschehen.« Sutton sagte langsam: »Ich habe vierzehn Stunden in dem Klaus gewartet. Ich hätte immer da gewartet, wenn Mary Randall dort gewesen wäre.« Er erhob sich. »Noch eine Frage, Stacker: Warum hat Creed das Originaltestament von Rutter aufgehoben?« »Das war seine Trumpfkarte«, antwortete er. »Aber er hat nie die Chance gehabt, sie auszuspielen. Ich glaube, dass Creed eine Todesangst vor seiner Frau gehabt hat. Er behielt das Testament, um es ihr eines Tages Vorhalten zu können. Martha Rutter wusste nichts von seiner Existenz, bis ich es ihr sagte.« »Sie haben es ihr gesagt?« Stacker nickte. »Ich habe ihr erzählt, was wir in Creeds Schließfach gefunden haben. Ein paar Liebesbriefe, eine Heiratsurkunde und ein Testament. Zunächst hielt ich das Testament nicht für so wichtig, weil ich so erstaunt über die

Heiratsurkunde war. Ich habe es nicht mal durchgelesen. Als ich davon sprach, sah ich, wie sie nervös wurde. Damals dachte ich, die Neuigkeit über die Heirat rege sie so auf. Aber das stimmte nicht, es war das Testament.«

Sechsunddreißigstes Kapitel

Im Victory fand eine kleine Party statt, und wenn Lew Slesser ein liebenswürdiger Gastgeber war, so übertraf ihn seine Frau noch an festlicher Stimmung. Es war eine völlig veränderte Wenda, die schwer an ihrer neuen Verantwortung trug. »Los, Inspektor Stacker«, sagte sie, »Sie müssen mehr Champagner trinken! Lew hat ihn bestellt, und wir bezahlen so was doch mit dem kleinen Finger. Wir trinken auf Ihre Beförderung.« Stacker hob anmutig das Glas. »So ein Leben! Man weiß nie, was einem bevorsteht. Vor sechs Wochen war ich noch ein Sergeant, der sich in dunklen Ecken die Hacken abtreten musste. Jetzt sitze ich hier in einem neuen Anzug und mit Gehaltserhöhung.« Er betrachtete sie. »Was für Pläne haben Sie für die Zukunft, Wenda?« »Lew bringt mich aus London fort, Mr. Stacker. Ich habe hier immer schon Schluss machen wollen. Von dem Leben hier habe ich für lange Zeit genug. Das Ganze war doch eine wundervolle Romanze, Inspektor. So was liest man doch sonst nur in Romanen. Zum ersten Male, als ich Lew gesehen habe, wusste ich, das ist der Mann, den ich heiraten würde.« Stacker hüstelte. »Nicht zum ersten Male, als Sie Lew, sondern zum ersten Male, als Sie seine Stiefmutter gesehen haben«, verbesserte er, und sie kräuselte die Lippen. »Sprechen Sie nicht mehr von dieser entsetzlichen Frau, Stacker. Wenn ich daran denke, wie sie da gelebt hat - wie eine Königin - und Lews Geld verschwendet hat, dann kocht mir das Blut.« Und dann sah sie auf. »Hallo, Liebe!«, sagte sie zu Mary. »Ist der Tanz zu Ende? Ich habe gerade zu

Inspektor Stacker gesagt, Sie wären das hübscheste Paar auf der Tanzfläche.« Mary Randall lachte. »Wie nett von Ihnen, Wenda. Fand das Inspektor Stacker auch?« »Ich habe Sie nicht tanzen sehen«, bekannte Stacker. Und Inspektor Flagg beugte sich vor. »Ich auch nicht. Ich dachte, Sie seien aus der kleinen. Nische mit den Blumen gekommen.« Er schüttelte seinen massiven Kopf. »Vor einer halben Stunde habe ich mal hineingeschaut, aber Sie haben mich nicht gesehen. Der Augenblick war wohl auch nicht end.« Mary wurde sehr rot, und Tom Sutton lachte leise. »Lass dich nicht von Flagg ins Bockshorn jagen, Mary.« Das Orchester begann einen Walzer zu spielen. »Wollen wir noch mal tanzen?« Sie gingen, und Wenda sah ihnen nach. »Ein netter Mann, dieser Tom Sutton. Wetten, dass er ihr heute Abend einen Antrag macht?« Stacker war verblüfft. »Er kennt sie erst einen Monat...«, sagte er, und sie lachte. »Was hat das damit zu tun? Ich sehe so was. Bestimmt tut er es jetzt gerade. Sehen Sie, wie sich seine Lippen bewegen...« Stacker machte ein ernstes Gesicht. Tom Sutton sagte wirklich etwas. Was er sagte, war: »In meinem Leben habe ich nichts so schön gefunden, Mary.« Ihre Wange lag dicht an seiner Schulter. Wenn sie aufblickte, konnte sie in seine Augen sehen. Sie seufzte. »Es ist wunderbar.« »Wie heißt das Stück?« »Was die Kapelle spielt? Schicksal - es ist meine Lieblingsmelodie.« »Dann wird es auch meine«, sagte er. Sie kamen in die Nähe der Nische. Er hielt für eine Sekunde an, und seine Finger schlossen sich über den ihrigen. »Mary - ich möchte tun, was Flagg vorhin andeutete: Ich möchte mit dir reden. Hast du was dagegen?«

Sie sah in seine Augen und folgte ihm den Weg entlang, den sie nun gemeinsam gehen würden.

ENDE

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Implerstraße 24 80331 München Deutschland

Texte: William M. Duncan/Apex-Verlag/Successor of William M. Duncan. Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Lektorat: Dr. Birgit Rehberg. Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg. Satz: Apex-Verlag. Übersetzung: Kuise Dräbitz und Christian Dörge (OT: The League Of The Nameless Men).

Alle Rechte vorbehalten.

Tag der Veröffentlichung: 20.07.2021

https://www.bookrix.de/-ko2a6c8e0e72865

ISBN: 978-3-7487-8924-6

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