Pension Kleine Möwe Band 1: Die ersten Gäste kommen
Lynda Lys and Eliza Simon
Published by CassiopeiapressAlfredbooks, 2021.
Inhaltsverzeichnis
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Pension Kleine Möwe | Band 1: Die ersten Gäste kommen | von Lynda Lys und Eliza Simon
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Also By Lynda Lys
Also By Eliza Simon
Pension Kleine Möwe
Band 1: Die ersten Gäste kommen
von Lynda Lys und Eliza Simon
Der Umfang dieses Buchs entspricht 117 Taschenbuchseiten. Haro Fries erbt von seinem Onkel Heiko ein Haus auf Sylt. Kurz darauf macht er sich zusammen mit seiner Frau Wencke und den beiden kleinen Kinder auf den Weg, um das Erbe zu begutachten. Das Haus entpuppt sich als beschauliche Pension mit dem idyllischen Namen »Kleine Möwe« und stellt das junge Paar vor die Entscheidung: Sollen sie verkaufen? Vermieten? Oder gar ihr gut bürgerliches Leben in Flensburg aufgeben und selbst betreiben? Die Entscheidung ist schnell getroffen, doch ist ihr Schritt in eine ungewisse Zukunft nicht gefeit vor den kleinen und größeren Sorgen und Nöten sowie den Hindernissen, die eine Erbschaft mit sich bringt ...
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker © Roman by Author © Cover: Steve Mayer, 2021 Lektorat/Korrektorat: Kerstin Peschel © dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius. Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle Rechte vorbehalten. www.AlfredBekker.de
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1. Kapitel
Wencke Fries saß am Esszimmertisch und betrachtete den Briefumschlag, den sie mit der anderen Post gerade aus dem Briefkasten geholt hatte. Sie drehte und wendete ihn in ihren Händen und überlegte, ob sie das Schreiben, welches an ihren Mann Haro gerichtet war, öffnen sollte. Der Absender war das Amtsgericht in Niebüll. Neugierig war sie schon, doch bis Haro von der Arbeit nach Hause kam, würden noch Stunden vergehen. Schließlich war es erst um die Mittagszeit und ihr Ehemann kam in der Regel nie vor sieben Uhr abends nach Hause. Wencke seufzte und schaute zur Uhr, schon halb zwei. Am Morgen versprach sie ihren Kindern Mia und Janis, sie heute früher aus dem Kindergarten abzuholen. Sie legte den Brief auf Haros Platz und erhob sich. Es war Mitte Mai und die Sonne, die seit ein paar Tagen vom wolkenlosen Himmel schien, verteilte auch heute wieder mäßig ihre Wärme über den Ort Weiche, der ein Stadtteil der kreisfreien Stadt Flensburg war. Dort lebte sie mit ihrem 33-jährigen Ehemann Haro, ihrer 5-jährigen Tochter Mia und dem 3-jährigen Sohn Janis seit sechs Jahren im Ochsenweg. Sie wohnten dort zur Miete in einem Reihenmittelhaus in einer hübschen Vierzimmerwohnung. Nach hinten raus lag ein klitzekleiner Garten und bis zur Stadtmitte waren es knapp dreieinhalb Kilometer. Sie zog eine leichte Strickjacke über, kämmte sich durch ihr wuscheliges braunes Haar und zog sich ihre hellen Sportschuhe an. Im Café Hübscher wollte sie mit den Kindern ein Eis essen gehen und anschließend auf den Spielplatz, der gleich um die Ecke lag. Sie öffnete die Eingangstür, griff beim Herausgehen nach ihrem Rucksack und schritt durch den kleinen Vorgarten. Am Zaun stand ihre Nachbarin Frau Paulsen und winkte sie heran. »Hallo Frau Fries, schön, dass ich Sie treffe, haben Sie schön gehört, dass ...«
Wencke unterbrach sie lachend und zeigte mit dem Finger auf ihre Uhr. »Frau Paulsen, leider habe ich keine Zeit, ich muss los. Mia und Janis warten im Kindergarten auf mich, wir wollen noch auf den Spielplatz.« Frau Paulsen zog beleidigt die Mundwinkel nach unten. »Ja, ja, na dann mal schnell. War auch nicht so wichtig«, sagte sie und fing an, ihren kleinen Rosenbusch zu gießen. Wencke war froh, der Tratschtante zu entkommen. Frau Paulsen wusste über jeden und alles Bescheid, nichts blieb ihr verborgen. Wencke fand es immer äußerst unangenehm, sich den Klatsch über ihre Nachbarn anhören zu müssen. Ihr war es egal, ob sich das Ehepaar drei Hä weiter scheiden ließ oder dass der Sohn von Familie soundso sein Abitur nicht geschafft hatte. Frau Paulsen wusste alles! Wencke schüttelte kaum merklich ihren Kopf und lief los. Der Kindergarten lag keine fünfhundert Meter entfernt von der Wohnung und war in fünf Minuten zu Fuß zu erreichen. Die Tagesstätte war umzäunt und das kunterbunte Gebäude war von einem großen Garten umgeben. Wencke drückte die PIN-Nummer am Eingangstor und sogleich öffnete es sich mit einem leisen Summton. Sie schloss die Gartentür hinter sich und betrat das Haus. Drinnen hörte man das muntere Geplapper der Kleinen, sie waren gerade dabei, sich anzuziehen, um in den großen Garten spielen zu gehen. Von Weitem sah sie Janis, der sich redlich bemühte, seine neuen Schuhe anzuziehen. Immer wieder steckte er seinen kleinen Fuß in den Schuh, doch irgendwie schien es nicht zu funktionieren. Mia, die sich in einen Gruppenraum weiter befand, kam heraus und schaute zu, wie Janis sich abmühte. Sie ging auf ihn zu, setzte sich neben ihn und Wencke hörte die belehrenden Worte ihrer kleinen Tochter: »Janis, du musst den Schuh vorher aufmachen, guck mal so«, sagte sie und riss an dem Klettverschluss. Mit einem lauten Ratschen öffnete sie seinen Schuh und gab ihn ihrem kleinen Bruder wieder zurück. »Und dann kannst du da hineinschlüpfen. Probier’ es mal.«
Wencke sah dieser Szene gerührt zu und bewegte sich in Richtung ihrer Kinder. Janis erspähte seine Mutter zuerst und sprang vom Fußboden auf. Mit nur einem Schuh rannte er seiner Mutter in die Arme. Der kleine Knirps zeigte ihr stolz seinen Fuß und krähte: »Das habe ich ganz alleine gemacht.« Wencke lachte und strich ihm liebevoll über den Kopf. »Prima, wie du das gemacht hast«, lobte sie ihn. »Und wenn du es auch noch mit dem zweiten Schuh schaffst, dann können wir los, um ein Eis essen zu gehen.« Janis rannte zurück und in Windeseile zog er den zweiten Schuh an. Mia nahm währenddessen ihre Kindergartentasche von Haken und rannte ebenfalls auf ihre Mutter zu. Wencke öffnete breit ihre Arme und fing sie auf. »Na, mein kleiner Sonnenschein. Ich habe gesehen, wie du deinem Bruder geholfen hast. Das war wirklich lieb von dir«, lobte Wencke ihre Tochter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie verabschiedeten sich von der Erzieherin und zu dritt verließen sie den Kindergarten.
*
Im Café Hübscher angekommen, schaute sich Wencke um. Die Tische, die draußen in einer Art Vorgarten standen, waren gut besucht, die Gäste kamen und gingen im Minutentakt. Sie ergatterten noch einen kleinen Tisch in der hintersten Ecke und setzten sich. Eine gestresste Kellnerin nahm ihre Bestellung auf und zehn Minuten später verdrückte jeder von ihnen einen großen Eisbecher. Janis rutsche ungeduldig auf seinen Stuhl hin und her, er wollte nun endlich auf den Spielplatz. Sein Schokoladenmäulchen stand nicht eine Sekunde still und er plapperte die ganze Zeit, bis Mia genervt ihre kleinen Augen rollte. »Janis, nun sei doch mal still«, sagte sie und Wencke dankte ihr innerlich für diese Worte. Sie winkte die Kellnerin heran, bezahlte und kurze Zeit später machten sie sich auf den Weg.
Unterwegs nahm Wencke eine Packung Feuchttücher aus ihrem Rucksack und wischte Janis über sein verschmiertes Gesicht. »Man muss ja nicht gleich erkennen, dass du gerade ein Eis gegessen hast«, schmunzelte Wencke und gab Janis einen zarten Klaps auf den Hintern. Eine Querstraße weiter lag der Spielplatz. Als sie dort ankamen, herrschte auch dort reges Treiben. Wencke suchte sich einen schattigen Platz auf einer der Bänke, stellte ihren Rucksack und die Kindergartentaschen ihrer Sprösslinge neben sich und seufzte zufrieden auf. Sie war mit sich und ihrer kleinen Welt im Reinen. Sie liebte Haro wie am ersten Tag vor neun Jahren, als sie sich kennenlernten. Zusammen besaßen sie zwei gesunde Kinder und ihren Traum, als selbstständige Hebamme zu arbeiten, würde sie auch irgendwann verwirklichen. Sie war zurzeit als Angestellte in einem Geburtshaus Teilzeit beschäftigt. Ihr gefiel es dort sehr gut, der Weg zur Arbeit war nicht weit und mit Rücksicht auf ihre Kinder machte sie bis auf Ausnahmen den Frühdienst. In den Sommermonaten fuhr sie die knapp vier Kilometer mit dem Fahrrad und nur bei eisiger Kälte oder wenn es in Strömen regnete, benutzte sie ihr kleines Auto. Nach etwa einer Stunde fing Janis an zu nörgeln. Mit weinerlicher Stimme kam er zur Bank gelaufen und wollte nach Hause. Er setzte sich bei Wencke auf den Schoß, kuschelte sich an sie und schaute Mia beim Rutschen zu. Wencke spürte, dass er müde wurde und entschloss sich, den Heimweg anzutreten. Sie rief Mia zu sich und gemeinsam gingen sie nach Hause. Sie steckte beide Kinder in die Badewanne und gegen achtzehn Uhr aßen sie zu Abend. Janis kaute lustlos auf seinem Wurstbrot herum und seine Augen wurden immer kleiner. Sie nahm den kleinen Kerl hoch, ging ins Bad und das Ritual des Zähneputzens fing an. »Ich bin so müde, ich kann nicht putzen«, versuchte Janis seine Mutter zu überlisten. Doch Wencke ließ in diesem Fall nicht mit sich reden. Sie nahm die kleine Kinderzahnbürste und putze ihm die Zähne, da gab es für Wencke keine Kompromisse. Sie trug ihn ins Bett und als sie ein paar Minuten später nach ihm schaute, schlief er bereits tief und fest. Mia mit ihren fünf Jahren durfte etwas länger aufbleiben. Meistens, wenn Haro
nicht zu spät von der Arbeit nach Hause kam, brachte er seine Tochter ins Bett. Nach dem Zähneputzen gab es noch eine kleine Gutenachtgeschichte und dann schlief auch Mia. Wencke bereite in der Küche für Haro und sich ein paar Brote vor und öffnete eine Weinflasche. Er kam aus dem Kinderzimmer und stellte sich hinter seiner Frau. Er küsste sie sacht in den Nacken und fragte: »Wie war dein Tag heute? Ich hoffe, die Kinder waren lieb.« Wencke drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn. Sein dunkelblondes, volles Haar war jetzt etwas zerzaust, sicher hatte er wieder mit Mia wild herumgekuschelt, und seine blauen Augen wanderten über ihr Gesicht. Wencke streichelte sacht über seinen Dreitagebart, den er extra für sie hat wachsen lassen. Sie fand ihn wahnsinnig sexy mit diesem Bart und er ließ ihn ihr zuliebe dran. Sie spürte seine starken Arme um ihre Taille und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Plötzlich fiel ihr der Brief vom Amtsgericht Niebüll ein. »Schatz, du hast heute einen Brief vom Amtsgericht erhalten. Er liegt auf dem Esszimmertisch. Ich bin neugierig was sie wollen. Amtsgericht Niebüll. Was kann das sein?« Sie drehte sich aus seiner Umarmung, nahm den Teller mit den geschmierten Broten und die Weinflasche und ging ins Esszimmer. Dort stellte sie alles ab, während er mit zwei leeren Weingläsern folgte. Er setzte sich und nahm das Schreiben zur Hand. Mit einem Ratsch öffnete er den Brief und las. Er ließ den Brief sinken und schaute Wencke an. »Wir haben geerbt«, sagte er tonlos und räusperte sich. »Wir haben geerbt?«, wiederholte sie und zog ihre Augenbrauen zusammen. »Von wem denn? Meine Eltern und mein Bruder leben noch, deine Eltern leben, deine Großeltern sind schon eine Weile tot und meine erfreuen sich bester Gesundheit ...« »Onkel Heiko«, stotterte er. »Ich habe einen Onkel, den Bruder meiner Mutter. Heiko Brodersen. Ich kann mich nur noch dumpf an ihn erinnern.« Er hielt inne und überlegte.
»Das letzte Mal hatte ich ihn gesehen, da war ich ungefähr elf oder zwölf Jahre alt. Er ist der ältere Bruder meiner Mutter.« »Du hast mir nie von ihm erzählt«, bemerkte Wencke und schaute ihn fragend an. »Ich weiß auch nicht, irgendwie geriet er bei mir in Vergessenheit. Ich weiß nur, dass es damals einen Riesenstreit zwischen meiner Mutter und ihm gab und dass sie mit ihm gebrochen hat. Sie wollte nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.« Haro starrte mit leerem Blick auf den Brief. »Ich habe den Streit auch nicht so wirklich mitbekommen, hörte immer nur Bruchstücke, wenn sie sich mit meinem Vater darüber unterhielt. Wenn ich dazukam, wechselten sie meistens rasch das Thema.« Haro zuckte leicht mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Und so oft war er auch nicht da. Er lebt auf Sylt. Ähm, ich meinte, lebte«, verbesserte er sich und schaute wieder auf das Schreiben. Im Anhang des Schreibens war ein zweites Schriftstück, das er nun Wencke hinüberschob. Es war eine Abschrift des Testaments. Dort stand geschrieben, dass er, Haro, ein Haus auf Sylt erbt. »Ich werde morgen vom Büro aus versuchen, etwas über meinen Onkel in Erfahrung zu bringen«, sagte Haro und schüttelte zum wiederholten Mal den Kopf. »Ich kann es nicht fassen. Ein Haus auf Sylt.«
*
Am Freitagabend kam Haro mit all den gewünschten Informationen seiner Erbschaft nach Hause. Er hatte mit seiner Mutter gesprochen, die einen Tag zuvor ebenfalls einen Brief vom Nachlassgericht erhielt. Sie wurde lediglich mit ein paar Erinnerungsstücke
aus Heikos und ihrer Kindheit testamentarisch bedacht, was sie aus Anstand, aber auch aus reiner Neugier annahm. Haro bekam mit seinen anwaltlichen Fähigkeiten heraus, dass das Haus von Onkel Heiko in Westerland, in der Nähe der Nordseeklinik Westerland, lag. Heiko Brodersen war dort kein unbekannter Mann und der Anwalt, den Haro dort anrief, kannte seinen Onkel sogar persönlich und gab Haro die Adresse. Das Haus war schuldenfrei und, soweit sich der Sylter Anwalt erinnern konnte, ein klein wenig vernachlässigt. Heiko Brodersen war an einem Herzinfarkt verstorben, die Beerdigung wurde bereits vor zwei Wochen vollzogen. Er hatte keine Frau, keine Kinder und lebte die letzten Jahre allein in dem großen Haus. »Weißt du was, Schatz?«, sagte Haro zu seiner Frau. »Lass uns doch morgen einfach mal nach Westerland fahren. In zweieinhalb Stunden wären wir da und schauen uns das Haus an. Wir essen dort zu Mittag und gegen Abend fahren wir wieder zurück. Was sagst du?« Erwartungsvoll schaute er Wencke an. »Na klar«, erwiderte sie. »Das machen wir. Ich buche uns online gleich ein Ticket für den Sylt-Shuttle-Zug. Und für die Kinder wird es auch ein Spaß sein. Ach, was bin ich aufgeregt«, stimmte sie zu, während sie im gleichen Atemzug aufstand und ihren Laptop holte. Sie tippte flugs die gewünschte Internetseite ein und kaum fünf Minuten später klappte sie den PC wieder zu. »Morgen früh um acht Uhr geht es los«, rief Wencke und strahlte über das ganze Gesicht.
*
Am nächsten Morgen saß die gesamte Familie Fries um kurz vor acht im Auto und fuhr durch Flensburg. Janis zappelte vor Aufregung auf seinem Rücksitz hin und her und konnte es kaum erwarten, endlich den großen roten Zug zu sehen. Im Sekundentakt fragte er Haro, wann sie denn nun endlich da wären. Haro nahm es gelassen und amüsierte sich darüber, dass sein kleiner Sohn unermüdlich immer und immer wieder dieselbe Frage stellte. Wencke rollte nur
mit den Augen und Mia sang ein Kinderlied nach dem nächsten, wobei sie sehr textsicher war. Nach knapp dreiundvierzig Kilometern kamen sie in Niebüll an und folgten dem ausgeschilderten Weg zum Verladeterminal des Sylt-Shuttle-Zuges. Haro rollte mit dem Wagen zum Terminal, um dort auf den roten Autozug aufzufahren, damit sie huckepack auf dem Zug auf die Insel fahren konnten. Während der halbstündigen Überfahrt blieben sie in ihrem Fahrzeug sitzen. Janis war so beeindruckt davon, dass er während der kompletten Fahrt fast keinen Ton sagte. Er schaute mit großen Augen aus dem Fenster und gluckste freudig vor sich hin, als der Zug den Hindenburgdamm überquerte. In Westerland angekommen rumpelte die gesamte Autoflotte vom Shuttle-Zug hinunter und weiter ging die Fahrt. Jetzt war Mia an der Reihe zu quengeln, doch keine zehn Minuten später waren sie am Haus von Onkel Heiko angekommen. Haro lenkte den Wagen an den Seitenstreifen und drehte den Zündschlüssel um. Er schaute Wencke an und sie nickte. Gleichzeitig öffneten sie die Autotüren und jeder von ihnen nahm ein Kind vom Kindersitz. Haro kam mit Mia an der Hand auf den Gehweg und alle vier fassten sich bei den Händen. Gemeinsam überquerten sie die Straße und blieben vor einem hölzernen kleinen Zaun stehen. Direkt am Gartentor hing ein altes, verwittertes Holzschild auf dem ›Pension Kleine Möwe‹ stand. Wieder schaute sich das Ehepaar wortlos an. Haro zog ein Stück Papier aus seiner Hosentasche und las. »Die Adresse ist richtig«, sagte er. »Aber wieso steht auf dem Schild Pension?« »Keine Ahnung«, erwiderte Wencke und zuckte mit den Schultern. Sie drückte die Klinke des Gartentores hinunter, doch sie war verschlossen. Vor ihnen lag ein großer, mittlerweile leicht verwilderter Garten, durch den sich ein Weg mit dunklen Gehwegplatten schlängelte. Er endete an einem großen, braunrot verklinkerten Haus mit einem Reetdach und weißen Fenstern. Wencke zeigte mit dem Finger in Richtung Haus. »Schatz, schau doch mal, wie
süß.« Er folgte mit seinen Augen die Richtung ihres Fingers und hob die Schultern. »Was ist da?«, fragte er und schaute sie an. »Na siehst du das nicht? Eine Klöntür.« »Eine was?«, fragte Haro verständnislos und hob fragend die Hände nach oben. »Weißt du nicht, was eine Klöntür ist?«, lachte Wencke und kniff ihm in die Wange. »Du weißt doch sonst immer alles.« Haro schüttelte den Kopf. »Da muss ich diesmal en.« »Eine typische Klöntür, die unabdingbar zu einem Friesenhaus gehört und viel auf Sylt zu finden ist. Im Gegensatz zu unseren modernen Haustüren ist solch eine Tür in ein Ober- und ein Unterteil geteilt.« »Was du alles weißt«, lachte Haro. »Ich weiß es auch nur, weil meine Oma mir das mal erzählt hat. Sie hatte als Kind bei ihren Eltern auch solch eine Tür«, gab Wencke zu und lachte. »Was machen wir jetzt? Schade, dass wir nicht reinkommen«, bemerkte Haro und hob Mia auf den Arm, die sich von seiner Hand löste. Wencke hob Janis auf den Arm und so standen sie ratlos vor dem Grundstück. Plötzlich hörten sie ein zaghaftes Hüsteln hinter sich. Haro drehte sich erschrocken um und schaute geradewegs in das Gesicht eines älteren Mannes. »Guten Tag. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Niels Jensen. Kann ich Ihnen helfen? Die Pension ist leider geschlossen. Der Besitzer ist vor Kurzem verstorben. Sie suchen ein Zimmer?« »Nein«, sagte Haro. »Ich bin der Neffe von Herrn Brodersen. Mein Name ist Haro Fries aus Flensburg. Wir haben das Haus geerbt.« Er streckte Herrn Jensen die Hand entgegen. Der Nachbar ergriff sie und beide
Männer schüttelten sie zur Begrüßung. »Ach, Sie sind der Neffe. Heiko erwähnte Sie des Öfteren. Sie müssen wissen ...« Herr Jensen schwieg betroffen und schluckte. »Sie müssen wissen, wir pflegten guten Kontakt zu Ihrem Onkel. Er hatte ja sonst keinen Menschen mehr. Seine Freundin, die jahrelang bei ihm war, verließ ihn vor zwei Jahren und ist nach Hamburg zurückgezogen. Es war ihr hier zu einsam auf unserer schönen Insel.« Herr Jensen schüttelte den Kopf, so, als wollte er ausdrücken, dass diese Frau damit absolut unrecht hatte. »Und Kinder hatte er auch nie. Er erzählte uns, also mir und meiner Frau Eike, dass es noch eine Schwester gab, aber vor vielen, vielen Jahren der Kontakt zu ihr abbrach. Und von Ihnen erzählte er ...« Niels blickte Haro eindringlich an. »... nur Gutes«, schob er hinterher und lächelte. »Wissen Sie was?« Er hob den Zeigefinger gen Himmel und nickte eifrig. »Ich werde Ihnen den Schlüssel des Hauses holen. Heiko hinterlegte bei uns einen Ersatzschlüssel. Ich glaube schon, dass es in seinem Sinne wäre, Ihnen diesen zu geben.« Er schaute Wencke und Haro an. »Mama, ich muss Pipi«, sagte Janis und rutsche unruhig auf Wenckes Arm hin und her. Sie ließ ihren Sohn hinunter und stellte ihn auf den Gehweg. »Dann werde ich mich mal beeilen«, lachte Herr Jensen und stiefelte los. Er ging zum Nachbargrundstück und keine zwei Minuten später kam er mit einem kleinen Schlüsselbund zurück. Er überreichte Haro den Ring, an dem vier Schlüssel hingen und zeigte mit dem Finger auf jeden Einzelnen und sagte: »Gartentor, Haustür, Haustür, Nebengelass.« Haro ließ Mia von seinem Arm hinunter und steckte den Gartentürschlüssel in das Schloss. Er drehte ihn herum und drückte die Klinke hinunter. Mit einem Quietschen öffnete sich das Tor und er lief hindurch. Mia und Janis rannten an ihm vorbei und zum Schluss folgte Wencke.
Herr Jensen blieb am Eingang des Gartentores stehen. »Wenn Sie Fragen haben, Herr Fries, ... Sie können jederzeit bei uns klingeln. Ich lass Sie jetzt allein. Viel Spaß beim Besichtigen.« Er drehte sich um und verschwand. »Haro, ich kann es kaum glauben. Kneif mich«, sagte Wencke und lief zur Eingangstür. »Dann lass uns hineingehen. Wir sollten als Erstes das Badezimmer aufsuchen. Sonst geht noch was in die Hose«, lachte er und nahm Janis an die Hand. Haro schloss die Eingangstür auf und stieß sie auf. Ein leicht muffiger Geruch schlug ihm entgegen und es war stockdunkel dort drin. Er tastete nach einem Lichtschalter und wurde auf der rechten Seite fündig. Er drückte den Kippschalter nach unten und sofort wurde der Eingangsbereich hell erleuchtet. Wencke und die Kinder folgten ihm, Mia drückte sich ängstlich an ihre Mutter. »Mama, hier riecht es so komisch«, flüsterte sie und schaute sich um. Wencke lachte. »Mausi, hier ist nur schlechte Luft in den Räumen, weil hier lange nicht gelüftet wurde. Das werden wir aber gleich ändern. Wir suchen zuerst das Badezimmer und wenn Janis auf der Toilette war, dann laufen wir durch alle Räume und öffnen die Fenster.« Gleich hinter der ersten Tür auf der linken Seite verbarg sich ein geräumiges Badezimmer. Wencke half Janis auf den WC-Sitz und war froh, dass der kleine Bursche so lange anhalten konnte. Anschließend wuschen sie sich die Hände und gemeinsam startete die kleine Familie ihre Erkundungstour. In jedem Raum, den sie betraten, öffneten sie die Fenster, klappten die zweiflügligen Fensterläden nach außen auf und ließen das Tageslicht herein. Gleich hinter dem breiten Eingangsflur lag ein großes Wohnzimmer. Die Möbel, die sich darin befanden, waren bereits in die Jahre gekommen und sahen altbacken aus. Die Schrankwand war in Eiche dunkel gehalten und das riesige Sofa mit den schrecklichen Ornamenten auf dem Stoffbezug stand verstaubt in der Mitte.
Ein gefliester Couchtisch in Brauntönen stand davor und der Teppichläufer, der darunter lag, hatte auch schon bessere Zeiten erlebt, er war abgetreten und verblichen. Ein achtarmiger Leuchter mit Glühbirnen, die wie Kerzen aussahen, hing an der Decke und die Bilder an den Wänden zeigten maritime Motive wie Leuchttürme, Strandkörbe und das Meer. Im nächsten Raum sah es nicht besser aus. Es war das Schlafzimmer mit einem hölzernen Doppelbett, einem großen dreitürigen Kleiderschrank und eine Wäschekommode, farbig end zum Kleiderschrank. Auch hier roch es nach abgestandener Luft und Wencke öffnete das Fenster. Mia und Janis rannten zu dem Doppelbett, kletterten hinauf, sprangen darauf herum und amüsierten sich königlich darüber. Haro öffnete sämtliche Türen des Kleiderschrankes, doch die Hälfte davon war leer. Nur im rechten Teil hingen ein paar Hosen, Oberhemden und Jacken. Wencke öffnete die Schubladen der Kommode, in der Unterwäsche, T-Shirts und Socken lagen. »Kommt Kinder, wir gehen weiter«, sagte Wencke und fing Janis auf, der gerade im Begriff war, vom Bett herunterzuspringen. Der nächste recht große Raum muss Onkel Heikos Arbeitszimmer gewesen sein. Dort stand ein uralter Schreibtisch, ein lederner Bürosessel, der Boden war mit hellem Laminat ausgelegt. An den Wänden waren Regale angebracht, auf dem eine Unmenge von Büchern stand. Haro zog vereinzelt ein Buch heraus und las die Titel. Es war alles dabei. Von Sachbüchern über Krimis bis hin zu alten Lexikas, Atlanten und eine Vielzahl an Büchern über Sylt. Hieraus ließen sich gut und gerne zwei Kinderzimmer machen, schoss es Wencke durch den Kopf. Sie gingen zurück in den Flur und nahmen die nächste Tür. Dort verbarg sich die Küche. Wencke trat ein und ihr entschlüpfte ein lang gezogenes »Oohhh!« Sie traute ihren Augen nicht. Eine Küche, von der sicher
jede Frau träumte. Die Front in heller Birke, die Griffe im matten Chrom, der Backofen in Brusthöhe, daneben ein Ceranfeld. Ein Stückchen weiter befand sich eine integrierte Spülmaschine, alles im Landhausstil gehalten. »Du Haro«, sagte sie im Flüsterton. »Die Küche kann noch nicht alt sein. Welch Traum!« »Die scheint ein Vermögen gekostet zu haben«, antwortete Haro und drehte sich um die eigene Achse. »Und riesengroß. Schau, wie viele Schränke es hier gibt«, sagte er und öffnete die erste Tür auf der rechten Seite der Küchenfront. Dort lagen Unmengen von Vorräten wie Kaffee, Filtertüten, Kakaopulver und Servietten. Haro öffnete den zweiten Schrank. Geschirr in rauen Mengen stand dort fein säuberlich gestapelt. Auf der rechten Seite der Küche befand sich eine weitere Eingangstür, in der ein Schlüssel steckte. Haro drückte die Klinge nach unten, sie war verschlossen. Er drehte den Schlüssel herum, öffnete sie und ging in den Raum. Wencke folgte ihm. Dort standen drei Tische mit je vier Stühlen und an der Wand entlang stand ein großer Tresen, der mit weißen Leinentüchern abgedeckt war. Es war unverkennbar der Frühstücksraum für die Gäste. »Pension«, murmelte Haro vor sich hin. »Na klar«, rief er laut. »Eine Pension. Onkel Heiko hatte hier eine Pension gehabt. Das Haus ist riesengroß. Ich wette mit dir, dass im Obergeschoss die Zimmer liegen.« Sie entdeckten neben dem Frühstückstresen eine weitere Tür. »Hat hier jedes Zimmer zwei Türen?«, fragte Haro kopfschüttelnd. Sie war verschlossen und diesmal steckte kein Schlüssel im Schloss. »Eine Eingangstür und eine Ausgangstür«, spottete Wencke. »Los Schatz, jetzt will ich es wissen, lass uns nach oben gehen.« Er schnappte sich Mia und Janis und ging mit den beiden Kindern zurück in den Eingangsflur. Doch dort war keine Treppe nach oben zu finden. Wencke kam hinterher und blieb genauso ratlos stehen wie Haro und schaute sich um.
»Aber hier muss es doch irgendwie nach oben gehen«, murmelte sie und überlegte. Plötzlich schlug sie sich gegen die Stirn. »Hat der nette Herr Jensen nicht zweimal Haustür gesagt?« Haro überlegte. »Ja? Hat er?«, fragte Haro und zuckte mit den Schultern. »Na klar, zeig mal den Schlüsselbund«, bat Wencke und hielt fordernd ihre Hand auf. Haro zog den Bund aus der Hosentasche und legte ihn in Wenckes Hand. Sie nahm jeden Schlüssel einzeln zwischen die Finger und zählte auf: »Gartentor, Haustür, Haustür, Nebengelass. Sag ich ja, er hat zweimal Haustür gesagt. Lass uns um das Haus gehen, vielleicht gibt es hinten noch einen Eingang.« Sie öffneten die Klöntür und traten wieder in den Garten. Sie liefen um das Haus herum und blieben auf der Rückseite des Hauses stehen. Dort fanden sie eine weitere große weiße hölzerne Eingangstür. Haro steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal herum. Er drückte die schmiedeeiserne Klinke nach unten und mit leichtem Quietschen öffnete er sie. Vor ihnen lag ein hell gefliester Raum, in dessen Mitte eine breite Holztreppe stand. Sie schien erst vor Kurzem abgezogen und frisch geölt worden zu sein. Auf der rechten Seite neben der Treppe war eine Tür, die der aus dem Gästeraum ähnelte und es lugte ein Schlüssel aus dem Schlüsselloch. Wencke drehte ihn herum und stieß die Tür auf. Zum Vorschein kam der eben entdeckte Frühstücksraum. Zum Überlegen kamen sie nicht, denn Mia und Janis rannten auf die Treppe zu und blieben am Treppenabsatz stehen. »Dürfen wir Mama?«, fragte Mia und schaute Wencke fragend an. »Na los, auf geht’s«, rief Haro und alle vier stiegen die Treppe nach oben. Die Dielen der Holztreppe knarzten leise bei jedem Schritt, den sie taten und der Geruch der benutzten Holzlasur lag noch ganz leicht in der Luft. Am oberen Treppenabsatz blieben sie stehen und schauten sich um. Ein breiter Flur lag vor ihnen, von dem vier Türen abgingen. Auf dem Flur befand sich ein großer Kühlschrank, der aber nicht angeschlossen war, die
Kühlschranktür stand weit offen. Ein großes Fenster über die ganze Breite des Hauses erhellte den kompletten Flur, die Wände waren in einem hellen Beige getüncht. Auch hier hingen maritime Bilder an den Wänden und an jeder Tür war eine quadratische Kachel mit einem Symbol in der Mitte angebracht. Mia blieb vor der ersten Tür stehen. »Eine Möwe«, sagte sie und ging zur nächsten Tür. »Ein Leuchtturm.« Sie drehte sich um und betrachtete die Tür auf der gegenüberliegenden Seite. »Ein Strandkorb.« Daneben entdeckte sie die vierte Tür. »Mama«, rief Mia erstaunt. »Hier ist eine Tür ohne Kachel, wollen wir mal schauen, was da drin ist?« Sie öffneten die Tür und Mia streckte ihren Kopf vorsichtig in den dunklen Raum. Wencke knipste gleich links hinter der Tür das Licht an. Sie entdeckten einen komplett weiß gefliesten Hauswirtschaftsraum. Gleich rechts neben der Tür stand eine Waschmaschine auf der ein Trockner stand. Die anderen Wände waren mit Metallregalen bestückt in denen sich Wäsche und Putzutensilien befanden. »Komm Mama, hier riecht es so komisch«, stellte Mia fest und zog ihre Mutter aus dem nach Putzmitteln riechenden Raum. Mit einem Lächeln zog Wencke die Tür wieder ins Schloss. »Lasst uns in das Zimmer der Möwe schauen«, sagte Haro und strich seiner Tochter über den Kopf. Mia hüpfte zurück und öffnete die Möwentür. Der Raum war verdunkelt, Haro zog die Gardinen zur Seite und öffnete die Fenster samt Fensterläden. Helle Sonnenstrahlen fielen durch das große Zimmer und erhellten den kompletten Raum. In der Mitte stand ein großes Doppelbett mit zwei kleinen Nachttischen und an der einen Wand stand ein zweitüriger Kleiderschrank. Unter dem Fenster stand ein kleiner Tisch, um den sich drei Stühle gruppierten, auf der anderen Seite, neben einer kleinen, weiteren Tür war eine schmale Kommode. Wencke öffnete die kleine Tür und trat ein. Es war ein gefliestes Badezimmer in Blau-Weiß gehalten, mit einem WC, einem Waschbecken und einer
Duschkabine. Das Bad war nicht sehr groß, aber immerhin gab es ein kleines Fenster. Wencke schob die Plissee-Jalousie nach oben und schaute direkt in den Garten. Janis krabbelte sofort wieder auf das Bett, doch Haro zog ihn sofort herunter. »Janis, wir wollen uns noch die anderen Zimmer anschauen, komm du kleiner Hüpfefloh«, sagte er und nahm ihn auf den Arm. Sie öffneten die Tür vom Leuchtturmzimmer. Es war genauso groß wie das erste Zimmer, besaß die gleiche Ausstattung an Möbeln. Das letzte Zimmer, welches sie betraten war das Strandkorbzimmer. Es war um einiges größer als die beiden ersten Gästezimmer. Zusätzlich stand eine Ausziehcouch auf der rechten Seite und war somit für vier Personen gedacht. Als sie die Besichtigung beendetet hatten, standen sie in dem großen Flur und schauten sich an. »Wir haben nicht ein Haus, sondern eine Pension geerbt, Haro«, sagte Wencke und strich ihm über den Rücken. »Was machen wir mit einer Pension?« Sie schaute ihn fragend an. »Ich weiß es nicht, Wencke. Ich muss das erst einmal verdauen. Verkaufen? Vermieten? Selbst betreiben? Ich weiß es wirklich nicht«, sagte er leise. »Wo ist Mia?«, fragte Haro plötzlich. Er und Wencke drehten sich suchend um, doch Mia war nirgends zu sehen. Janis saß auf dem Fußboden im Flur und spielte artig mit seinem Kuscheltier. Wencke sah die Tür zum Möwenzimmer einen Spalt breit offenstehen und öffnete die Tür ganz. Mia hatte den Kleiderschrank geöffnet und sich von dort eine Bettdecke herausgezogen. Sie lag mit dieser auf dem Doppelbett und schlief. Haro kam dazu und umarmte seine Frau. »Die Kinder sind müde. Was machen wir jetzt?«, fragte er flüsternd. »Nach Hause fahren?« »Nein, weißt du was?«, erwiderte Wencke leise. »Ich lege mich jetzt zu Mia und du schnappst dir Janis und gehst in das andere Zimmer. Leg dich mit ihm für eine Stunde hin, er ist sicher auch müde«, schlug sie vor. »Und dann sehen wir weiter. Vielleicht gehen wir anschließend was Essen und sprechen danach noch mal kurz mit Herrn Jensen, dem Nachbarn.«
»In Ordnung, Schatz, so machen wir das«, stimmte Haro zu. Er hob seinen Sohn vom Boden auf und ging mit ihm ins Leuchtturmzimmer.
*
Anderthalb Stunden später hörte Wencke das Gelächter ihres Mannes und das Geplapper ihres Sohnes aus dem Nachbarzimmer. Auch sie war neben Mia eingeschlafen, fühlte sich jetzt aber hellwach und ausgeruht. Sie schob die Decke zur Seite und stand auf. Mia rieb sich die Augen und setzte sich auf. »Mama, ich habe Hunger«, piepste sie mit dünner Stimme und strampelte die Decke von sich. Sie hüpfte aus dem Bett und fasste Wencke bei der Hand. »Ich muss mal«, sagte sie und zog ihre Mutter mit ins Bad. Sie ging zur Toilette und Wencke wusch ihr anschließend Hände und Gesicht. Da keine Handtücher vor Ort waren, rubbelte Wencke sie mit ein paar Taschentücher trocken. »So, Maus, anders geht es nicht, lass uns zu Papa und Janis hinübergehen«, sagte sie und zog Mia aus dem Bad. Aus dem Geplapper ihres Sohnes wurde ein lautes, fröhliches Kreischen. Wencke öffnete die Tür des Zimmers und sah, wie Janis auf Haro lag und sie sich gegenseitig kitzelten. Mia drückte Wencke zur Seite und sprang mit zwei Sätzen ebenfalls auf das Bett und das Gelächter, nun von allen dreien, wurde noch lauter. Wencke klatschte in die Hände und rief lautstark dazwischen. »Hey, ihr Rabauken, jetzt ist Schluss. Raus aus dem Bett. Wir wollen was essen gehen.« Bei dem Wort Essen spitzen alle drei die Ohren und Haro schob seine Kinder von sich weg. »Auf, auf, ihr Kitzelmäuse. Ich habe auch einen Bärenhunger. Wenn ich nicht
gleich was zu essen bekomme, dann muss ich kleine Kinder essen. Grrrr, mjam, mjam«, rief Haro und zog Mia sacht am Arm. Mia quiekte vor Vergnügen und Janis rutschte vom Bett. Wencke richtete die Sachen der Kinder und Haro steckte sein Hemd in die Hose. Sie schlossen sämtliche Fenster, verließen das Obergeschoss, öffneten die Eingangstür und traten in den Garten. Währen Wencke die Kinder auf ihren Sitzen anschnallte, schloss Haro im unteren Bereich sämtliche Fenster unter verriegelte anschließend die Türen. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein und Haro klemmte sich hinter das Steuer. Sie fuhren in die Innenstadt und kehrten in das erstbeste Restaurant ein, welches ihnen begegnete. Sie bekamen einen Tisch direkt am großen Panoramafenster und hatten einen herrlichen Blick auf den Strand und das Meer. »Was machen wir jetzt?«, fragte Haro nach dem Essen ein zweites Mal und schaute seine Frau an. »Nach Hause fahren?« »Ich weiß, was wir machen«, erwiderte Wencke und lächelte geheimnisvoll. »Nun sag schon«, brummte Haro. Er hasste es, wenn seine Frau in geheimnisvollen Worten sprach. Er wollte nicht raten. »Wir sind mit Essen fertig. Wir zahlen jetzt, gehen etwas an der Promenade spazieren und wenn wir einen Einkaufsladen sehen...« Sie schwieg. »Dann kaufen wir ein und bleiben eine Nacht hier«, vollendete Haro den Satz. »Richtig! Heute ist doch erst Samstag. Lass uns hier schlafen und morgen früh nach dem Frühstück fahren wir gemütlich zurück. Den Kindern gefällt es hier. Und mir auch«, schob sie leise hinterher. »Gut, dann lass es uns machen. Wir sollten aber nicht vergessen, vier Zahnbürsten und Zahnpasta zu kaufen. Sonst ist das Projekt für mich gestorben«, lachte Haro und griff nach Wenckes Händen. Er schaute sie an. »Ich liebe dich«, flüsterte er und küsste ihre Hände. »Und ich liebe dich«, sagte Wencke und strahlte ihn aus ihren braunen Augen an.
Sie riefen die Bedienung zu sich, bezahlten und verließen das Restaurant. Die Kinder scheuchten an der Uferpromenade die Möwen, die immer wieder mutig zwischen den Fußgängern landeten, hoch und freuten sich darüber, wenn diese kreischend wegflogen. Sie schlenderten in Richtung Friedrichstraße und suchten dort einen Supermarkt. In der Mitte der Shoppingmeile wurden sie fündig und betraten den Discounter. Sie kauften alles ein, was sie für den nächsten Tag zum Frühstück benötigten und für den Abend legte Haro noch eine Flasche Wein in den Einkaufswagen. Wencke nahm noch etwas frisches Obst mit, und weil die Kinder besonders artig waren, durften sie sich etwas Süßes aussuchen. Mit zwei vollen Tragetaschen verließen sie den Laden und Haro schleppte die schweren Beutel zum Auto. Sie fuhren vergnügt zurück und auf dem Weg zur Pension erklärten sie ihren Kindern, dass sie dort übernachten wollten. Mia und Janis waren begeistert und fanden es spannend und aufregend. Haro parkte den Wagen direkt vor dem Gartenzaun und stieg aus. Er öffnete die Hintertür und löste den Gurt von Mias Kindersitz, Wencke tat dies auf ihrer Seite und nahm Janis auf den Arm. Er schloss das Gartentor auf, brachte die Kinder in den Garten und ging zurück, um den Einkauf aus dem Kofferraum zu nehmen. Wencke nahm ihm eine Tasche ab und sie durchquerten den Garten. Er kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüsselbund und schloss die Eingangstür auf. Plötzlich hörte er seinen Namen. Er blieb stehen und drehte sich um. Herr Jensen kam winkend auf ihn zu. »Hallo Herr Fries. Ach schön, dass ich Sie noch antreffe. Ich wollte mich nur kurz erkundigen, ob alles in Ordnung ist.« »Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Jensen«, antwortete Haro und stellte die Beutel mit den Lebensmitteln ab. »Wie Sie sehen, haben wir eingekauft. Wir haben uns entschlossen hier eine Nacht zu bleiben. Das ist doch in Ordnung?«, fragte Haro und schaute ihn erschrocken an. »Aber ja, natürlich. Es ist ja schließlich Ihr Haus«, lachte Herr Jensen und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ich habe eine Flasche Wein gekauft. Wenn Sie und Ihre Frau möchten, kommen Sie doch heute Abend auf ein Gläschen zu uns. Dann können Sie uns etwas über
meinen Onkel erzählen«, sagte Haro und nahm die Tragetasche wieder vom Boden auf. »Gerne«, erwiderte Herr Jensen. »Aber ich komme ohne meine Frau. Sie ist heute über Nacht zu meiner Tochter nach List gefahren. Zum Babysitten. Sie t auf unseren kleinen Enkel auf, während meine Tochter und mein Schwiegersohn auf einer Feier sind.« »Prima«, sagte Haro. »So gegen acht?« »Abgemacht, acht Uhr t mir. Dann bis heute Abend«, sagte Herr Jensen und ging.
*
Gegen Abend machte Wencke nach dem Abendbrot die Kinder bettfertig. Für die beiden Mäuse war das alles sehr spannend und aufregend. Gemeinsam beschlossen sie, das größte Gästezimmer, das mit der Ausziehcouch zu benutzen, denn allein wollten die Kinder nicht in einem Zimmer schlafen. Während Haro das Schlafsofa auszog, durchstöberte Wencke die Schränke nach Bettwäsche. Sie wurde fündig, bezog die Kissen und Bettdecken und zog die Laken auf. Da kein Vorlesebuch zur Hand war, erzählte Wencke den Kindern, die eingekuschelt unter den Bettdecken lagen, eine kleine Geschichte aus dem Kopf. Lange musste sie nicht erzählen, denn schon nach ein paar Minuten waren Janis und Mia eingeschlafen. Auf Zehenspitzen schlich Wencke sich nach draußen, ließ die Tür aber weit offen und ging die Treppe hinunter. Es war bereits kurz vor acht Uhr und Haro entkorkte die Weinflasche. Er nahm drei Weingläser aus dem Küchenschrank und ging ins Wohnzimmer, als es an der Terrassentür klopfte. Herr Jensen stand draußen und winkte hinter der Scheibe. Er zeigte mit dem Finger auf seine Strickjacke und anschließend nach draußen auf die Sitzgarnitur, die dort stand. Haro verstand und nickte. »Schatz, holst du bitte unsere Jacken. Herr Jensen ist auf der Terrasse, ich glaube, er möchte an der frischen Luft bleiben.«
Wencke eilte in den Flur, während Haro die Terrassentür öffnete. Ein frischer Windzug, er roch nach salziger Meeresluft, ließ Haro einmal tief einatmen. Er sog den Duft des Meeres ein und rief spontan: »Herrlich!« Wencke kam mit den Jacken hinterher und gemeinsam setzten sie sich an die Tischgruppe. Haro goss den Wein ein und reichte Herrn Jensen ein Glas hinüber. »Auf gute Nachbarschaft Herr Jensen«, sagte Haro und prostete seinem neuen Nachbarn zu. Herr Jensen nahm einen Schluck, stellte sein Glas auf den Tisch ab und seufzte. »Tja, der gute Heiko. War wirklich ein Netter. Aber irgendwie eine arme Wurst. Keine Familie, keine Frau und so gut wie keine Freunde. Er lebte nur für diese Pension hier.« Herr Jensen schaute auf seine Hände, die er auf seine Knie gelegt hatte und sprach mehr zu sich selbst als zu Wencke und Haro. »So hätte ich nicht leben können.« Er hob den Kopf und schaute das Ehepaar Fries an. »Aber er sagte immer zu mir und meiner Frau, er wäre glücklich so. Er brauchte keine Familie, die Pensionsgäste reichten ihm völlig.« Herr Jensen lachte. »Manchmal war ihm das sogar zu viel, da hätte er am liebsten die Gäste vorzeitig rausgeschmissen, weil sie ihm einfach zu anstrengend waren. Was er natürlich nicht getan hat«, schob Herr Jensen hinterher. »Er war auch gerne allein. Er brauchte keine vierundzwanzig Stunden, sieben Tage lang Trubel um sich herum. Er las viel, ging gerne Angeln und beschäftigte sich im Sommer in seinem Garten. Im Herbst erledigte er kleine Reparaturen am Haus oder am Nebengelass und ab und an gönnte er sich den Frühshoppen im Restaurant Hus in Lee, das liegt im Ortsteil Ratum.« Herr Jensen zog sein Glas vom Tisch und nahm einen kräftigen Schluck vom Wein. »Er ließ sich immer mit einem Taxi dorthin bringen, damit er ein paar Bier trinken konnte.«
Herr Jensen grinste. »Wenn meine Eike gute Laune hatte, dann durfte ich sogar mit«, kicherte Herr Jensen und trank die letzte Pfütze Wein aus seinem Glas. Haro nahm die Weinflasche vom Tisch und schenkte nach. Niels Jansen erzählte einige Anekdoten rund um die Pension und drei Glas Wein später erhob er sich mit glasigen Augen, um sich zu verabschieden. »Eins möchte ich noch erwähnen«, sagte er und hielt sich an der Stuhllehne fest. »Die Pension lief stets gut und Bedarf an freien Zimmern besteht hier auf Sylt immer. Ich würde mich mehr als freuen, wenn Sie diese Pension weiterbetreiben würden. Gute Nacht!« »Guten Nacht«, erwiderte Haro und verkniff sich ein Grinsen. »Schlafen Sie schön und lieben Gruß an Ihre Frau«, rief Wencke hinterher, doch Niels war bereits in der Dunkelheit verschwunden.
*
Eine Woche später, das Alltagsleben hatte Haro und Wencke wieder voll im Griff, saßen sie in ihrem Flensburger Reihenhaus mit Wenckes älteren Bruder Piet beisammen. Piet war selbstständiger Handwerker, führte eine kleine Baufirma in Flensburg und war seit sechs Jahren mit seiner Frau Sarah verheiratet. Sie hatten einen kleinen Sohn in Mias Alter und wohnten ebenfalls in Weiche. »Nun Schwesterherz, habt ihr euch entschieden, was ihr mit eurer Erbschaft macht?«, fragte Piet und krabbelte seinem Sohn Theo, der auf seinen Schoß saß, den Rücken. Er hob Theo von seinen Knien, gab ihm einen Klaps auf den Po und schickte ihn zu Mia ins Kinderzimmer. Es war Samstagnachmittag, Sarah war noch schnell einkaufen und Piet nahm dies zum Anlass, bei seiner Schwester Wencke vorbeizuschauen.
»Wir haben uns was überlegt«, sagte Wencke und schaute zu Haro hinüber. Haro nickte seiner Frau aufmunternd zu. »Erzähl’ du es deinem Bruder«, forderte er seine Frau auf. »Auch wenn man uns anschließend für verrückt erklärt«, sagte Haro und lachte. »Nun spann mich nicht so auf die Folter«, erwiderte Piet und schaute Wencke erwartungsvoll an. »Tja, ähm, wir haben uns überlegt ...« »Herrgott noch mal! Nun sag schon«, quengelte Piet und konnte es kaum erwarten, dass seine Schwester endlich sprach. »Tja, ähm, wir haben uns überlegt ...«, wiederholte sie ihre Worte und Piet verdrehte ungeduldig die Augen. »Wir haben uns dazu entschlossen, Pensionsbesitzer zu werden. Wir wollen dort leben und arbeiten«, ließ Wencke die Bombe platzen. »Wir haben lange hin und her überlegt«, kam ihr Haro zu Hilfe. »Mia kommt nächstes Jahr zur Schule, wenn wir noch länger die Entscheidung hinauszögern, müssten wir sie hier aus der Schule wieder herausreißen.« Haro strich sich durch sein volles Haar und blickte seine Frau an. »Ich kann als freier Anwalt auch dort arbeiten und in der Übergangszeit werde ich hin und wieder nach Flensburg reinfahren, bis ich auf Sylt einen eigenen Kundenstamm aufgebaut habe. Ich habe bereits mit meinen Partnern in der Kanzlei gesprochen. Eine Niederlassung unserer Kanzlei auf Sylt halten sie für eine gute Idee.« Haro stand auf und ging zu Wencke. »Und deine Schwester wird vorerst die Pension führen. Wir bieten drei Gästezimmer mit Frühstück an, das ganze Jahr über. Und dann sind da noch unsere zwei Kinder, da hat Wencke genug zu tun. Vielleicht macht sie sich später auf Sylt auch als freie Hebamme selbstständig, wenn die Kinder etwas größer sind.« Wencke nickte und strahlte über beide Ohren. »Wenn wir es jetzt nicht wagen, wann dann?«, sinnierte sie. »Wenn wir die Pension jetzt verkaufen, dann ist sie weg. So eine Chance bekommen wir nie
wieder. Also rein ins Abenteuer!« Sie schaute ihren Bruder herausfordernd an. »Was kann ieren? Wenn wir scheitern sollten, dann verkaufen wir alles und kommen zurück.« Piet saß mit offenem Mund da und sagte kein Ton. Plötzlich sprang er auf und umarmte seine Schwester. »Das ist eine tolle Idee«, rief er und drückte sie brüderlich an seine breite Brust. »Wenn es handwerklich dort etwas zu tun gibt, dann lasst es mich wissen. Ich helfe euch gerne. Natürlich zu einem Sonderpreis«, rief er Haro augenzwinkernd zu. »Natürlich! Du sollst nicht umsonst bei uns arbeiten. Einige Arbeiten wären da schon zu machen. Das komplette untere Stockwerk, bis auf die Küche, müsste renoviert werden, denn mein Onkel Heiko hatte einen etwas altbackenen Geschmack, was die Inneneinrichtung betraf«, erwiderte Haro und klopfte seinem Schwager freundschaftlich auf die Schulter. »Dann halte dir mal mit Sarah und Theo das nächste Wochenende frei. Wir fahren alle gemeinsam zur Pension Kleine Möwe, damit du dir einen Überblick verschaffen kannst, wie lange du benötigst, um unser neues Heim zu gestalten.«
*
Wencke kündigte zum nächsten Ersten ihre Stelle im Geburtshaus, was mit großem Bedauern aufgenommen wurde. Doch man wünschte ihr für ihr neues Projekt viel Erfolg und stellte ihr in Aussicht, dass sie jederzeit dorthin zurückkehren konnte. Unter Anrechnung ihrer noch offenen Urlaubstage und den angesammelten Überstunden konnte Wencke das Unternehmen bereits Ende Mai verlassen. Sie meldete die Kinder vom Kindergarten ab und Haro kündigte die Wohnung. Durch die Kündigungsfrist von drei Monaten hatte er die Möglichkeit, in der
Übergangszeit weiterhin in der Wohnung zu übernachten. Piet verschaffte sich einen Überblick über die Renovierungsarbeiten und kam zu dem Ergebnis, dass er zusammen mit einem Mitarbeiter, der Maler gelernt hatte, circa anderthalb Wochen benötigen würde, um alles fachmännisch zu renovieren. Bereits Ende Mai fuhr Piet mit André, dem Malermeister nach Westerland. Das Werkstattauto war vollbepackt mit Farbeimern, Tapetenrollen und Laminatböden. Haro durchforstete mit Wencke an zwei Tagen die komplette untere Wohneinheit von Onkel Heiko. Wichtige Dokumente und Gegenstände, die ihnen wichtig waren, räumten sie fein säuberlich beschriftet in Kisten und verstauten diese vorerst im Nebengelass. Den Rest an Möbeln, alten Teppichen, veraltete Bücher und Krempel ließen sie von einer Entrümpelungsfirma entsorgen. An Möbelstücken überlebte nur der uralte Holzschreibtisch aus Onkel Heikos Arbeitszimmer. Den wollte sich Haro, wenn er genügend Zeit dazu fand, aufpolieren. Während Piet und Malermeister André die Ärmel hochkrempelten und fleißig renovierten, sprach Haro mit seinem besten Freund Jürgen in Flensburg. Sie trafen sich auf ein Bier in einer kleinen Kneipe und Haro erzählte ihm von seinem Vorhaben. Sie hatten sich längere Zeit nicht gesehen und Jürgen, der völlig ahnungslos war, fiel aus allen Wolken. »Mensch Haro, wir haben einmal vier Wochen nicht miteinander gesprochen und schon stellst du dein Leben auf den Kopf. Das ist ja ein Ding, was du mir hier alles erzählst«, lachte Jürgen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Und es ist wirklich amtlich?«, fragte er Haro zum wiederholten Mal. »Ja, es wird bereits renoviert. Nächste Woche am Samstag früh kommt der Umzugswagen. Wir stehen in den Startlöchern«, entgegnete Haro und nickte mehrmals zur Bestätigung. »Du, wenn du Hilfe beim Umzug benötigst, ich helfe gerne«, bot Jürgen sich an. »Wir, also Katja und ich, haben noch nichts geplant.«
»Das wäre super von euch, wir können jede helfende Hand gebrauchen. Sprich aber bitte vorher mit Katja und ruf mich morgen an, o. k.?« »Na klar, mach ich. Wozu hat man denn Freunde? Und außerdem bin ich neugierig, wie eure Pension aussieht. Also echt, ich kann das noch gar nicht glauben, ihr als Pensionsbesitzer!«
*
Am Samstagmittag rollte ein vollgepackter Umzugswagen aus dem Flensburger Ochsenweg und war auf dem Weg nach Sylt. Ihm folgte der große SUV von Haro, in dem die gesamte Familie Fries saß. Mia und Janis waren aufgeregt und plapperten in einer Tour und Wencke schaute etwas wehmütig aus dem Seitenfenster. »Traurig?«, fragte Haro und nahm Wenckes Hand. »Nein, nicht wirklich. Aber wir hatten hier eine schöne Zeit. Die will ich nicht vergessen. Doch jetzt freue ich mich auf Sylt und unsere kleine Pension.« Wencke drückte Haros Hand. Es war doch die richtige Entscheidung?«, fragte sie leise. »Ja, Schatz, alles wird gut. Du wirst sehen«, erwiderte Haro aus voller Überzeugung. Hinter dem SUV fuhr das Auto von Jürgen und Katja. Im Wageninneren herrschte eine angespannte Stimmung. Katja zog einen Flunsch und war nicht im Geringsten darüber erfreut, Jürgens besten Freund und dessen Frau beim Umzug zu helfen. Lieber wäre sie mit Jürgen ins Kino gegangen oder hätte was mit ihrer besten Freundin Steffi unternommen. Aber Jürgen ließ da nicht mit sich reden und beharrte darauf, dass sie mitkam. Sie kam nicht sonderlich gut mit Wencke aus und die beiden hatten auch kaum Gemeinsamkeiten. Katja und Jürgen besaßen keine Kinder und somit fielen diese Gesprächsthemen für Katja auch aus. Sie hatte kein sonderliches Interesse an Kindern, sie fand sie meist zu laut und zu nervig. Und Möbel schleppen war auch nicht ihr Ding.
»Katja, ich verlange doch nicht, dass du irgendwelche Möbel von A nach B schleppst, aber sei doch einfach hilfsbereit und trage leichte Dinge rein. Oder entlaste Wencke ein wenig, indem du dort etwas kochst oder bring dich sonst wie ein. Ist das so schwer?«, fragte Jürgen wütend. Eine steile Zornesfalte zeichnete sich auf seiner Stirn ab. »Ich kann den Pizza-Service rufen. Den wird es ja dort geben, oder?«, zischte sie und schwieg beleidigt. Jürgen zog es vor, keinen Streit vom Zaun zu brechen und schluckte eine böse Erwiderung hinunter. Er hasste es, wenn sie so herumzickte. »Nun komm schon, sei wieder lieb«, schmeichelte er, obwohl ihm in keiner Weise danach war. »Ja, o. k.«, maulte sie und drehte das Radio lauter. Der Möbelwagen – mit zwei Autos im Schlepptau – wurde mit einem lauten »Hallo« von Piet und André vor der Pension Kleine Möwe begrüßt. Piet wies den Umzugswagen rückwärts auf das Grundstück ein, Haro und Jürgen parkten ihre Autos auf der Straße in den vorgesehenen Parkbuchten. Durch das rege Treiben und dem vielen Türenschlagen wurden Niels und Eike Jensen aus dem Nachbarhaus gelockt. Fröhlich winkend kamen sie auf Wencke und Haro zu, begrüßten Mia und Janis herzlich und boten sogleich ihre Hilfe an. Eike ergriff die Hände der beiden Kinder und nahm sie zu sich in den Garten. Dort konnten sie ungestört spielen und liefen den Erwachsenen nicht zwischen die Beine, während sie den Möbelwagen entluden. Mit geübten Griffen packten die Möbelpacker die schweren Möbel an, während alle anderen die vielen Kisten, Grünpflanzen, Stehlampen und Spielzeugkisten aus dem Transporter entluden. Binnen zwei Stunden war der Möbelwagen leer. Die beiden jungen Burschen der Umzugsfirma verabschiedeten sich, rollten die Tragegurte ein und warfen sie auf die Ladefläche. Jetzt standen Haro, Wencke, Jürgen und Katja im neuen Wohnzimmer und betrachteten das vollendete Werk. »Jetzt haben wir uns was zum Essen und ein kühles Bier verdient«, sagte Piet, der mit André aus dem Kinderzimmer kam, wo sie zusammen die letzten Möbel aufgebaut hatten.
Nachbar Niels kam mit beiden Kindern an der Hand über die Terrasse herein. Wencke bedankte sich bei Niels für seine Hilfe und ließ auch einen Dank an Eike ausrichten. In der Zwischenzeit suchte Katja über ihr Handy einen Lieferdienst heraus. Sie schrieb die Essenswünsche auf einen Zettel und rief die Pizzeria an. »In einer halben, dreiviertel Stunde kommt das Essen. Ich habe noch ein paar Bier und Rotwein mitbestellt«, sagte sie und schaute Jürgen von der Seite an. Dieser zwinkerte ihr lächelnd zu. Während sie auf das Essen warteten, machten Haro und Wencke mit Jürgen und Katja einen Rundgang durch das ganze Haus. Sie gingen zum Schluss durch den Garten um das Haus herum und öffneten die Eingangstür zu dem Bereich mit den Gästezimmern. Piet und André bewohnten während ihres Renovierungsaufenthalts je ein Zimmer, doch das große Strandkorbzimmer war noch frei. »Da wir heute das erste Mal unten in unserem eigenen Schlafzimmer schlafen, könnt ihr es euch hier in diesem Zimmer gemütlich machen«, sagte Haro und öffnete die Tür mit dem Strandkorb-Symbol. Katja und Jürgen staunten nicht schlecht. Sie fanden das Gästezimmer gemütlich und auch die Betten waren bereits frisch bezogen. »Dann geh ich gleich mal runter zum Wagen und hole unsere Reisetasche nach oben«, sagte Katja und drückte – zum Erstaunen von Jürgen – Wencke kurz an sich. »Schön habt ihr es hier, wirklich schön«, flüsterte Katja ihr ins Ohr und verließ das Zimmer. Eine Stunde später saßen alle im Frühstücksraum, sie hatten alle Tische zusammengeschoben und ließen sich ihr Essen schmecken. Es herrschte eine gelöste und entspannte Atmosphäre und Wencke schlug vor, noch einen Verdauungsspaziergang zum Strand zu machen. Die Sonne war bereits verschwunden, dunkle Regenwolken zogen sich zusammen und es wehte ein mäßiger Wind. Der Strand lag etwa sechshundert Meter von der Pension entfernt und je näher sie dem Meer kamen, desto mehr roch man die salzige Meeresluft.
Am Strand angekommen, jagten Mia und Janis wieder den Möwen hinterher, die Erwachsenen liefen direkt bis an das Wasser heran. Katja bückte sich und hob ein paar Muscheln auf. Der Wind fachte auf und die Wellen brachen sich am Strand. Die geräuschvolle Brandung ließ die Gischt hochschnellen und die kleinen aufgewirbelten Wasserteilchen sorgten für eine feuchte, salzige Luft. Janis wurde langsam müde und verspürte keine Lust mehr, den Möwen hinterherzurennen. Er quengelte und so nahm ihn Haro auf die Schultern. Gemeinsam traten sie den Rückweg weg an und zwanzig Minuten später trafen sie wieder in der Pension ein. Alle waren müde und kaputt von dem langen Tag und dem Umzug. Wencke brachte die Kinder in ihre neuen Kinderzimmer, die mithilfe einer Trennwand aus dem ehemaligen Arbeitszimmer entstanden sind, zu Bett, Piet und André zogen sich ebenfalls auf ihre Zimmer zurück. Jürgen und Katja saßen mit Haro im Wohnzimmer und tranken als Absacker noch ein Glas Rotwein zusammen.
*
Am nächsten Morgen, es war acht Uhr, hörte man das Geklapper von Geschirr, und frischer Kaffeeduft zog durch das ganze Haus. Haro war früh aufgestanden, fuhr zum Bäcker und besorgte frische Brötchen. Er deckte die Tische im Frühstücksraum und ging ins Schlafzimmer zurück. Wencke schlief tief und fest und er blieb am Bettrand stehen. Er betrachtete liebevoll seine schlafende Frau und wollte gerade das Zimmer verlassen, als Wencke die Augen aufschlug. »Guten Morgen«, murmelte sie und streckte sich genüsslich unter der Bettdecke. Sie schnupperte mit ihrer kleinen Nase, als sie plötzlich tapsende Kinderfüße hörte. Mia stand mit Janis an der Hand im Türrahmen und gähnte laut. Beide Kinder rannten los und sprangen zu Wencke ins Bett. Haro lachte laut und zog Janis von Wencke herunter.
»Los, ab ins Badezimmer. Waschen, Zähne putzen und anziehen. Wir wollen frühstücken«, rief er und schnappte sich auch Mia. Wencke blickte ihn dankbar an und setzte sich auf. Sie schaute sich in ihrem neuen Schlafzimmer um und nickte zufrieden. Sie schlug die Bettdecke zur Seite, hangelte nach ihren Hausschuhen und schlüpfte hinein. Sie ging ins Bad, zog sich aus und sprang unter die Dusche. Haro beendete das Zähneputzen und Waschen der Kinder und nahm beide an die Hand. Er ging mit ihnen in ihre Zimmer, suchte aus der Reisetasche frische Sachen heraus und zog sie ihnen an. Wencke trocknete sich ab und wickelte das große Badetuch um ihren schlanken Körper. Sie schlich leise ins Schlafzimmer zurück, zog sich an und rubbelte sich ihre braune Mähne fast trocken. Mit noch leicht feuchtem Haar ging sie in die Küche und begegnete dort ihrem Bruder und André. »Du siehst ja aus wie ein kleiner Löwe«, neckte Piet sie und wuschelte ihr durch das Haar. »Grrr«, erwiderte sie und formte ihre schmale Hand zu einer Kralle. » bloß auf, dass ich dich nicht beiße«, lachte sie und kratzte ihn am Oberarm. »Sind wir hier im Zoo?«, hörte sie plötzlich Jürgens Stimme. Er stand mit Katja im Türrahmen und amüsierte sich köstlich über das kleine Schauspiel, was sich ihm dort bot. Haro stieß mit den Kindern ebenfalls dazu und gemeinsam betraten sie den Frühstücksraum. Die Sonne schien durch die große Fensterfront, von den dunklen Regenwolken des gestrigen Abends war weit und breit nichts mehr zu sehen. Heute standen die Feinarbeiten auf dem Programm. Es mussten Kisten mit Kleidung ausgeräumt, Gardinenstangen samt Vorhängen angebracht, Fernseher und Musikanlage sollten installiert sowie die Kisten mit den Spielsachen in den Zimmern der Kinder untergebracht werden. Die Männer kümmerten sich um die handwerklichen und technischen Dinge,
während Wencke die Kleidung einsortierte. Katja übernahm ohne zu murren den Part der Kinderfrau und räumte zusammen mit Mia und Janis das komplette Spielzeug in die Schränke der Kinder. Wencke hatte beim Einpacken der Kisten darauf geachtet, dass diese alle genaustens beschriftet waren. Kisten mit Dingen, die zurzeit nicht so wichtig waren, stapelten sie in dem großen Eingangsflur. Wencke konnte sie somit nach und nach ausräumen. Dank der vielen helfenden Hände waren gegen Mittag die meisten Umzugskartons ausgepackt. Wencke kochte zum Abschied noch einen riesigen Topf mit Spaghetti und reichte ihre leckere Tomatensoße dazu. Nach dem Essen hieß es Abschied nehmen. Piet und André wurden am Montag wieder in ihrer Firma erwartet, ebenso Jürgen und Katja. Nur Haro hatte sich für den Montag noch einen freien Tag genommen. Er musste erst wieder am Dienstag in seine Kanzlei zurück und blieb noch eine Nacht bei seiner Frau und den Kindern. Sie begleiteten ihre fleißigen Helfer noch hinaus und winkten zum Abschied den Abfahrenden hinterher.
*
Zwei Wochen später, Haro reiste bereits am Freitagabend von Flensburg nach Sylt. Mia und Janis schliefen längst, als er ankam. Nun saß er mit Wencke im Wohnzimmer. Sie sprachen über die weitere Vorgehensweise der Vermietung der Gästezimmer. Piets Frau Sarah, die in Flensburg als Webdesignerin in einer kleinen Agentur tätig war, erstellte ihnen eine Website. Wencke lieferte ihr dazu per Mail die Bilder der Pension sowie der Gästezimmer. Ab der kommenden Woche wollten sie vermieten und Wencke konnte per Telefon oder per Mail die ersten Buchungen annehmen. Sie überlegten, ob eine Werbeaktion notwendig war, doch ihr Nachbar Niels
Jensen winkte ab, als sie ihn danach fragten. »Die Gäste kommen von allein. Wartet ab, es werden mehr Reservierungen reinkommen, als euch lieb sein wird«, besänftige Niels die beiden. »In letzter Zeit hatte Heiko auch immer mal wieder Gäste aus der Seniorenresidenz Seestern. Die ist hier ganz in der Nähe. Dort könnt ihr mal vorbeischauen und persönlich Bescheid geben, dass die Pension Kleine Möwe wieder geöffnet hat.« Am Sonntagmorgen, Haro, Wencke und die Kinder waren gerade mit dem Frühstück fertig, klingelte das Pensionstelefon. Haro ließ extra dafür einen separaten Anschluss legen, denn sie wollten Privates und Geschäftliches unbedingt getrennt halten. Wencke schaute wie ein erschrockenes Kaninchen. Haro lachte. »Nun geh schon ran, unsere erste Reservierung.« Wencke nahm den Hörer hoch. »Pension Kleine Möwe«, meldete sie sich zaghaft. Sie machte einen Daumen nach oben in Richtung Haro und nickte immer wieder. »Ja, ich schau gleich mal nach«, antwortete sie und blätterte geräuschvoll in dem leeren Reservierungsbuch. »Ja, da hätten wir noch was frei«, sagte sie mit fester Stimme. Sie nickte wieder und notierte etwas im Buch. »Ich schicke Ihnen heute noch per Mail die Reservierungsbestätigung. Auf Wiederhören«, antwortete sie und legte auf. Sie schaute Haro an und jubelte. »Unsere erste Reservierung«, sagte sie stolz und hielt ihm das Buch unter die Nase. »Ein junges Pärchen aus Brandenburg. Eine Woche gebucht.« »Na, das lief doch wie geschmiert, meine kleine Empfangsdame«, sagte Haro zu seiner Frau und stand auf. Er nahm sie in den Arm und küsste sie. »Du wirst sehen, wir haben alles richtig gemacht«, bemerkte er und küsste sie abermals.
2. Kapitel
Jana und Hagen liefen hüpfend das Treppenhaus des Wohnhauses in PotsdamSchlaatz hinunter. Der Schlaatz, ein typisches Neubaugebiet der 70er und 80er Jahre entstand damals im Rahmen eines Wohnungsbauprogramms aufgrund des Wohnungsmangels in Potsdam. Dort hatten die beiden jungen Leute mit viel Glück und einem Wohnberechtigungsschein eine bezahlbare Wohnung in einem der vielen Hochhä ergattert. Sie schätzten die grüne Lage, die gute Anbindung zur Innenstadt und den sehr preisgünstigen Wohnraum. Janas kugelrunder Babybauch wölbte sich unter ihrem Umstandskleid, die achtundzwanzigste Schwangerschaftswoche neigte sich dem Ende zu. Kurz vor dem 8. Monat war es an der Zeit, ein Babybett zu kaufen. Das war die letzte größere Anschaffung der beiden und Jana freute sich auf diesen Einkauf. Ihr zu einem Pferdeschwanz gebundener Zopf baumelte fröhlich bei jedem Hopser, den sie auf der Treppe tat, hin und her. Hagen war schon wieder besorgt, dass dem Pünktchen durch das Herumgehüpfe nichts ierte und bat Jana, ein wenig vorsichtiger zu sein. »Och Hagen, ich bin doch nur schwanger und nicht krank«, sagte sie und kniff ihn in die Seite. Pünktchen nannten sie ihr Kind, nachdem Hagen es zum ersten Mal in der achten Schwangerschaftswoche auf dem Ultraschallbild gesehen hatte. Er erkannte es damals nicht und fragte den Frauenarzt, ob es das Pünktchen wäre, welches sein Kind seien sollte und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle des Bildschirms. Der Arzt lachte und nickte bestätigend mit dem Kopf. »Ja, dieser kleine Punkt ist Ihr Sohn oder Ihre Tochter.« Jana hingegen ging mit ihrer Schwangerschaft etwas sorgenfreier um. Sie hatte
zu Hause die letzten beiden Schwangerschaften ihrer Mutter miterlebt und wusste daher genau, wie man sich bewegen durfte. Jana stammte aus einer kinderreichen Familie. Sie hatte einen älteren Bruder und noch drei jüngere Geschwister. Allerdings war die letzte Schwangerschaft ihrer Mutter etwas anstrengender. Sie erwartete Zwillinge und in einem Alter von vierunddreißig Jahren galt sie als Risikopatientin. Jana war das einzige Mädchen in der Familie und sie bedauerte es von Zeit zu Zeit, dass sie keine Schwester hatte. Nicht, dass sie ihre Brüder nicht liebte, aber sie hätte sich schon ganz gerne mal einfach nur mit Mädchenkram beschäftigt, anstatt sich mit ihren Brüdern zu raufen, Fußball zu spielen oder auf dem Fußboden mit kleinen Autos zu spielen. Ihr großer Bruder Marcel war früh ausgezogen, mit siebzehn fing er in einem Krankenhaus die Ausbildung als Krankenpfleger an und hatte das große Glück, dort ein kleines Zimmer im Schwesternheim zu ergattern. Jana kümmerte sich sehr früh um ihre jüngeren Geschwister, denn ihre Eltern gingen beide arbeiten, um all die hungrigen Mägen zu füllen. Ihr Vater war Postbote und ihre Mutter arbeitete in den Abendstunden stundenweise als Reinigungskraft. Sie richtete ihren Brüdern und dem Vater oft das Abendbrot, brachte die Zwillinge Kai und Tim zum Fußballtraining oder bügelte ihrem pubertierenden Bruder Jonas schon mal sein Lieblingsshirt. In der Schule glänzte sie mit nicht so dollen Noten und war froh, nach der zehnten Klasse die Schule mit einem Hauptschulabschluss zu verlassen. Das letzte Schulpraktikum absolvierte sie in einem Altenheim in Babelsberg und dort stellte sie fest, dass ihr dieser Job lag. Auch wenn das Abschlusszeugnis nicht das Beste war, so entschied sich das Pflegeheim, ihr einen Ausbildungsplatz anzubieten. Sie erkannten bei Jana den Fleiß, die Herzenswärme und die Freude an diesem Beruf. Dass sie kurz vor Beendigung ihrer Ausbildung schwanger wurde, war nicht geplant und riss Jana den Boden unter den Füßen weg. Doch ihr Frauenarzt beruhigte sie. Bis zur Prüfung waren es noch fünf Monate und bis zur Geburt konnte sie unter gewissen Auflagen problemlos weiter arbeiten gehen. Sie sollte mit ihrem Arbeitgeber sprechen, dass sie nicht allzu schwere Arbeiten verrichtete, genügend Pausen machte und wenn möglich keine Schicht
mehr arbeitet. Bei jeder Routineuntersuchung bestätigte ihr der Frauenarzt, dass alles mit ihr und dem Kind in bester Ordnung sei. Sie quälte sich durch die Prüfung, die sie letztendlich mit Ach und Krach bestand. Nur arbeiten durfte sie in ›ihrem Altenwohnheim‹ seit einem Monat nicht mehr. Der Frauenarzt sprach nach der bestandenen Prüfung für die letzten Monate ein Beschäftigungsverbot aus. Jana vermisste ihre alten Leutchen, wie sie die Bewohner immer nannte und versprach beim Abschied, sie mit ihrem Baby zu besuchen.
*
Mit ihren ein Meter sechzig war Jana nicht die Längste, aber für den 21-jährigen Hagen einfach die Größte. Er lernte sie im letzten Sommer auf dem Fußballplatz kennen, als sie ihre beiden kleinen Brüder Kai und Tim zum Fußball begleitete. Mit ihren schwarzen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, war sie ihm sofort aufgefallen. Sie war so fröhlich, hatte immer ein Lächeln im Gesicht und kickte oft mit den Jungs, bis deren Trainer kam. Hagen stellte sich nach seinem eigenen Training immer öfter zu ihr an den Spielfeldrand und wartete mit ihr, bis die Zwillinge und die anderen MiniFußballer ihre Übungen beendet hatten. Sie lachten, redeten viel und waren kürzester Zeit sehr vertraut miteinander. Zum Saisonabschluss stand mit den Kindern eine Fahrt zu einem Wochenend-Turnier an. Der Trainer war noch auf der Suche nach Betreuern, die sich um die Kinder, die Unterkunft und um die Formalitäten zu den Spielen kümmerten. Jana und Hagen meldeten sich freiwillig und organisierten mithilfe des Trainers dieses Turnier. Sie erlebten ein lebhaftes Wochenende, bei dem es zwischen Jana und Hagen wahnsinnig knisterte und sie verliebten sich Hals über Kopf ineinander. Die Wochenenden verbrachten das verliebte Paar bei seinen Eltern und in der Woche waren sie oft bei Jana zu Hause.
Eines Tages tauchte Jana vor Hagens Arbeitsstätte auf. Sie wartete auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Kfz-Werkstatt, in der er als Mechatroniker arbeitete und ihr Gesichtsausdruck war traurig. Kein fröhliches Lachen zeichnete sich in ihrem Gesicht ab und in ihren Augen schwammen Tränen. Sie stand an Hagens Auto und sah, wie aus dem Bürogebäude ein großer blonder Mann in Richtung Tor lief. Die Tränen trübten ihren Blick und sie nahm an, dass es Hagen war, der dort auf den Ausgang zusteuerte. Sie wischte sich schnell über die Augen und erkannte ihn an seinen längeren Haaren und der blauen Jacke. Er kam durch das Tor des Kundenparkplatzes und als er sie sah, beschleunigte er merklich seine Schritte. »Hallo, Schatz, ich bin begeistert, du holst mich von der Arbeit ab!«, rief er ihr zu und stockte. »Was ist los? Du siehst so traurig aus«, murmelte er in ihr Ohr, als er sie zur Begrüßung in den Arm nahm. »Ach Hagen«, seufzte sie und schmiegte sich eng an ihn. »Bevor wir zu meinen Eltern fahren, muss ich mit dir allein reden«, flüstere sie. »Was ist so wichtig, dass es unsere Eltern nicht hören dürfen?«, fragte er mit ernster Miene. »Ich wünschte, wir hätten eine eigene Wohnung, dann würde es sich besser anfühlen, was ich dir zu sagen habe. Willst du es sofort wissen?«, fragte sie und blickte ihm direkt in die Augen. »Ja, jetzt mach es nicht so spannend. Erzähl endlich, was ist los?« Er packte sie mit beiden Händen an ihren Oberarmen und hielt sie von sich. »Ich bin schwanger!«, hauchte sie kaum hörbar. Hagen starrte sie an. »Was hast du gesagt? Schwanger? Habe ich das richtig gehört?«, rief er und seine Stimme klang aufgeregt.
Sie konnte nicht mehr antworten, die Tränen standen in ihren Augen und sie nickte nur. Hagen nahm sie in den Arm und drückte sie zärtlich an sich. »Jana, ich freue mich wahnsinnig darüber«, versicherte er und hätte sie am liebsten vor Freude durch die Luft gewirbelt. Doch er unterdrückte diesen Drang, denn er musste jetzt wohl vorsichtig sein. Er küsste ihr Gesicht immer wieder und Jana schnappte lachend nach Luft. »Hagen, überlege doch mal. Wir haben keine Wohnung und sind noch sehr jung. Möchtest du wirklich jetzt schon ein Kind?«, fragte sie ihn und schaute sehr ernst. »Aber Schatz, was redest du denn, es ist unser Kind. Wir werden eine richtige kleine Familie sein und ich bin froh, wenn ich nicht mehr allein zum Fußball gehen muss«, erwiderte er begeistert. »Ich verdiene genug für uns drei und eine Wohnung werden wir sofort suchen. Es sei denn, du möchtest kein Kind von mir?«, wollte er wissen und schaute sie mit gespielter Erschrockenheit an. »Quatschkopf! Na klar möchte ich, und mir fällt ein Stein vom Herzen, dass du so reagiert hast. Ich fürchte mich nur vor dem, was dann vor uns liegt. Ob wir das alles bewältigen?«, murmelte sie. »Vertraue mir, ich manage alles. Du wirst sehen, wie gut wir das hinbekommen«, rief er und umarmte sie freudestrahlend. Hagen war ein Einzelkind und von Babys und Schwangeren hatte er keine Ahnung. Er hätte Jana von diesem Tag an am liebsten in Watte gepackt. Jana dagegen war aktiv wie nie zu vor. Jetzt begann für die beiden ein neues Leben, es war aufregend und anstrengend zugleich, vor allem, bis sie eine eigene Wohnung besaßen.
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Seit einem Monat wohnten sie nun in einer eigenen Wohnung mit drei Zimmern. Sie hatten das Glück, dass die Freundin von Hagens Mutter ein Haus baute und für ihre Mietwohnung Nachmieter suchte. Durch den Wohnberechtigungsschein für Geringverdiener erhielten sie den Zuschlag und gegen eine geringe Abstandszahlung konnten sie auch einige Möbel übernehmen. Der Alltag war eingezogen und die Vorbereitungen für den neuen Erdenbürger liefen auf Hochtouren. Als etwas Ruhe eintrat, spürte Hagen, dass er urlaubsreif war, denn die letzten Tage waren sehr anstrengend für ihn. »Jana, ich habe in zwei Wochen Urlaub, ich bin echt reif für etwas Erholung«, rief Hagen ins Kinderzimmer, wo Jana die Sterne anklebte, die sie zusammen mit dem Kinderbettchen gekauft hatten. »Hagen, komm schnell her, ich liege unter einem Sternenhimmel, leg dich zu mir«, rief sie ihm voller Begeisterung entgegen. Hagen schaute gerade die Sportschau, aber für das kleine Pünktchen und Jana stand er von dem Sofa auf und trottete ins Kinderzimmer. Weiberkram, dachte er und lief rückwärts, die Augen noch immer auf den Fernseher gerichtet. Es war dunkel und Jana lag auf dem Boden, um die schwach leuchtenden Sterne an der Decke zu bewundern. »Komm, leg dich zu mir und lass uns unterm Sternenhimmel träumen«, bat sie ihn und streckte ihre Hände nach ihm aus. Hagen legte sich zu ihr und gemeinsam schauten sie nach oben. Plötzlich kam er auf die Idee, in den Urlaub zu fahren. Beide gemeinsam hatten sie Potsdam noch nie für längere Zeit verlassen und schon gar nicht, um in den Urlaub zu fahren. Jetzt noch ohne das Pünktchen bestand die Möglichkeit, es ohne längere Planung und vielen Vorbereitungen in die Tat umzusetzen. »Jana, könntest du dir vorstellen, dass wir in zwei Wochen in den Urlaub fahren? Oder ist das zu anstrengend für dich?«, fragte er besorgt. »Au ja! Urlaub ist doch nicht anstrengend. Aber nur, wenn wir dort einen echten Sternenhimmel beobachten können«, antwortete sie begeistert. »Ich würde gerne ans Meer fahren, was hältst du davon?«, wollte er von ihr wissen.
»Wirklich? Ans Meer ...«, sagte Jana träumerisch. »... das wäre toll! Kennst du denn Orte am Meer, wohin wir in den Urlaub fahren können?«, erkundigte sie sich. »Meine Eltern sind oft nach Sylt gefahren. Vor fünf Jahren waren wir das letzte Mal dort, wir nannten es Abschiedsurlaub, weil ich danach nicht mehr mit meinen Eltern fahren wollte. Es war ein toller Urlaub, daran kann ich mich gut erinnern«, schwärmte er. »Sylt? An welcher Küste liegt diese Stadt?«, wollte sie wissen. Hagen rollte im Dunkeln mit den Augen. Ab und an stellte Jana wirklich naive oder gar dumme Fragen. Hagen verzieh ihr so manche Äußerungen, die sie von sich gab, denn sie wusste es einfach nicht besser. »Schatz, Sylt ist eine Insel!«, erklärte er Jana. »Ich rufe meine Eltern an und frage, ob sie mir die Adresse oder Telefonnummer der Pension geben können. Wie ich mich erinnern kann, fühlten wir uns in der kleinen Pension immer wohl.« Er ging ins Wohnzimmer, um seine Eltern anzurufen. »Hallo, mein Sohn«, meldete sich sein Vater. »Was gibt es, geht’s euch gut?«, erkundigte er sich. »Ja, Papa, alles in bester Ordnung. Ich habe vor, mit Jana in den Urlaub zu fahren. Da fiel mir die Pension auf Sylt ein. Habt ihr noch die Telefonnummer oder den Namen?«, fragte Hagen interessiert. »Ja den Namen weiß ich noch. Die Pension hieß Kleine Möwe und der Besitzer Heiko Brodersen«, antwortete sein Vater. Im Hintergrund hörte er seine Mutter sagen, dass sie keine Telefonnummer mehr hätte aber, dass man die Pension sicher im Internet finden konnte. Hagen berichtete noch die neusten Informationen über Janas Schwangerschaft und verabschiedete sich mit dem Versprechen, sich noch mal zu melden, sobald er gebucht hatte. Plötzlich hörte er ein »Huch!« und ein Poltern aus dem Kinderzimmer. Er legte sofort auf und rannte ins Kinderzimmer. »Jana, was ist?«, rief er erschrocken. Er sah die Leiter samt Jana unten auf dem
Fußboden liegend! »Was ist iert? Geht’s dir gut? Hast du dir wehgetan?«, fragte er aufgeregt. »Ich bin bei der letzten Stufe ins Stolpern gekommen, konnte mich aber an der Wiege festhalten und bin trotzdem auf den Boden geplumpst ..., weil man in dem Zustand nicht mehr so sportlich ist!« Sie hielt sich den Bauch vor Lachen und Hagen stand wie ein begossener Pudel vor ihr. »Ist auch alles in Ordnung mit unserem Pünktchen?«, flüsterte er besorgt. »Ja, sag mir lieber, ob du die Telefonnummer von dieser Insel hast?«, fragte sie neugierig. Er kniete sich hin, streichelte und küsste den runden Bauch und fragte das Baby, ob es ihm gut geht. Anschließend legte er sich zu Jana auf den Boden und schauten wieder in den Sternenhimmel. »Stell dir vor, wir liegen jetzt auf dieser Insel. Wie heißt sie noch?«, flüsterte Jana. »Der Name der Insel ist Sylt!«, antwortete Hagen. »Aha, also stell dir vor, wir liegen am Strand von Sylt, die Sonne lacht vom blauen Himmel und die Palmen wedeln im Wind«, schwärmte sie. »Jana, auf Sylt gibt es keine Palmen«, belehrte er sie. »Wieso? Am Strand gibt es doch immer Palmen«, behauptete Jana. »Palmen wachsen im Süden, in tropischen Gebieten«, erklärte er geduldig und drückte ihre kleine zarte Hand. »Aber Schatz, auch ohne Palmen wirst du von Sylt begeistert sein«, sagte er überzeugend. Er stand auf und half Jana auch auf die Beine. Danach ging er ins Wohnzimmer und schaltete den PC an. Er gab die Begriffe ›Kleine Möwe - Sylt‹ ein und sofort
poppte eine Internetseite von dieser Pension hoch. Der Name der Pension Kleine Möwe war richtig, nur unter Besitzer stand Wencke und Haro Fries. Er wollte erst weitersuchen, schaute sich aber vorher doch die Bilder der Pension an. Die Zimmer sahen etwas anders aus als früher, so, als wären sie frisch renoviert worden, aber irgendwie kam ihm der Außenbereich bekannt vor. Hagen nahm den Block und den Kugelschreiber vom Schrank und schrieb sich die Telefonnummer auf. Morgen nach dem Frühstück wollte er sofort anrufen.
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»Hagen, Hagen«, weckte Jana ihn. »Frühstück ist fertig, aufstehen!«, säuselte sie in sein Ohr und rüttelte ihn gleichzeitig an der Schulter. Er machte seine verschlafenen Augen auf, blieb wie versteinert liegen und schaute sie ungläubig an. »Wie? Ist die Nacht schon vorbei?«, fragte er mit rauer Stimme. Sie setzte sich auf die Bettkante und krabbelte mit ihren Fingern seinen Arm entlang. Es war zwecklos, sich umzudrehen, um weiterzuschlafen, er musste aufstehen. Er streckte sich ausgiebig und gähnte laut. Mit einem Ruck umklammerten seine kräftigen Arme ihren Körper und zog sie zu sich ins Bett. »Geht’s euch gut, habt ihr beide gut geschlafen?«, wollte er wissen und legte seine Hand auf Janas dicken Bauch. »Ja haben wir, aber jetzt ist die Nacht vorbei. Du wolltest doch heute Morgen in diesem Hotel anrufen«, erinnerte sie ihn ungeduldig. »Jana, mein Liebling, wir buchen eine Pension und kein Hotel«, erklärte er ihr. »Aber das ist doch dasselbe, oder?«, behauptete sie. »Ich zeige es dir nachher am PC, jetzt genießen wir erst mal das Frühstück. Der Kaffee duftet bis hierher und mein Magen kann auch nicht mehr warten, komm.«
Er stand auf und zog sie aus dem Bett. Nach dem Frühstück holte Hagen das Telefon und den Block in die Küche, um in der Pension anzurufen. Er wählte die Nummer, die er gestern auf einem Zettel notiert hatte. Es dauerte ein wenig, bis sich jemand am anderen Ende meldete. »Pension Kleine Möwe«, meldete sich eine Dame. »Guten Tag, hier Hagen Neubert. Ich möchte in zwei Wochen am Samstag für eine Woche ein Doppelzimmer buchen«, äußerte er seinen Wunsch. Als Antwort kam, dass sie nachschaut. Er hörte ein Blättern in einem Buch. Dann kam die freudige Nachricht, dass sie noch ein Zimmer für die gewünschte Woche frei hätte und dass sie eine Buchungsbestätigung per Mail senden werde. »Ich bedanke mich und wir freuen uns, Sie kennenzulernen«, antwortete Hagen und er grinste von einem Ohr zum anderen. In der Zwischenzeit hatte Jana den Tisch abgeräumt, das Geschirr abgewaschen und stellte, während sie das Geschirr abtrocknete, eine Frage nach der anderen. »Wie kommen wir denn auf diese Insel? Müssen wir mit einer Fähre herüberfahren, oder fliegen wir und lassen unser Auto am Festland stehen?«, fragte Jana interessiert. Ihr kleiner Mund stand nicht eine Sekunde still. »Schatz, ich buche jetzt einen Autozug, der fährt von Niebüll auf die Insel!«, erklärte er geduldig. »Aber wie fährt ein Zug übers Wasser? Gibt es dort eine Brücke?« »Komm, wir setzten uns jetzt ins Wohnzimmer an den Computer und ich zeig dir alles, was wir vorhaben. Vorher muss ich noch die Fahrt mit dem Autozug buchen, sonst bekommen wir keine Tickets mehr«, unterbrach er ihre Fragerei und lachte.
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Die Zeit verging wie im Flug und Hagen erstellte zusammen mit Jana eine Liste mit all den Sachen, die sie mitnehmen wollten. Jana packte die Dinge der Reihe nach ein und hakte jeden einzelnen Posten auf der Liste ordentlich ab. Dann war es endlich so weit, Hagen trug den ersten Koffer ins Auto. Jana rannte ein wenig kopflos durch die Wohnung und war aufgeregt wie noch nie. Pünktchen machte Turnübungen in ihrem Bauch und Hagen hätte am liebsten die ganze Zeit seine Hand auf dem Bauch liegen lassen, damit er die Beulen, die man sah, spüren konnte. Aber sie mussten pünktlich losfahren, damit sie den Autozug in Niebüll nicht verten. »Jana, kommst du bitte noch mal in die Küche?«, rief er laut durch die Wohnung. »Wir müssen überlegen, ob wir alles im Auto haben und in der Wohnung nichts vergessen auszuschalten.« Sie fingen an alles aufzuzählen, doch eins hatten sie tatsächlich vergessen. Den Schwangerschafts, den hatte Jana noch in der anderen Tasche. Sie rannte in den Flur und legte das Heftchen in ihre Handtasche. »So, dann kann es losgehen«, beschloss Hagen, nahm Jana an die Hand, ging mit ihr in den Hausflur und schloss die Wohnungstür ab. »Und, wenn wir etwas vergessen haben?«, murmelte Jana vor sich her. »Wir bleiben in Deutschland, da können wir alles kaufen. Jetzt fang an zu genießen«, beruhigte er sie. Sie gingen die Treppen hinunter und Hagen lief neben ihr, damit sie nicht noch stolperte. Er empfand es doch anstrengender, als er es sich vorgestellt hatte. Am Auto angekommen polsterte er alle Ecken und Kanten mit Kissen und einer Decke aus, Jana sollte es bequem haben. »Wir fahren erst einmal zwei Stunden, machen dann eine Kaffeepause und essen unser Frühstück«, schlug er vor.
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Sie kamen nach sieben Stunden Autofahrt mit ausreichend Pausen in Niebüll an. Jana verspürte keinerlei Beschwerden und die Autofahrt war amüsant. Mit viel Fantasie planten sie ihr weiteres Leben, äußerten ihre Vorstellungen, die sie von Pünktchens Aussehen hatten und trällerten abwechselnd einige Kinderlieder, die ihnen noch so einfielen. Hagen fuhr direkt an den Terminal und stellten sich in der Autoschlange an. Als sie dann auf dem Zug waren und fest standen, atmete Jana auf. Sie fand die Reise aufregend und die Fahrt mit dem Auto auf einem Zug fantastisch. Sie saß entspannt im Auto und genoss gemeinsam mit Hagen den Ausblick. Er war einfach einzigartig. Leider war der Teil der Zugreise viel zu kurz, denn bereits nach ungefähr vierzig Minuten waren sie in Westerland angekommen. Ihr Auto rumpelte vom Zug und knapp zehn Minuten später kamen sie an der Pension an. »Pension Kleine Möwe, da ist es«, rief Jana begeistert und drückte ihre Nase an der Seitenscheibe platt. Wencke Fries stand am Fenster und wartete auf ihre ersten Gäste. Als sie das Auto sah, welches vor der Pension in einer der Parkbuchten hielt, lief sie schnell hinaus und begrüßte herzlich das junge Paar. »Herzlich willkommen in unserer kleinen Pension. Sie möchten bestimmt erst einmal Ihr Zimmer begutachten?«, erkundigte sie sich. Sie liefen durch den Garten ums Haus und Wencke zeigte ihnen den Eingang für die Gäste. Die drei trabten gemütlich die Treppe hinauf und Wencke öffnete die Tür zum Möwenzimmer, welches die Gäste die nächsten sieben Tage bewohnen würden. Jana trat ein und klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Großartig, das macht wirklich einen gemütlichen Eindruck. Ich glaube, hier werden wir uns wohlfühlen«, rief sie und strahlte über das ganze Gesicht. »Es freut mich, dass es Ihnen gefällt. Sollten Sie noch irgendetwas benötigen, sagen Sie mir bitte Bescheid. Wenn Sie ausgepackt und ein wenig geruht haben, zeige ich Ihnen den Frühstücksraum«, bot Wencke den beiden an und ließ sie
allein. Hagen warf sich als Erstes aufs Bett und testete die Matratze. Jana ging ins Bad und schaute sich um. Alles war in einem sauberen und ordentlichen Zustand. Beide waren zufrieden und Jana bestätigte Hagen, dass er mit dieser Pension eine gute Wahl getroffen hatte. »Soll ich jetzt die Koffer holen?«, fragte er und zog sie an sich. Er küsste sie und streichelte den Bauch. Sie nickte, setzte sich auf das Bett und ließ sich zurückfallen. Als Hagen mit den Koffern zurückkehrte, lag sie auf dem Bett und schlief. Er deckte sie vorsichtig zu, öffnete einen Spalt die Fenster und trabte die Treppe wieder hinunter. Er lief im Garten umher und Wencke, die gerade mit Wäsche aufhängen fertig war, kam auf ihn zu. »Kann ich Ihnen jetzt den Frühstücksraum zeigen?«, fragte sie. »Dazu müssen wir allerdings wieder ins Haus gehen.« Als sie die schmiedeeiserne Klinke der Eingangstür hinunterdrückte und es leise quietschte, wurde Jana wach. Sie rief nach Hagen, der es unten im Eingangsbereich hörte. »Ich bin hier unten, komm runter«, rief er nach oben. Jana kam die Treppe nach unten getippelt und wirkte noch verschlafen. »Na, haben wir ein kleines Nickerchen gemacht?«, fragte er liebevoll. Wencke lächelte und fand es süß, wie die beiden miteinander umgingen. Ihr war bereits bei der Ankunft nicht entgangen, dass Jana schwanger war. Ihr fachmännischer Blick sagte ihr, dass die junge Frau mindestens Anfang achten Monats war und fragte nach, ob nach dieser langen Fahrt auch alles in Ordnung sei. Jana nickte und streichelte sich liebevoll über ihren Bauch. Wencke zeigte den beiden die Tür neben der Treppe, öffnete sie und alle drei traten hintereinander in den Frühstücksraum ein. Sie fragte die beiden, um welche Uhrzeit sie frühstücken wollten und ob sie täglich ein Ei wünschten. »Den Kühlschrank, der oben im Flur neben Ihrem Zimmer steht, können Sie benutzen. Die Preisliste für die Getränke, die dort drinstehen, hängt an der rechten Seite des Kühlschranks. Leider muss ich mich jetzt entschuldigen, meine beiden Kinder warten bei den Nachbarn, dass ich sie abhole«, sagte Wencke und drehte sich um. »Wir sehen uns bestimmt nachher noch oder morgen zum
Frühstück.« Jana und Hagen gingen gemeinsam die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und packten ihre Koffer aus. Sie überlegten dabei, wo sie zum Essen einkehren wollten. »Hagen, ich möchte heute in einem Restaurant am Strand essen, da gibt es sicher einige. Ich will endlich das Meer sehen«, drängelte sie den jungen Mann. »Aber gerne, Mutter meines Kindes«, rief er aus dem Badezimmer, wo er sich noch ein wenig frisch machte. »Lass uns, bevor wir losgehen, den Kühlschrank und die Preise begutachten«, schlug er vor. Jana war sehr zufrieden, der Kühlschrank war peinlich sauber und die Preise für die Getränke waren moderat. Das ersparte den beiden das Getränkeschleppen, worüber sie froh waren. Sie nahmen ihren Zimmerschlüssel, schlossen ihre Tür zu und liefen die Treppe hinunter. Sie stiegen ins Auto und fuhren ins Zentrum der Stadt. In einem Supermarkt kauften sie neben Obst, Paprika, Joghurt und Nüssen für Hagen noch eine Tüte Chips für den Fernsehabend. Danach ging es weiter zum Essen. Sie hatten sich ein tolles Restaurant auf einer Düne mit Blick übers Meer ausgesucht. Jana war fasziniert von alledem und wollte ihre glückliche Stimmung mit einem Glas Weinschorle begießen, doch Hagen war dagegen. »Hagen, jetzt bleib mal ruhig und verderbe nicht die Stimmung. Du bist ein Angsthase«, grollte sie. »Habe ich nicht bis jetzt alles richtig gemacht, trotz deiner Angst? Ich habe dir schon einmal gesagt, ich bin nur schwanger und nicht krank«, schimpfte sie leise. »Na gut, aber nur ein Glas. Bis jetzt hast du wirklich alles hervorragend gemeistert«, lenkte er ein. Die nette Kellnerin nahm ihre Bestellung auf und während sie sich das Essen
schmecken ließen, überlegten sie, was sie sich alles auf Sylt anschauen wollten. Nach dem Essen liefen sie noch kurz am Strand entlang, denn Jana wollte unbedingt die Füße ins Meer halten. Mit einem kleinen Stock, den sie auf dem Weg dorthin fand, malte sie ein riesengroßes Herz in den Sand und schrieb ihre Anfangsbuchstaben hinein. In der Mitte malte sie einen dicken Punkt und zeichnete ein kleines Herz drumherum. Sie strahlte über das ganze Gesicht und Hagen liebte sie in diesem Moment ganz besonders. Auf dem Heimweg beklagte sie ihre Müdigkeit und kündigte an, dass sie gleich ins Bett fallen werde. Hagen machte es sich an diesem Abend vor dem Fernseher bequem und betrachtete zwischendurch die schlafende Jana.
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Am nächsten Morgen – Hagen schlief noch – putze Jana sich ihre Zähne und stellte die Dusche an. Sie zog ihr Unterhöschen aus und erstarrte vor Schreck – Blut! – Sie stieß einen spitzen Schrei aus und Sekunden später platzte Hagen rein. Sie hatte die Situation sofort erfasst und wurde blass. Jana schaute ihn verstört an. »Lass uns zum Frühstück runtergehen. Ich frage Frau Fries nach einem Frauenarzt und wir fahren dorthin.« Sie zogen sich schweigend an, Hagen hatte noch keinen Ton gesagt. Er folgte ihr ins Frühstückszimmer, in dem Wencke den Tisch bereits mit allerlei Köstlichkeiten gedeckt hatte. Sie brachte den frischen Kaffee herein und spürte sofort, dass bei dem Paar irgendwas nicht in Ordnung war. Ihr kam das Verhalten der beiden heute seltsam vor, sie sahen sich mit bösen Blicken an und sagten kein Wort. Als sie die frischen Brötchen aus der Küche holte, hörte sie, wie seine Stimme etwas lauter und aggressiver wurde. Mit dem Brotkorb in der Hand kehrte Wencke in den Raum zurück und es sprudelte aus Hagen nur so heraus. »Frag sie endlich Jana! Los, mach jetzt, oder traust du dich nicht?«, schimpfe er. »Soll es keiner wissen, dass du gestern Alkohol getrunken hast? Los frag sie
jetzt«, rief er wütend. Wencke wusste nicht wie sie sich verhalten sollte. Verlegen schaute sie die beiden jungen Menschen an. »Wenn ich helfen kann, sagen Sie es bitte«, schlug sie vor. Jana holte tief Luft und fragte sie nach einem Frauenarzt. Sie fing an zu weinen und erzählte, was sich oben im Zimmer abgespielt hatte. Und dass sie sich gestern zum Essen eine Weinschorle gönnte, betonte aber im gleichen Atemzug, dass sie während der ganzen Schwangerschaft keinen Alkohol getrunken hatte. Wencke ging auf Jana zu und berührte sie sacht am Arm. Sie beruhigte die beiden und erzählte ihnen, dass sie Hebamme sei und bis vor Kurzem in einem Geburtshaus in Flensburg gearbeitet hatte. Sie würde ihren Hebammen-Koffer holen und Jana sofort untersuchen, wenn sie es wünschten. Jana atmete auf. Sie spürte die mächtige Angst um ihr Ungeborenes und konnte nur noch nicken. Die Tränen rannen ihr über das Gesicht und sie schaute immer wieder zu Hagen. Er bekam wieder etwas Farbe im Gesicht und fragte kleinlaut, ob er denn bei der Untersuchung dabei sein könnte. »Nun setzt euch erst einmal und frühstückt. Solch eine leichte Zwischenblutung in dem fortgeschrittenen Stadium ist meistens nichts Schlimmes«, sagte sie mit leisen, einfühlsamen Worten. Sie drückte Jana sanft auf einen Stuhl und signalisierte Hagen mit einem Nicken, das er sich ebenfalls setzen sollte. »Wenn ich nachher bei der Untersuchung etwas feststelle, dann gebe ich euch die Adresse eines Frauenarztes.« Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch und streichelte Janas kalte Hand. Sie sprach leise und eindringlich weiter auf Jana ein, was eine beruhigende Wirkung nicht nur bei Jana auslöste. Nachdem die jungen Leute mehr schlecht als recht jeder ein Brötchen heruntergewürgt hatten, schickte Wencke die beiden auf ihr Zimmer und ging mit ihrem Untersuchungskoffer hinterher. Das Ergebnis der Untersuchung war positiv und es gab keinerlei Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Der Herzschlag des Kindes war völlig normal und sie konnte guten Gewissens sagen, dass alles in Ordnung sei. Wencke bat das Paar, ihr eine Nachricht zu geben, wenn die Blutung noch mal auftreten sollte.
»So ihr beiden, die nächsten zwei Tage lasst ihr es ruhig angehen. Legt euch am Strand nicht in die Sonne, keine langen Strandspaziergänge und keine sportlichen Aktivitäten«, befahl Wencke mit strengem Ton, lächelte aber dabei. »Und ... bitte seid nicht so ängstlich. Von der Weinschorle kann das nicht iert sein.« »Vielen Dank, Frau Fries, Sie haben uns sehr geholfen und unseren Urlaub gerettet. Wie können wir das wieder gutmachen?«, erkundigte sich Hagen. »Ihr könnt anderen von unserer Pension Kleine Möwe erzählen, wie schön es hier ist«, erwiderte sie lachend.
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Jana und Hagen hatten die ersten Strandtage hinter sich und Jana ging es ausgezeichnet. Sie trauten sich jetzt zu, einige Ausflüge zu unternehmen. Als Erstes wollte Jana einen Leuchtturm sehen, und sie entschieden sich, nach List zu fahren. Am nächsten Tag stand die Wanderdüne auf dem Programm und das rote Riff wollten sie sich auch nicht entgehen lassen. Die Tage waren schnell vorbei, und die Abende im Garten der kleinen Pension hatten sie besonders genossen. Wencke war eine unbeschreiblich liebenswerte Gastgeberin. Genauso liebenswert waren auch die Kinder Mia und Janis. Hagen freute sich, wenn sie aus dem Kindergarten nach Hause kamen. Das Spielen und Toben im Garten, bis sie erschöpft im Gras lagen, machten ihm aber auch den Kindern viel Spaß. Wencke hatte auch nichts dagegen. Die Kleinen maulten nicht, wenn sie ins Bett mussten und schliefen abends sofort ein. Aber die Zeit ging schnell vorbei und die Heimfahrt der Gäste kam immer näher. Am Samstagfrüh mussten sie sich voneinander verabschieden. Mia und Jana
waren besonders traurig, denn die Kleine mochte Jana gut leiden und durfte immer ihren Babybauch streicheln. Mia konnte die Tränen nicht unterdrücken und schluchzte herzzerreißend. »Und wenn das Baby da ist, ruft ihr an und berichtet. Versprochen?«, rief Wencke ihnen bei der Abfahrt zu. »Versprochen!«, riefen Jana und Hagen aus einem Mund und mussten lachen. Wencke und die Kinder standen am Gartenzaun und winkten zum Abschied. Zwei Monate später wurde Janas und Hagens Sohn Luca geboren, Mutter und Kind waren wohlauf.
3. Kapitel
Jürgen saß im Büro und schaute aus dem Fenster. Er sah, wie die dicken Regentropfen gegen die Scheibe klatschten. Missmutig runzelte er die Stirn. Genauso mies wie das Wetter war auch seine Laune. Vor einer halben Stunde beendete er das Telefonat mit seiner Freundin Katja, welches einen großen Anteil an seiner schlechten Laune hatte. Wie in letzter Zeit so oft, ergab ein Wort das andere und schon war der Streit da. Er wollte ihr nur kurz mitteilen, dass er nach Feierabend zu seinen Eltern fahren würde und später zu ihr käme. Er hätte gerne einen lauschigen, ruhigen Abend mit ihr verbracht, nett zu Abend gegessen, sich bei Netflix einen Krimi oder Ähnliches angeschaut und frühzeitig zu Bett gegangen. »Du fährst schon wieder zu deinen Eltern?«, maulte sie. »Ich dachte wir gehen essen.« »Katja, wir können doch nicht jeden Abend essen gehen. Lass es uns zu Hause gemütlich machen«, entgegnete Jürgen, hörte aber an ihrer Stimme, dass sie davon nicht begeistert war. »Und was heißt, schon wieder zu meinen Eltern? Ich war vor sechs Wochen das letzte Mal dort. Mein alter Herr hat das Motorrad, an dem er seit Wochen herumschraubt, fertig. Das wollte ich mir nur kurz anschauen, weiter nichts«, sagte Jürgen und seufzte. »Na gut, ich fahr kurz hin, werfe einen kurzen Blick in die Garage und hol dich anschließend zum Essen ab. Ich bin um halb acht da.« Wütend schmiss er den Hörer auf die Gabel und ärgerte sich über sich selbst, dass er wieder klein beigegeben hatte. Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und dachte an Steffi. Stefanie war Katjas beste Freundin, und er empfand eine Menge für sie, obwohl er mit Katja seit einem dreiviertel Jahr zusammen war. Er lernte Katja auf der Dortmunder Fachmesse für Bekleidung kennen. Er war Einkäufer eines großen deutschen Bekleidungsunternehmen, sie war Vertriebsleiterin einer Modeboutique-Kette. Als sie dort ins Gespräch kamen, stellten sie fest, dass sie beide in Flensburg wohnten und Jürgen nutze die Gelegenheit, diese junge hübsche Dame mal zum Essen einzuladen. Sie wurden
ein Paar und vier Wochen später lernte er Steffi kennen. Die Tür wurde aufgerissen und Jürgen schreckte aus seinen Gedanken hoch. Seine Sekretärin Frau Steinke steckte den Kopf durch die Tür. »Herr Benschneider, gibt es noch etwas? Ansonsten würde ich gerne Feierabend machen.« Sie lächelte und schaute ihn erwartungsvoll an. »Nein Frau Steinke. Schönen Feierabend«, sagte er. »Ich mache auch gleich Schluss, bis morgen.« Frau Steinke schloss die Tür und Jürgen erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Das Angebot einer japanischen Firma über die neusten, trendigsten T-Shirts legte er zur Seite, das konnte er auch morgen noch bearbeiten. Er schnappte sich seine Aktentasche, zog sein Jackett über und begab sich zur Tiefgarage, in dem sein großer SUV stand. Er war froh, dass er bei dem hässlichen Regen nicht auf die Straße musste, um ellenlange Wege zu laufen, damit er zu seinem parkenden Wagen kam. Denn das Bürogebäude seines Arbeitgebers lag inmitten der Flensburger Innenstadt und dort war es mit Parkplätzen wie in einer Lotterie. Er stieg in den Wagen und startete den Motor. Mit einem sanften Brummen rollte er durch das Parkhaus, hielt an der Schranke seinen Chip gegen das Lesegerät und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Um diese Uhrzeit waren die Straßen der Innenstadt verstopft, Stoßstange an Stoßstange reihten sich aneinander und Jürgen hatte das Gefühl, nicht vorwärtszukommen. Jede Ampel, die er kreuzte, schaltete auf Rot, genau in der Sekunde, als er sie ieren wollte. Seine Gedanken schweiften zurück zu Steffi. Sie war vollkommen anders als Katja und Jürgen wunderte sich, dass zwei so unterschiedliche Charaktere zueinander ten. Katja war impulsiv und manchmal aufbrausend, dominant, konnte schwer Kompromisse eingehen und ... sie konnte nicht kochen. Steffi hingegen war sanftmütig, selbstbewusst, hatte immer gute Laune. Sie war einfach eine Frohnatur und ging unbekümmert durchs Leben.
Hübsch sind sie beide, dachte Jürgen, als er zum wiederholten Mal an einer roten Ampel hielt. Katja war sehr groß, gertenschlank, blond und blauäugig. Steffi dagegen klein, zierlich, mit dunkelbraunem, langem Haar und dunkle Augen. Und sie konnte hervorragend kochen. Als er Steffi das erste Mal sah, fand er sie auf Anhieb sympathisch. Ihm gefiel die lockere Art und sie strahlte eine Menge Empathie aus. Sicher hatte dies auch etwas mit ihrer Berufswahl zu tun, denn sie arbeitete in einem Heim mit behinderten Kindern. Immer wenn sie von ihren kleinen Schützlingen sprach, ging ein Leuchten über ihr Gesicht, wohingegen Katja oft die Nase rümpfte und nicht verstand, wie Steffi so viel Freude an ›solch einem Job‹ haben konnte. Doch Steffi lachte nur darüber und nahm es Katja auch nicht übel, dass sie so sprach. Sie zuckte dann meist nur mit den Schultern und erwiderte: »Einer muss sich ja um die kleinen Würmchen kümmern. Und wenn du das nicht machst, dann mache ich das eben.« Jürgen hatte den höchsten Respekt vor Steffi und ihrer Arbeit. Hinter Jürgen hupte es laut und ungehalten. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er die Grünphase nicht mitbekam. Er legte den ersten Gang ein und rollte weiter. Seine Eltern lebten in Tarup, dem dörflichsten Stadtteil Flensburgs und hier floss der Verkehr um einiges ruhiger. Es wurde grüner und ländlicher, die ersten Hä tauchten auf. Er fuhr an dem alten, historischen Marktplatz vorbei und zwei Querstraßen weiter parkte er seinen Wagen vor einem kleinen Einfamilienhaus. Seine Mutter stand im Garten und erblickte Jürgen. Ein Strahlen huschte ihr über das faltige Gesicht und die Freude, ihren Sohn zu sehen, war ihr anzusehen. Sie legte die Harke zur Seite, wischte sich die Hände an ihrer Kittelschürze ab und lief auf ihm zu. »Jürgen«, rief sie erfreut. »Du hast gar nicht gesagt, dass du vorbeikommst.« »Oh doch, das habe ich Muddi«, lachte Jürgen und umarmte seine Mutter. »Papa hatte ich es gesagt, er sollte dir ausrichten, dass ich heute vorbeikomme. Ich sprach vor ein paar Tagen mit ihm wegen seinem Motorrad.« »Och, Papa und sein Schietkram«, schimpfte sie, lachte aber dabei.
Das Garagentor schwang auf und heraus trat ein großer hagerer Mann. Seine ölverschmierte Jeans schlackerte um seine Hüften und sein Hemd sah auch nicht besser aus. Er rubbelte sich die Hände an einem Tuch ab und lief auf Jürgen zu. »Na Sohn, schön, dass du da bist. Bin gerade fertig geworden, die Kette schlackerte noch. Jetzt ist alles tipptopp. Willst sehen?« »Hallo Paps, na klar. Deswegen bin ich doch hier«, lachte Jürgen und klopfte seinem Vater kräftig auf die Schulter. »Junge, wir essen gleich. Magst mitessen?«, fragte Mutter Benschneider. »Nee, lass mal Muddi, ich geh nachher mit Katja noch was essen«, antworte Jürgen und verschwand mit seinem Vater in der Garage.
*
Eine Stunde später saß Jürgen wieder im Wagen und war auf dem Weg zu Katja. Schon zum zweiten Mal dachte er heute an Steffi. Er entschloss sich, sie kurz anzurufen, denn er hatte eine kleine Überraschung für sie. Einer seiner Lieferanten erzählte ihm am Telefon, dass er eine Fehlproduktion von einfarbigen Kinder T-Shirts hatte und ihm diese für einen geringen Betrag angeboten. Ungesehen wollte Jürgen diese aber nicht annehmen und bat um ein paar Probeexemplare, denn er wollte sich selbst ein Bild davon machen, ob diese zu einem Sonderpreis noch zu verkaufen wären. Der Lieferant schickte ihm eine ganze Kiste, verschiedenfarbig sortiert, in allen Größen. Jürgen schaute sich die Shirts im Einzelnen an und befand sie für gut, denn der Webfehler am Kragen war so winzig, dass es kaum auffiel. Er orderte eine Palette und ließ sie als BWare zu einem Schnäppchenpreis in dem Bekleidungsunternehmen verkaufen. Die eine Kiste, die noch in seinem Büro stand, wollte er Steffi vermachen, damit sie diese in dem Heim verschenken konnte. Er wählte über die Freisprechanlage ihre Nummer. Nach dem zweiten Klingeln
knackte es in der Leitung. »Stefanie Hensch«, erschallte es laut in dem SUV. »Hallo Steffi, hier ist Jürgen.« »Jürgen, schön, dich zu hören.« »Du, ich habe eine Frage. Hättest du Interesse an einer Kiste unifarbener Kinder T-Shirts? Ich dachte mir, vielleicht kannst du mit deinen Kindern im Heim was Schönes daraus machen. Bedrucken, oder anmalen, oder Batikkunst ...«, zählte Jürgen auf. Jürgen erörterte Steffi, was es mit den Shirts auf sich hatte und er würde es schade finden, diese einfach wegzuschmeißen. Steffi war begeistert von dieser Idee. »Aber sicher. Das ist eine tolle Sache. Dass du dabei an mich gedacht hast finde ich großartig. Da kann ich eine Menge mit machen«, erwiderte Steffi erfreut. »Prima, ich würde sie dir nächste Woche vorbeibringen«, sagte Jürgen und freute sich insgeheim darüber, sie wiederzusehen. »Ach Jürgen, das ist wirklich lieb von dir. Aber nächste Woche habe ich ein paar Tage Urlaub. Ich bin überhaupt nicht arbeiten«, sagte sie bekümmert. »Du hast Urlaub. Hm, fährst du denn weg?«, erkundigte er sich. »Ich würde gerne, aber so alleine? Ich weiß es noch nicht. Ich hatte bereits Katja gefragt, aber sie muss arbeiten und an einem Tag muss sie zu einem neuen Kunden nach Berlin.« In Jürgen arbeitete es. Das war seine Chance, jetzt oder nie. Er wusste, dass er sich mit dem, was er Steffi gleich fragen würde, auf gefährliches Territorium bewegen würde, aber er musste es einfach tun. »Ich habe nächste Woche auch Urlaub«, log er. »Ich bin bei meinem besten Freund Haro auf Sylt. Er besitzt dort zusammen mit seiner Frau eine kleine Pension. Ich half den beiden beim Umzug und als kleines Dankeschön boten sie mir eine Woche Gratisurlaub an.« Das Haro ihm den Urlaub angeboten hatte war
auch nicht gelogen, allerdings boten Wencke und Haro ihm diesen mit seiner Freundin Katja an. Doch diesen Teil verschwieg Jürgen. »Davon hat mir Katja gar nichts erzählt«, erwiderte Steffi erstaunt. »Kann sie ja auch nicht wissen, ich wollte es ihr heute Abend sagen, als Überraschung sozusagen. Aber wenn sie arbeiten muss, schade«, bedauerte Jürgen. Für einen Bruchteil von Sekunden herrschte Stille zwischen ihnen. Jürgen holte tief Luft. »Dann kommst du eben mit«, platzte er heraus. »Ich weiß nicht«, kam die zögerliche Antwort von Steffi. »Ach komm. Was ist schon dabei? Eine Woche Ausspannen, sich die Seeluft um die Ohren wehen lassen. Schwimmen gehen, am Strand relaxen und am Abend lade ich dich zum Essen ein. Was sagst du?« »Und Katja?«, flüsterte Steffi. Auch sie war von Jürgen sehr angetan, sie mochte ihn von Anfang an. Aber er war nun mal Katjas Freund, und nicht ihrer. In Steffi regte sich das schlechte Gewissen. Sie wusste einige Dinge über Jürgen, die ihr Katja in einer Weinlaune vor Kurzem gesteckt hatte. Steffi hörte ihr zwar zu, doch sie konnte nicht verstehen, warum Katja ihr solche, zum Teil auch sehr intime, Details erzählte. »Sie muss es ja nicht wissen«, murmelte Jürgen. »Versteh mich bitte nicht falsch. Aber das würde gleich wieder Theater zwischen mir und Katja geben. Und davon habe ich in letzter Zeit genug. Ich brauche eine Auszeit von ihr. Ich weiß auch nicht, ob sie die Richtige für mich ist«, sagte er wahrheitsgemäß. »Ich werde Katja heute Abend sagen, dass ich allein nach Sylt fahren werde und dass ich über unsere Beziehung nachdenken muss. Dass ich etwas Abstand von ihr brauche und mir über die Gefühle zu ihr Gedanken machen muss.« »Und ich fahre eine Woche zu meinen Eltern«, sagte Steffi leise. »Ach schade, wirklich? Ich dachte ...«
»Das werde ich Katja sagen«, lachte Steffi am anderen Ende.
*
Jürgen rief noch am selben Abend bei Wencke an und reservierte sich ein Doppelzimmer. Er hielt sich knapp mit Worten und sagte nur, dass er in Begleitung käme. Er reichte am nächsten Tag in seiner Firma eine Woche Urlaub ein. Sein Chef wunderte sich etwas über diesen spontanen Entschluss, doch er sagte nichts weiter dazu und genehmigte ihn. Katja hatte am Abend zuvor beim Essen diese Nachricht nicht so gut aufgenommen. Sie fand es aus ihrer Sicht befremdlich, dass Jürgen sich eine Auszeit von ihr nehmen wollte und war hochgradig beleidigt. Nach dem Restaurantbesuch bat sie Jürgen gar nicht erst mehr zu sich in die Wohnung, sondern verabschiedete sich bereits vor dem Restaurant von ihm. Jürgen zuckte nur kommentarlos die Schultern und fuhr heim. Katja hingegen rief wutentbrannt ihre Freundin Steffi an. Sie jammerte und wehklagte, wie schlecht Jürgen sie behandelte und sie wäre am Überlegen mit diesem Typen, wie sie ihn abfällig nannte, Schluss zu machen. Steffi hörte geduldig zu, brummte ab und zu ein »Aha« und ein »Hm« durch den Hörer, nahm aber keine Stellung dazu. Dann kam die Frage, vor der sie sich gefürchtet hatte. »Wollen wir uns nächste Woche nach Feierabend auf einen Wein bei mir treffen?«, fragte Katja. Steffi hielt vor Schreck den Atem an. »Ähm, nein, das geht leider nicht. Ich habe Urlaub und fahre für eine Woche zu meinen Eltern«, log sie und fühlte sich unsagbar schlecht dabei. Doch Katja bemerkte nichts. »Ach schade«, kam die enttäuschte Antwort. »Dann ein andermal.«
*
Am Montagmorgen stand Jürgen pünktlich um acht vor Steffis Haus und wartete auf sie. Die Haustür schwang auf und die junge Frau kam heraus. Sie zog einen nicht allzu großen Koffer hinter sich her und die kleinen Plastikräder ratterten auf den Asphalt. Jürgen stieg aus, lief ihr entgegen und nahm galant den Koffer zur Hand. Er schob die große Kiste mit den Kinder-T-Shirts zur Seite und verstaute ihr Gepäck daneben. »Bevor wir nach Sylt aufbrechen fahren wir kurz vorher noch an deinem Heim vorbei und geben dort die Kiste ab. Es ist dir doch recht?«, fragte er und lächelte. Er klopfte mit der flachen Hand auf den Karton und schloss die Kofferhaube. »Ja, gerne, wenn es keine Umstände macht«, erwiderte sie und lächelte zurück. Sie schlängelten sich durch den dichten Berufsverkehr und keine zwanzig Minuten später waren sie auf den Weg zur Pension Kleine Möwe. Die Überfahrt über den Hindenburgdamm war herrlich. Es wehte ein leichter Wind durch die offenen Seitenfenster des Autos und die Sonne strahlte vom blauen Himmel. Steffi hatte ihr schlechtes Gewissen Katja gegenüber einfach über Bord geworfen und konzentrierte sich voll und ganz auf Jürgen und ihren Urlaub. Sie freute sich, dass sie eine Woche mit ihm zusammen sein konnte und sie würde sehen, wie sich die Sache zwischen ihnen beiden entwickeln würde. Sollte Jürgen sich in der Woche entscheiden, bei Katja zu bleiben, dann würde sie es akzeptieren, würde er Katja verlassen und ihr den Hof machen, dann wäre sie bereit dazu. In der Nacht zuvor hatte sie nach reiflicher Überlegung beschlossen, nicht gegen ihre Gefühle, die sie für Jürgen empfand, anzukämpfen. Sie packte vorsichtshalber auch sexy Unterwäsche in den Koffer, ob sie zum Einsatz kam, stand in den Sternen, aber sie war zumindest gewappnet. Der große Wagen parkte direkt vor der Pension. Jürgen drehte den Schlüssel um und der Motor verstummte. Er legte die Hände aufs Lenkrad, schaute sie an und lächelte etwas gequält.
»Wencke weiß, dass ich in Begleitung komme, aber sie wird sich sicher wundern, dass Katja nicht aus diesem Wagen steigen wird, sondern du«, sagte er und strich ihr ganz kurz über ihren Arm. »Willst du gleich mit hineinkommen, oder soll ich erst einmal vorgehen?«, fragte Jürgen leise. »Ach Jürgen, es ist jetzt so, wie es ist. Ich komme mit rein und wir sprechen mit deiner Bekannten. Sie wird mir schon nicht den Kopf abreißen, oder?«, lachte Steffi und boxte ihn sacht in die Seite. »Oder ist sie Katja sehr verbunden?« »Nein, Katja hat mit Wencke nicht viel am Hut. Zwischen ihnen liegen Welten, also Freundinnen würde ich sie nicht nennen«, erwiderte Jürgen. »Na dann, auf geht's«, sagte Steffi gutgelaunt und öffnete die Beifahrertür. Sie hüpfte aus dem Wagen und wühlte in ihrer Hosentasche nach ihrem Zopfgummi. Sie band sich ihre braunen Haare zu einem frechen Pferdeschwanz zusammen, zupfte ihren Pony zurecht und öffnete die Kofferhaube. Jürgen atmete kräftig durch und verließ ebenfalls den Wagen. Er entnahm beide Koffer und stellte sie an der Gartenpforte ab. Zur gleichen Zeit, wie Jürgen vor dem Gartenzaun stand, sah Wencke aus dem Fenster. Die Person, die neben Jürgen stand kannte sie nicht. Wencke war etwas verwundert, das war nicht Katja! Sie lief in den Flur, öffnete die Haustür und ging durch den Garten. Ihre Augen suchten die von Jürgen und ihr Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. »Jürgen, schön, dass ihr da seid«, sagte sie langsam und schaute Jürgen mit großen, fragenden Augen an. »Hallo, Wencke«, erwiderte Jürgen den Gruß und ging auf sie zu. Er drückte sie kurz an sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Frage jetzt bitte nicht, ich erkläre dir alles später«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er löste sich von ihr und nahm Steffis Hand, die ein klein wenig Abseits stand. »Wencke, das ist Steffi«, sagte er und zog sie etwas näherer heran. »Steffi, das ist meine liebe Freundin Wencke.«
Beide Frauen gingen auf einander zu und schüttelten sich die Hände. Wencke musterte Steffi und fand sie auf Anhieb sympathisch. »Grüß dich, Steffi. Ich darf doch Steffi sagen?«, lachte Wencke und Steffi nickte. »Na klar, Wencke«, gluckste sie. »Ich freue mich, hier zu sein, es ist einfach herrlich«, sagte Steffi und streckte beide Arme weit auseinander. »Traumhaft«, bemerkte sie und drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Von Weitem hörte man Kinderlachen und Wencke schaute sich um. Mia und Janis kamen angerannt und blieben abrupt vor Jürgen stehen. »Hallo, Onkel Jürgen«, sagte Mia und streckte ihm ihre kleine Hand entgegen. Janis sagte nichts und starrte Steffi mit offenem Mund an. »Wer bist du denn?«, fragte der kleine Knirps und machte einen Schritt auf sie zu. Steffi lachte und ging in die Hocke. Sie streckte ihre Hand aus und sagte: «Ich bin die Steffi. Und wer bist du?« »Janis« »Aha, du bist der Janis. Und das ist sicher deine Schwester?«, schmunzelte Steffi. Janis nickte nur. »Hat sie auch einen Namen?«, fragte Steffi. Oder soll ich sie Schwester rufen?« »Nein«, kreischte Janis vergnüglich. »Man kann doch nicht Schwester zu ihr sagen. Sie heißt Mia«, lachte er und nahm seine große Schwester an die Hand. Steffi reichte auch ihr die Hand. »Hallo, Mia, ich bin Steffi. Du siehst ja richtig schick aus mit deinem Kleid«, lobte sie die Kleine und Mia strahlte. »Schau mal, wenn ich mich ganz doll drehe, dann fliegt mein Rock hoch«, kicherte Mia und drehte sich auf der Stelle im Kreis. Steffi kam aus der Hocke wieder hoch und bestaunte das fliegende Kleidchen. »Kommt Kinder«, ermahnte Wencke die Geschwister. »Wir wollen Jürgen und Steffi das Zimmer zeigen.« Janis schnappte sich Steffis Hand und zog sie mit sich, während Mia fröhlich voran hüpfte. Wencke und Jürgen folgten lachend.
»Das ist aber eine sehr Nette, die du da mitgebracht hast«, raunte Wencke Jürgen zu. »Was ist mit Katja?« »Ich erkläre dir heute Abend alles bei einem Glas Wein«, flüsterte Jürgen zurück und hakte sich bei Wencke unter.
*
Sie gingen durch den Garten um das Haus herum und betraten den Flur beim Nebeneingang. Die Kinder rannten die Treppe zu den Gästezimmern nach oben und die drei Erwachsenen folgten ihnen. Vor dem Möwenzimmer blieben sie stehen und Wencke öffnete die Tür. »Ich hatte diese Zimmer für euch fertig gemacht, denn das Leuchtturmzimmer ist bereits vermietet«, sagte Wencke. »Es sei denn ... ihr wollt getrennt schlafen?«, fragte sie flüsternd Jürgen und zwinkerte ihm zu. »Nein, t schon«, raunte Jürgen zurück. Wencke nahm die beiden Kinder und blieb kurz im Türrahmen stehen. »Ich koche gleich für mich und die Kinder, wenn ihr mitessen wollt?« Steffi schaute Jürgen an. »Also, wenn du nichts dagegen hast, Jürgen, gerne«, sagte sie und schob ihren Koffer zum Schrank. Jürgen nickte. »Wir packen nur unsere Sachen aus und kommen dann zu dir in die Küche«, sagte er und hievte seinen Koffer auf das Bett. »Das Zimmer ist wirklich hübsch«, sagte Steffi in die Stille hinein. Jetzt war sie schon ein klein wenig nervös, denn schließlich würde sie heute Abend das Bett mit dem Freund ihrer besten Freundin teilen. Jürgen spürte, dass sich Steffi unwohl fühlte. »Wir können auch getrennt schlafen«, sagte er und kratzte sich verlegen am Kopf. »Ach Quatsch, du wirst mich schon nicht fressen«, lachte Steffi unbekümmert,
doch das flaue Gefühl im Magen blieb. »Wir machen nichts, was du nicht möchtest«, versicherte Jürgen leise und trat auf sie zu. Er nahm ihre Hände und hob sie an sein Gesicht. »Fressen werde ich dich nicht, aber ...«. Er zog sie ganz nah zu sich heran und legte seine Lippen auf ihren weichen Mund. Steffi schloss die Augen und ein Kribbeln ging durch ihren ganzen Körper. Sie seufzte kurz auf, schlang ihre Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuss. »Aber was?«, hauchte sie, als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten. »Fressen nicht, aber anknabbern würde ich dich schon ganz gerne«, wisperte er zurück und küsste sie erneut. Diesmal war es nicht zart und vorsichtig, sondern voller Leidenschaft und Begierde. Sie knöpfte ihre Bluse auf und nahm seine Hand. Er spürte ihren warmen Körper und sie drückte sich fest an ihn. Gemeinsam ließen sie sich auf das Bett gleiten und versanken in völliger Wollust. Als Steffi und Jürgen verlegend lächelnd eine dreiviertel Stunde später in der Küche erschienen, brauchte Wencke keine weiteren Erklärungen von Jürgen. Sie sah den beiden an, dass hier mehr als nur eine reine Freundschaft vorlag. Gemeinsam aßen sie mit den Kindern zu Mittag und die deftige Hausmannskost schmeckte besonders Jürgen. »Wann kommt Haro nach Sylt?«, fragte er und nahm sich einen kräftigen Nachschlag von der Kartoffelsuppe. Wencke überlegte. »Heute ist Montag. Morgen hat er hier ein Gespräch mit einer Immobilienfirma, um ein Büro anzumieten. Seine Kanzleipartner wollen hier eine kleine Niederlassung eröffnen, die Haro leiten soll.« »Dann hört für Haro endlich das Pendeln zwischen Sylt und Flensburg auf. Das wäre eine enorme Entlastung«, sagte Jürgen und freute sich für Wencke und die Kinder. »Das ist wahr«, stimmte Wencke ihm zu. »Das würde mich auch ein wenig entlasten. Wenn es hier mit der Vermietung richtig losgeht, muss ich mich intensiver um die Gäste kümmern, besonders am Morgen«, seufzte Wencke. »Und das alles unter einen Hut zu bekommen, ist nicht ganz einfach. Die Kinder müssen früh in den Kindergarten. Mia geht nächstes Jahr in die Schule und die
Gäste wünschen sich allmorgendlich ihr Frühstück.« Wencke stütze beide Ellenbogen auf dem Tisch ab. »Aber das werden wir auch meistern, wir sind fest entschlossen, das hinzubekommen.« »Na klar, ich glaube fest an euch, ihr schafft das!«, nickte Jürgen und grinste. »Haro wird heute Abend, ich schätze mal so gegen sechs Uhr, hier eintrudeln«, beantwortete Wencke Jürgens Frage. Während des Gesprächs räumte Steffi den Tisch ab, verstaute das Geschirr in die Spülmaschine und wischte Janis den Mund sauber. Wencke warf ihr einen dankbaren Blick zu und Steffi lächelte sie freundlich an. »Ich geh mit den Kindern in den Garten, wenn es recht ist. Ich würde mich dort gerne etwas umschauen«, sagte Steffi und blickte Wencke fragend an. »Macht das, ihr Lieben. Dann habe ich etwas Zeit, das nächste Gästezimmer vorzubereiten«, antwortete Wencke und stand auf. Die Kinder schnatterten wild durcheinander und zogen Steffi aus der Küche. Als Wencke die Küche verlassen wollte, blieb sie im Türrahmen stehen und drehte sich um. »Steffi ist wirklich nett, sie t gut zu dir« bemerkte sie und richtete den Blick auf Jürgen. »Das finde ich auch«, bestätigte Jürgen die Aussage mit einem Kopfnicken.
*
Gegen Abend erschien Haro und sah schon beim Einparken den großen SUV seines Freundes. Er freute sich auf ein Wiedersehen mit ihm und war sehr auf die junge Dame gespannt, die Jürgen mitgebracht hatte. Wencke rief ihn in Flensburg an, während Jürgen mit Steffi und den Kindern zum Strand gingen, und klärte ihn über die Tatsache, dass sein Freund nicht mit Katja, sondern einer Steffi hier aufgetaucht war, auf. Er schnallte sich ab, nahm seine Aktentasche vom Rücksitz und verschloss den
Wagen. Von Weitem sah er Eike und Niels Jensen im Nachbargarten stehen und winkte den beiden zu. Beide winkten fröhlich zurück, und er betrat das Haus. »Schatz, wo bist du?«, rief er durch das Haus, denn es war erstaunlicherweise sehr ruhig. Normalerweise kamen ihm schon die Kinder entgegengerannt, wenn er nach Hause kam. Doch heute rührte sich nichts im Haus. Er ging durch das Wohnzimmer und sah Wencke auf der Terrasse. Sie war dabei, den großen Tisch zu decken und verteilte gerade die Gläser. Sie hörte dabei Musik und summte fröhlich den neusten Song von Helene Fischer mit. Er trat auf die Schwelle der Terrassentür und rief ihren Namen. Wencke fuhr erschrocken zusammen. »Haro, erschreck’ mich doch nicht so«, entfuhr es ihr laut und presste beide Arme vor die Brust. Sie stellte das letzte Glas, welches sie noch in der Hand hielt auf den Tisch und eilte auf ihn zu. Sie schmiegte sich an ihn und Haro strich ihr sacht durch die Haare. »Wo sind die Kinder?«, wollte er wissen und küsste sie auf die Stirn. »Sie müssten jeden Augenblick mit Jürgen und Steffi vom Strand zurück sein.« »Ach, spielen sie kleine Familie?«, feixte Haro. »Die Kinder wollten unbedingt mit zum Strand. Jürgen und Steffi waren einverstanden, somit hatte ich auch eine kleine Auszeit und konnte noch in Ruhe duschen«, antwortete Wencke und fuhr sich durch das noch feuchte Haar. Haro küsste seine Frau. »Dann will ich mir mal was Bequemes anziehen«, sagte er und verschwand ins Schlafzimmer. Kurze Zeit später hörte Haro das Gelächter seines Sohnes und die tiefe Stimme von Jürgen. Er jagte den Kleinen durch den Garten und der riesengroße aufblasbare Gummiwal, den er unter dem Arm trug, wackelte lustig hin und her. Haro schlüpfte in seine Latschen und lief der lustigen Truppe entgegen. Janis rannte auf ihn zu, sein kleines Gesicht war völlig verschwitzt und er strahlte. »Papa, Papa«, rief er und sprang ihm mit einem Satz in die Arme. Haro fing ihn lachend auf und wirbelte ihn durch die Luft.
»Na mein Kleiner«, begrüßte er seinen Sohn und küsste ihn ab. Er stellte ihn wieder auf den Boden und sah, wie seine Tochter mit einer jungen Frau an der Hand durch das Gartentor kam. Belustigt stellte er fest, dass sowohl Mia, als auch Steffi die gleichen Sachen anhatten. Beide trugen eine kurze weiße Shorts, ein rotes T-Shirt und die Füße steckten in weiße Turnschuhe. Sogar die Frisur war gleich, beide hatten ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Haro ging lächelnd auf sie zu. »Das ist mein Papa«, krähte Mia und ließ Steffis Hand los. »Hallo, meine Prinzessin«, sagte Haro und beugte sich zu ihr hinab. Er drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange und kam wieder hoch. »Und das ist meine beste Freundin Steffi«, kicherte Mia und stellte sich neben sie. »Schau mal Papa, wir tragen heute Partnerlook. Das machen Freundinnen so, weißt du«, klärte sie ihren Vater auf und drückte sich eng an Steffi. Steffi lachte lauthals und reichte Haro die Hand. »Hallo, Haro«, schmunzelte sie. »Dann brauche ich mich ja nicht mehr vorstellen, Mia hat das ja bestens getan.« »Hallo, Steffi, schön dich kennenzulernen«, erwiderte Haro und musterte sie ungeniert. Plötzlich spürte er einen kräftigen Schlag auf seiner Schulter. Jürgen stand hinter ihm, noch immer den dicken Wal unter dem Arm. »Hallöchen, alter Freund«, grunzte er und schüttelte ihn leicht. »Na hör mal«, entrüstete sich Haro gespielt. »Freund ja, aber alt?« Lachend umarmten sich die beiden Männer, wobei sich das dicke Gummitier zwischen sie drängte. Alle zusammen liefen durch den Garten, umrundeten das Haus und nahmen am gedeckten Tisch Platz. Es wurde ein fröhliches Abendessen, alle sprachen
durcheinander und die Kinder erzählten ihren Eltern, was sie Schönes am Strand mit Jürgen und Steffi erlebt hatten. Nach dem Essen, Wencke und Steffi räumten den Tisch ab, fing Janis an, sich die Augen zu reiben. Er war müde, der Tag war für den kleinen Knirps anstrengend gewesen und bei Mia sah es nicht besser aus. Steffi bot sich an, Mia schnell zu duschen und ins Bett zu bringen, während Wencke das gleiche mit Janis tat. Haro holte eine Flasche Wein aus der Küche und setzte sich neben Jürgen. »So, nun mal Butter bei die Fische. Was ist das hier mit dir und Steffi. Seid ihr zusammen?«, fragte Haro neugierig und schenkte den Wein ein. Jürgen nippte versonnen an dem Weinglas. »Ich denke schon. Ich glaube, dass mit Katja war ein Fehler. Das ist mir schon vor längerer Zeit bewusst geworden, doch ich wollte es mir nicht eingestehen. Sie ist es einfach nicht. Sie ist nicht die Frau, die ich mir als Mutter meiner Kinder vorstellen kann. Verstehst du das?«, fragte Jürgen und schaute Haro über das Weinglas hinweg an. »Und diese Steffi? Sie ist es?«, bohrte Haro weiter. »Ich denke schon«, flüsterte Jürgen und seine Augen bekamen einen seltsamen Glanz. »Sie ist völlig anders als Katja. Mir gefällt es, wie sie mit Kindern umgeht. Das hat es mir heute am Strand mit deinen beiden wieder gezeigt.« Er lehnte sich zurück und seufzte. »Ja, ich denke, sie ist die Richtige!« »Und was ist mit Katja? Dass du reinen Tisch machen musst, ist dir hoffentlich klar, oder?«, erwiderte Haro. »Ja, das werde ich auch tun. Gleich, wenn wir wieder in Flensburg sind. Ich will Katja auch nicht an der Nase herumführen. Das ziemt sich nicht, ich bin für offene Worte.« Jürgen schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. »Jetzt aber genug von mir geredet. Wencke sagte mir, deine Kanzlei möchte hier auf Sylt ein Büro eröffnen?«, lenkte Jürgen ab, für ihn war das Thema Katja
beendet.
*
Katja saß schlecht gelaunt zu Hause und zappte durch das Fernsehprogramm. Sie musste an das Gespräch mit Haro denken, welches sie an jenem Abend mit ihm im Restaurant geführt hatte Er stocherte gedankenverloren in seinem Tiramisu und druckste herum. Sie spürte, dass etwas nicht in Ordnung war und legte ihre Kuchengabel zur Seite. »Ist bei deinen Eltern alles in Ordnung?«, fragte sie süffisant. Sie hatte die Eltern nur zwei Mal gesehen und eigentlich hatte sie kein großes Interesse an ihnen. »Doch, doch«, murmelte Jürgen. »Aber?« »Nichts aber.« »Du hast doch irgendetwas. Du bist so ruhig. Stress auf Arbeit?«, bohrte Katja weiter. »Nein, dort ist alles in Ordnung«, sagte er und schaute sie an. Er holte tief Luft. »Ich muss dir was sagen«, platzte er heraus. »Dann sag’s einfach«, ermunterte sie ihn und nahm die Gabel wieder zur Hand. Sie nahm sich ein Stück von der Nachspeise und schob sie sich in den Mund. »Das mit uns wird nix!« Katja ließ die Gabel sinken und starrte ihn an. Sie wollte etwas erwidern, doch Jürgen redete weiter. »Ich werde am Montag für eine Woche nach Sylt fahren, zu Wencke und Haro. Ich muss einfach über unsere Beziehung nachdenken.« Er war erleichtert, dass es nun raus war. Auf Katjas Stirn zog sich eine Zornesfalte zusammen. Sie schob wütend den
Teller von sich und warf die Serviette, die auf ihrem Schoß lag, auf den Tisch. »Mach jetzt keine Szene«, flüsterte Jürgen und nahm das Weinglas zur Hand. »Sag mal, spinnst du?«, zischte sie und ihre Augen funkelten ihn böse an. Der Kellner kam an den Tisch fragte, ob alles zu ihrer Zufriedenheit wäre und Jürgen bat um die Rechnung. Er war froh für diese Unterbrechung, denn er kannte Katja gut genug, um zu wissen, dass sie gleich ausflippen würde. Katja atmete schwer und konnte kaum an sich halten. Jürgen zahlte und wortlos verließen sie das Restaurant. Vor der Tür blieben sie stehen. »Komm, lass uns zu dir gehen, wir reden darüber. Ich würde dir gerne meine Beweggründe erklären, warum ich eine Auszeit brauche.« »Das, mein Freund, kannst du vergessen. Nimm dir deine Auszeit, fahr alleine nach Sylt und gut ist«, grollte sie und ließ ihn stehen. Katja schüttelte die unschönen Gedanken an den Restaurantbesuch aus ihrem Kopf, schaltete den Fernseher aus und kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Sie schaute auf das Display. Noch immer keine Nachricht von Jürgen. Nun war er schon seit Tagen auf Sylt und hatte sich nicht ein einziges Mal gemeldet. Sie fühlte sich mies und abserviert. Wütend feuerte sie das Telefon auf die Couch, ergriff es aber sofort wieder und war fest entschlossen, Jürgen anrufen. Doch sie verwarf den Gedanken wieder. Sie überlegte hin und her und der Stachel des verletzten Stolzes saß tief. Plötzlich reifte ein Plan in ihr. Ganz so kampflos wollte sie die Beziehung nicht aufgeben. Sie rief ihre Kollegin an und meldete sich für den nächsten Tag krank. Sie säuselte etwas von einer Magen-Darm-Grippe und legte dabei eine wehmütige Stimme auf. Nachdem sie sich die Besserungswünsche angehört hatte, legte sie auf und packte ihre kleine Reisetasche. Gleich morgen früh würde sie sich aufmachen und nach Sylt fahren. Sie wollte ein Gespräch mit Jürgen führen und vielleicht konnte sie so die Beweggründe seines Handelns erfahren.
*
Jürgen und Steffi genossen ihre Zweisamkeit. Sie unternahmen viel, fuhren mit den von Haro und Wencke geborgten Rädern über die Insel, ließen sich am Strand die Sonne auf den Bauch brennen und schwammen im Meer. Sie waren meist den ganzen Tag unterwegs und am Abend saßen sie gemütlich mit ihren Freunden bei einem kalten Glas Bier und einer Flasche Wein auf der Terrasse zusammen. Katja rumpelte mit ihrem Auto vom Sylt-Shuttle, der sie von Niebüll nach Westerland brachte. Sie schaltete ihr Navi an und gab die Adresse der Pension ein. Heute versteckte sich die Sonne hinter dicke Wolken, dennoch war es sehr warm. Die schwüle Luft ließ ihr die Bluse am Rücken kleben und sie entschloss sich, die Klimaanlage einzuschalten. Sie drückte auf einen Knopf und binnen weniger Minuten herrschte eine angenehme Temperatur im Wagen. Lange musste Katja nicht fahren, daran konnte sie sich noch erinnern, als sie mit Jürgen hier auf der Insel war. Sie hatte gute Laune und ein klein wenig freute sie sich sogar, ihn wiederzusehen. Es wird ja nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird, überlegte sie. Vielleicht haben ihm die paar Tage Ruhe gutgetan und er meinte es gar nicht so mit dem Satz, dass es nichts mit uns beiden wird. Sie schaltete einen Gang tiefer, denn die Ampel schaltete auf Rot. Ihr Wagen rollte langsam auf den weißen Haltestreifen zu und sie stoppte. Die Fußgänger hasteten über die Straße und zwei Personen schoben inmitten der Menschentraube ihre Räder auf die andere Straßenseite. Katja erstarrte. Das war Jürgen und ... Steffi! Katja wischte sich über die Augen. Die beiden liefen lachend an ihr vorbei und bemerkten sie nicht. Wie auch? Sie waren so in ihrem Gespräch vertieft, dass sie nicht auf den schwarzen BMW achteten, der an der roten Ampel hielt. Das Lichtsignal sprang auf Grün und sie fuhr an. Sie rollte geradeaus weiter, noch immer fassungslos, was sie soeben gesehen hatte. Bei der nächsten Gelegenheit setzte Katja ihren Blinker nach rechts und parkte am Seitenstreifen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander und ein dicker Kloß saß ihr im Hals. Jürgen und Steffi! Ihre beste Freundin, die ihr erzählt hatte, dass sie zu ihren Eltern fährt. Sie kniff die Augen zusammen und eine Zornesfalte zierte ihre
Stirn. Fieberhaft überlegte sie, was sie nun tun würde. Genervt trommelten ihre Finger auf dem Lenkrad und die hochsteigende Wut ließ sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Katja fädelte sich wieder in den fließenden Verkehr ein und folgte der Stimme ihres Navis. Ein paar Querstraßen weiter musste sie rechts abbiegen und durchfuhr eine kleine Seitenstraße. Nach ein paar Hän erkannte sie auf der linken Seite die Pension und genau vor dem Gartenzaun stand Jürgens großer SUV. Katja rollte in Schrittgeschwindigkeit daran vorbei. Sie wendete ihren Wagen bei der nächsten Möglichkeit und blieb mit laufendem Motor stehen. In der Straße war es sehr ruhig, keine Menschenseele war zu sehen. Von Weitem sah sie zwei Radfahrer kommen. Ihr war sofort klar, dass es Jürgen und Steffi waren. Sie legte den ersten Gang ein und ließ den Motor kurz aufheulen. Gleich darauf gab sie Gas, schaltete in den zweiten Gang und wie von Sinnen, mit hassverzerrtem Gesichtsausdruck lenkte sie den BMW in Richtung Pension. Abrupt zog sie das Lenkrad nach rechts und knallte mit voller Wucht gegen das Heck vom SUV. Es gab einen dumpfen Knall und das Heck touchierte auf der Beifahrerseite den kleinen Gartenzaun. Der Hinterreifen von Jürgens Wagen stand in einem Beet voller bunter Sommerblumen. Katja sank mit ihrem Kopf auf das Lenkrad. Sie schluchzte jämmerlich und ihr Körper bebte unter ihrer Tränenflut. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagte die nette Frauenstimme aus dem Navi. Katja schaltete den Motor ab und hob den Kopf. Jürgen und Steffi standen mit entsetzten Gesichtern neben dem BMW und sagten kein Ton. Durch den Knall kam Wencke aus dem Haus gerannt und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Was ist denn hier iert?«, rief sie aufgebracht und schaute fassungslos auf die beiden demolierten Autos. Dass Katja in einem dieser Autos saß, registrierte sie nicht. Jürgen stellte sein Fahrrad am Zaun ab und riss die Beifahrertür des BMWs auf.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte er. »Du hättest jemanden verletzten können. Hier im Garten spielen oft Janis und Mia. Herrgott noch mal, Katja!«, schrie er. Außer sich vor Wut knallte er die Tür wieder zu und lief um den Wagen herum. Jetzt riss er die Fahrertür auf und zerrte Katja aus dem Wagen. Er schüttelte sie hin und her und sie ließ es willenlos mit sich geschehen. Ihr verweintes Gesicht war schneeweiß und der trotzige Blick streifte Steffi. »Was hast du getan?«, wisperte Steffi fast tonlos. Auch sie war kreidebleich vor Schreck und ihre Augen waren vor Angst weit geöffnet. »Was ich getan habe?«, kreischte Katja. »Dann fass’ dir mal selber an die Nase, du Miststück«, schrie Katja und riss sich von Jürgen los. Bedrohlich ging sie auf Steffi zu und hob den Arm. »Von wegen, du bist bei deinen Eltern. Ha, dass ich nicht lache. Meinen Freund spannst du mir gerade aus, du falsche Schlange. Und so was nennt sich beste Freundin.« Katja schrie so laut, dass sie damit die Nachbarn Niels und Eike aus dem Haus lockte. Neugierig traten sie an ihren Gartenzaun heran und schauten auf die kleine Menschengruppe, die dort auf dem Gehweg stand. »Ich ruf die Polizei«, rief er in die Menge hinein, doch keiner reagierte. Er schlurfte zurück ins Haus, um zu telefonieren. »Verschwinde aus meinen Augen, sonst vergesse ich mich ganz«, fauchte Katja noch immer in Richtung Steffi. Jürgen stellte sich zwischen die beiden Frauen und packte Katja an den Schultern. Sein Gesicht war vor Zorn ganz rot und er schnaufte. Seine Hände ballte er zu Fäusten und er musste ziemlich an sich halten, um Katja nicht zu schlagen. »Wenn sich hier einer vergisst, dann bin ich es, dass glaub’ mir mal«, zischte er und drückte sie weg. In dem Moment bog ein Streifenwagen um die Ecke und hielt direkt vor dem verbeulten BMW.
Zwei Beamte stiegen aus und kamen auf die kleine Gruppe zu. Sie tippten sich an ihre Dienstmützen. »Moin Moin«, sagte der eine Polizist und schaute in die Runde. »Verkehrsunfall?« »Nein,«, sagte Jürgen. »Eine Verrückte, die frei herumläuft«, antwortete er und schubste Katja in Richtung des Polizisten. Katja senkte den Blick und schwieg. Mit ihrer Fußspitze malte sie kleine imaginäre Kringel auf den Boden. »Können Sie mir zu dem Sachverhalt etwas sagen?«, sprach der andere Beamte Katja an. »Ist das Ihr Wagen?«, fragte er und zeigte mit dem Finger auf den BMW. Katja nickte. »Fahrzeugpapiere und Ausweis bitte«, forderte er Katja auf. »Haben Sie den Unfall verursacht?« »Das war kein Unfall«, erklärte Katja. »Das war eine Strafmaßnahme für den da.« Sie zeigte auf Jürgen. »Ihre Fahrzeugpapiere und Ihren Ausweis bitte«, wiederholte der Polizist. Katja drehte sich um und holte aus dem Wagen ihre Handtasche. Sie überreichte dem Beamten die Papiere, während sich der andere Polizist die Geschichte von Jürgen erzählen ließ. »Stellen Sie Strafanzeige gegen diese junge Frau?«, erkundigte er sich und schaute zu seinem Kollegen hinüber. »Na auf jeden Fall. Schauen Sie sich meinen Wagen an. Das Heck ist völlig im Eimer. Und erst der Gartenzaun, sehen Sie sich das mal an.« Er hob zwei zersplitterte Holzlatten vom Boden hoch und fuchtelte aufgeregt vor der Nase des Polizisten damit herum. »Schon gut, ich sehe es«, sprach er beruhigend auf Jürgen ein und drückte die Latten von seinem Gesicht weg. Wencke hatte ihren Arm um die verängstigte
Steffi gelegt und sprach leise auf sie ein. »Wir gehen rein«, flüsterte sie Jürgen zu. »Wenn die Polizei noch etwas von uns wissen will, dann komm rein mit ihnen, ja?« Jürgen nickte und umfasste mit beiden Händen Steffis Gesicht. »Geh du nur rein, ich kümmere mich um alles. Alles wird wieder gut.« Er küsste sie zart auf die Stirn und drehte sich wieder zu dem Gesetzeshüter um. »Nehmen Sie die Verrückte gleich mit zur Wache«, verlangte er mit frostiger Stimme. »Na, na, na, seien Sie vorsichtig mit Ihren Äußerungen«, ermahnte ihn der Beamte und schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihre Wut verstehen. Wir werden jetzt die Strafanzeige aufnehmen und somit wird die Frau ihre gerechte Strafe bekommen.« Jürgen nickte widerwillig und folgte ihm zum Streifenwagen. Zwanzig Minuten später war der ganze Spuk vorbei. Katja stieg in ihren Wagen und machte sich auf den Weg nach Flensburg und Jürgen schob zusammen mit seinem Nachbar Niels den SUV wieder auf die Straße. »Ist ja wie im Fernsehen in einer der Serien, die meine Frau abends immer schaut«, lachte Niels und klopfte Jürgen auf die Schulter. »Mit dem Titel: Eifersuchtsdrama auf Sylt.« Jürgen grinste schief. »Aber ohne Happy End. Jedenfalls nicht für die Verrückte«, brummte Jürgen. Die beiden Männer verabschiedeten sich mit einem kräftigen Händedruck und Jürgen bedankte sich für die Hilfe. Er ging zu Wencke und Steffi, die gemeinsam bei einem Glas Wein auf der Terrasse saßen. Steffis Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen, schaute aber noch immer leicht verängstigt aus. Sie ließen den ganzen Vorfall noch einmal Revue ieren und waren sich einig, den Strafantrag aufrecht zu erhalten. »Das muss auf jeden Fall Konsequenzen für Katja haben, sie kann nicht
ungestraft davonkommen.« Jürgen und Steffi löschten noch an diesem Tag Katjas Telefonnummer aus ihren Handys.
4. Kapitel
»Papa, ich sehe da einen Imbiss, darf ich noch ein Eis haben, bevor wir auf dem Zug fahren?«, bettelte Finnja ihren Vater Valentin an. Sie standen an der letzten Schranke vor der Auffahrt zum Autozug. »Meinetwegen, Finni, ich fahre auf den Parkplatz, wir schauen mal, was es dort Leckeres gibt. Reiche mir mal meine Tasche mit dem Geld«, antwortete er, nahm die Tasche und stieg aus dem Auto aus. Er schnappte seine Tochter an der Hand und rannte los. Finnja juchzte und konnte mit ihren kurzen Beinen kaum hinterherrennen. »Papa, Papa nicht so schnell«, rief sie außer Atem. Valentin stoppte und nahm sie mit Schwung auf den Arm, knuddelte sie und ließ sie wieder runter. Er war kräftig gebaut und bei einer Größe von einem Meter neunzig hatte er natürlich den Vorteil, schneller rennen zu können. Die regelmäßigen Besuche in einem Fitnessstudio waren seinem Körperbau anzusehen und erleichterten ihm das Anheben seiner Tochter. »Papa, was sollen denn die Leute denken?«, fragte Finnja vorwurfsvoll. »Die Leute denken, dass ich eine hübsche Tochter habe, die leicht wie eine Feder ist und dass ich der glücklichste Papa der Welt bin!« Valentin schaute seine kleine Prinzessin liebevoll an. Sie hatte sich für die Fahrt ihr schönstes Kleid angezogen, einen glitzernden Haarreifen ins Haar gesteckt und ihre Füße steckten in den enden Schuhen. Überhaupt legte seine Tochter mit ihren zehn Jahren viel Wert auf ihr Aussehen. Sie war mit ihren gelockten, halblangen blonden Haaren, die sie immer mit zwei Spangen oder einem Haarreif zusammenhielt, ein typisches Mädchen ihres Alters und sah ihrer Mutter sehr ähnlich. »Papa, die Frau fragt, was du haben möchtest«, flüsterte Finnja mit vorgehaltener Hand ihrem Vater zu und Valentin zuckte kurz zusammen, denn er
war ganz in Gedanken versunken. »Oh, ja ich möchte eine kalte Cola und was möchtest du?«, wandte er sich an seine Tochter. Finnja bestellte einen kleinen Eisbecher und einen Apfelsaft. Sie nahm ihr Eis vom Tresen und bat ihren Vater das Getränk mitzubringen. Vor dem Imbiss entfernte sie den Deckel vom Eis, warf ihn in den Mülleimer und während sie zum Auto lief, verspeiste sie es. Valentin war kurz danach am Auto, steckte die Cola in den Getränkehalter, gab ihr den Apfelsaft, schaute Finnja an und fragte, ob er losfahren konnte. »Natürlich Papa, auf wen wartest du noch?«, antwortete sie scherzend. Valentin warf den Motor an und drängelte sich in die Spur sechs. Hinter ihnen ertönte ein Hupkonzert und Finnja duckte sich, es war ihr unangenehm und sie schaute ihren Vater etwas verstört an. »Papa!« »Na was denn? Eine Prinzessin kann sich doch nicht hintenanstellen, oder?«, erklärte er ihr und lachte dabei. »Finni, ich habe bei der Buchung des Tickets eine Reservierung vorgenommen, und dort stand geschrieben, dass wir uns in Reihe sechs einreihen sollen!«, informierte er sie. Jetzt fuhr er langsam in Richtung Schranke. Finnja zuckte zusammen, weil sie eine Stimme von der Seite hörte, die sie zum Weiterfahren aufforderte. Sie wusste nicht, dass die reservierten Autonummern an der Schranke automatisch ausgelesen wurden und sich bei Übereinstimmung der Schlagbaum selbsttätig öffnet. »Finni was ist los, hast du Angst?«, erkundigte er sich besorgt und fuhr über die Auffahrtrampe auf das Oberdeck des Zuges. Am Ende der Auffahrt befand sich eine enge Kurve und die achthundertfünfzig Meter auf dem Zug waren auch nicht besonders breit. Valentin bemerkte durch das Zusammenzucken von Finnja, dass sie ein wenig ängstlich war. »Ja, Papa, es ist irgendwie unheimlich. In meinem Bauch ist es ganz komisch!«
Valentin fuhr langsam, aber der Wagen rumpelte und ratterte trotzdem ein wenig. Sie hatten den ersten Platz auf dem Oberdeck und es dauerte eine ganze Weile bis das Auto zum Stehen kam. Er zog die Handbremse an, schaltete das Licht aus, legte den ersten Gang ein und schaltete das Auto aus. »Finni, jetzt kann nichts mehr ieren. Wir fahren jetzt ›Huckepack‹ mit dem Zug auf die Insel. Ich habe dich früher auch oft huckepack getragen und dir ist nie etwas geschehen, oder?«, wollte er von ihr wissen. Valentin betrachtete Finnja von der Seite. Sie wirkte oft sehr erwachsen, doch heute war das alles so aufregend und man merkte, dass sie erst zehn Jahre alt war. »Papa, Papa der Zug fährt! Du brauchst dich gar nicht um das Auto kümmern. Das ist toll! Jetzt können wir alles zusammen anschauen und wir fahren trotzdem«, rief sie voller Begeisterung. Die Zugfahrt läutete den Urlaub ein und war ein Erlebnis für die beiden. Valentin schob den Sitz nach hinten, streckte seine Beine nach vorne aus und öffnete das Fenster. Der Wind, der nach Salz roch, wehte durch seine kurzen dunkelblonden Haare. Finnja ließ ebenfalls das Fenster runter und es ertönte aus dem Lautsprecher, der neben dem Auto an dem Geländer hing »Moin Moin und herzlich willkommen auf dem Sylt-Shuttle ...« »Äh, Papa, der hat guten Morgen gesagt. Es ist aber bereits Nachmittag!« Sie schaute Valentin an und musste fürchterlich lachen. Valentin erklärte ihr, dass Moin Moin nichts mit der Begrüßung am Morgen zu tun hatte, sondern dass es hier im Norden eine allgemeine Begrüßung zu jeder Tageszeit war. »Da, Papa, Schafe, Opa sagt immer, das sind vierbeinige Rasenmäher.« Valentin lachte. »Was Opa dir alles beibringt«, bemerkte er. Finnja empfand die Fahrt als sehr interessant. Sie zeigte ihrem Vater ständig etwas Neues. Er konnte jetzt, wo er sich nicht aufs Autofahren konzentrieren musste, die Begeisterung mit ihr teilen und es erfreute sie spürbar, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen.
Valentin stellte fest, wie interessiert seiner Tochter an vielen Dingen war. In Nullkommanichts war die Fahrt vorbei und der Zug hielt in Westerland. Er rumpelte vom Zug, gab die Adresse der Pension in das Navi ein und ließ sich von der freundlichen Frauenstimme dorthin führen. Auch diese Fahrt dauerte nur zehn Minuten. Sie parkten in einer der Parkbuchten vor der Pension. »Sind wir schon da?«, staunte Finnja. »Du wartest aber auf mich«, sagte sie leise, schnallte sich ab und stieg aus dem Auto aus. Er wartete, bis sie am Straßenrand stand und sie überquerten gemeinsam die Fahrbahn.
*
Das Gartentor zur Pension Kleine Möwe war nicht verriegelt und stand ein klein wenig offen, trotzdem klingelten sie und warteten, bis Wencke an den Zaun kam, die Gartentür öffnete und sie herzlich begrüßte. »Guten Tag, Sie sind sicher Valentin Zoller und du bist Finnja?«, fragte sie das Mädchen, die sie mit großen Augen anschaute und nickte. Wencke machte eine einladende Bewegung und die beiden traten in den Garten. Sie fragte, ob sie eine angenehme Anreise hatten und ob sie über den Hindenburgdamm nach Sylt gekommen sind. Finnja nickte kräftig und erzählte begeistert von der Fahrt mit dem Zug und Valentin stand stolz daneben. »Möchten Sie etwas Kaltes trinken?«, erkundigte sich Wencke. »Wir würden gern erst einmal das Zimmer sehen, wenn es möglich ist?«,
antwortete Valentin. Wencke zeigte ihnen den Weg zur hinteren Eingangstür, die zu dem Gästebereich führte. Sie stiegen die Treppe, die wie immer leise knarrte, hinauf, gingen den Flur entlang und blieben vor dem Leuchtturmzimmer stehen. Wencke öffnete die Tür und ließ die beiden als Erste eintreten. Sie zeigte ihnen noch das Bad, übergab ihnen die Schlüssel und fragte, ob sie mit dem Zimmer zufrieden sind. »Ich bin sehr zufrieden, du auch Finnja?«, befragte Valentin seine Tochter, die nur nicken konnte. »Wenn Sie gleich Ihre Koffer holen, dann zeige ich Ihnen noch den Frühstücksraum. Sie können aber auch gern später noch zu mir kommen, wenn Sie erst ein wenig entspannen wollen. Ich bin vorne im Garten, dort werden Sie mich schon finden«, erklärte Wencke den beiden und verließ den Raum. Als sie die Tür hinter sich schloss, testete Finnja sofort das Bett, sie hüpfte wie auf einem Trampolin und juchzte vor Freude. »Endlich sind wir angekommen! Papa, gehen wir heute noch schwimmen?« »Oh nein, Finnja, aber wir können noch am Strand spazieren gehen. Du kannst durch das Wasser laufen, aber baden im Meer verschieben wir auf morgen. Ich hole jetzt die Koffer aus dem Auto«, antwortete Valentin. »Ich komme mit, dann bekommen wir jetzt etwas zu trinken und den Frühstücksraum wollte uns die Frau auch noch zeigen, hast du das schon vergessen, Papa?«, wollte Finnja wissen. Sie verließ das Leuchtturmzimmer und sah den großen Kühlschrank auf dem Flur stehen. Neugierig öffnete sie die Kühlschranktür und entdeckte die vielen Getränke. Valentin zeigte ihr die Preisliste und erklärte ihr, dass sie dort Getränke herausnehmen konnte und sie bei Wencke bezahlen musste. Sie gingen beide die Treppe hinunter und im Garten sahen sie Wencke, die ihre
Blumen wässerte. »Haben Sie sich ein wenig ausgeruht? Ich kann Ihnen gleich das Frühstückszimmer zeigen«, rief sie den beiden zu. Finnja befand die Idee für gut und zog Valentin in Richtung Wencke. Gemeinsam gingen sie zum hinteren Eingang zurück in den Flur. Wenke zeigte ihnen die Tür, die sich neben der Treppe befand und in den Frühstücksraum führte. Sie holte wie versprochen eine Flasche Wasser sowie einen Saft und setzte sich mit den beiden an einen der Tische. Sie gab ihnen einige Tipps, was man auf der Insel außer baden im Meer noch alles erleben konnte. Valentin erkundigte sich nach guten Restaurants und Finnja wollte wissen, wo es das beste Eis gab. Sie verabredeten, dass sie immer zwischen acht und neun Uhr Frühstücken wollten. Wencke bot ihnen noch an, dass sie die Sitzecke im Garten benutzen konnten. Finnja fing an zu drängeln, sie wollte heute noch einiges erleben und schlug Valentin vor, dass sie die Koffer allein aus dem Auto holen wollte. Er bedankte sich bei Wencke, die ihm verständnisvoll mit dem Kopf zunickte. Finnja war bereits am Auto, von Weitem öffnete er mit dem Schlüssel die Türen. Sie kramte die Taschen und Kleinigkeiten aus dem Auto und Valentin nahm die Koffer aus dem Kofferraum. »Papa, du hättest mir nicht helfen brauchen, ich kann die Koffer auch selbst nach oben tragen«, gab sie ihm genervt zu verstehen. »Nun gib mal nicht so an, kleine Maus«, antwortete er und lachte innerlich über ihre Reaktion. Er trug das Gepäck nach oben und Finnja öffnete ihren Koffer. Sie wechselte ihr Kleid mit einer bequemen kurzen Hose und einer leichten Bluse. Sie zog ihre Sandalen ohne Strümpfe an und fühlte sich sichtlich wohler. »Du bist immer noch nicht umgezogen, es ist schon bald abends und ich möchte
unbedingt vor dem Essen noch kurz zum Strand«, rügte sie ihren Vater. Valentin schlüpfte in bequeme Shorts, streifte sich ein Shirt über und es konnte endlich losgehen. Sie liefen zum Strand, der nicht weit entfernt war, und Finnja zog sofort ihr Sandalen aus, drückte sie Valentin in die Hand und lief mit den Beinen durch das Wasser. Vor Vergnügen quietschte und juchzte sie, weil das Wasser im ersten Moment kalt war. Sie spritze Valentin mit den Füßen nass und hatte Riesenspaß dabei, dass er sich springend immer weiter vom Wasser entfernte. »Na warte, morgen schmeiße ich dich in die Wellen«, drohte er und lachte herzhaft dabei. Nach einer Stunde bemerkten Finnja und Valentin, dass ihnen der Bauch knurrte, sie waren ausgehungert. Seit heute Morgen gab es nicht Gescheites mehr zum Essen, also wurde es Zeit, ein Restaurant zu suchen. Sie fuhren nach Keitum, dort hatte Wencke ihnen ein kinderfreundliches Restaurant empfohlen. Der erste Abend auf Sylt verging schnell, nach dem Essen fuhren sie direkt in die Pension zurück. Der Tag war lang und Finnja baute sich die Kissen im Bett zurecht, weil sie nach dem Duschen gemütlich im Bett liegend noch einen Film anschauen wollte. Valentin packte in der Zeit die Koffer aus, verteilte alles in dem großen Schrank, der gegenüber dem Bett stand und die Kosmetik brachte er im Bad unter. Finnja hüpfte aus dem Bad ins Bett, sprang hoch und ließ sich in die Kissen fallen, anschließend schaltete sie den Fernseher an. Valentin verkrümelte sich ins Bad. Als aus der Dusche kam, hörte er ein gleichmäßiges Atmen und sah, dass seine kleine Tochter bereits schlief.
*
Die ersten Tage liefen alle gleich ab, Frühstück, Strand, Abendessen und anschließend Fernsehen. Valentin streikte und bat Finnja, einen Tag mal nicht an den Strand zu gehen. Er schlug vor, eine Fahrradtour zu unternehmen. Als sie abends vom Essen in die Pension kamen, hatten sie Wencke davon erzählt, dass sie vorhatten, am nächsten Tag eine Fahrradtour zum Roten Kliff und der Uwe Düne zu unternehmen. Die gab ihnen eine Visitenkarte für einen Fahrradverleih und empfahl ihnen, die Fahrräder im Vorfeld zu reservieren, denn so konnten sie sicher sein, dass bei dem großen Bedarf an Fahrrädern zwei für sie übrigblieben. Valentin rief dort sofort an und hatte sogar das große Glück, zwei E-Bikes zu ergattern. Finnja wollte eigentlich nicht mit dem Fahrrad fahren, aber ihrem Vater zuliebe stimmte sie zu. Sie sah es ein, dass es für ihn langweilig war, jeden Tag an den Strand zu gehen. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging es dann los. Wencke hatte ihnen einen Picknickkorb mit allerlei leckeren Sachen eingepackt. Auch einige Kühlakkus hatte sie im Korb verteilt, damit alles frisch blieb. Sie fuhren mit dem Auto nach Westerland, suchten einen Parkplatz und liefen zum Fahrradverleih an vielen Geschäften vorbei. »Papa, hier gibt es ja tolle Geschäfte, schau mal dieses tolle Cappy. Es würde auch gut zum Fahrradfahren sein. Können wir nicht irgendeinen Tag hierherfahren und bummeln gehen?« »Ja, aber wenn du es heute benötigst, dann lass uns schnell eins kaufen. Du hast definitiv recht, eine Kopfbedeckung ist schon wichtig.« Sie gingen in das Geschäft und schauten sich einige Cappys und Sonnenhüte an. »Papa, das hier sieht doch toll aus. t die Farbe zu meinen Haaren?«, fragte Finnja ihren Vater begeistert und stülpte sich das Ding auf ihren Kopf. Ohne auf die Antwort zu warten, suchte sie ein Cappy für ihren Vater aus.
»Hier ist eins für dich, das t zu dir und die Größe stimmt auch. Wir können doch mal im Partnerlook gehen, die haben die gleiche Farbe, was meinst du?« »Solange es kein rosa oder pink ist, lass ich mich von dir überzeugen. Aber es betont kolossal meine abstehenden Ohren.« »Die kannst du nicht verdecken, es sei denn, du trägst eine Mütze über den Ohren«, meinte Finnja und konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Sie bezahlten ihre Mützen und begaben sich auf den Weg zum Fahrradverleih. Sie kicherten und betrachteten sich gegenseitig mit ihren neuen Mützen. »Ich glaube, wenn du nicht immer deine Haare so kurz schneiden lassen würdest, könnte man deine Eselsohren nicht mehr sehen. Dein Haarschnitt sieht sowieso immer aus wie ein Topfschnitt«, sagte sie frech und konnte vor Lachen nicht mehr geradeaus laufen. »Wie willst du denn mit diesem Haarschnitt jemals eine Frau abkriegen?« Finnja rannte los, weil sie eine Bestrafung für die vielen Frechheiten befürchtete. Valentin rannte ihr hinterher, hob sie hoch und warf sie über seine kräftige Schulter. Sie zappelte und quiekte doch sie entkam ihm nicht. Er versohlte ihr spielerisch den Hintern und sie prustete los. Als er sie wieder absetzte, griff sie nach Valentins Hand, hielt sie fest und schleuderte sie beim Laufen hin und her. Beim Fahrradverleih angekommen, bekamen sie ihre Fahrräder vor den Laden gestellt. Der Verleiher kam mit einem Schraubenschlüssel, stellte die Höhen der Sitze ein und fragte, ob sie mit den Elektrofahrrädern zurechtkamen. »Alles geregelt, Papa?«, grinste Finnja. »Ja, ich habe bezahlt, den Picknickkorb habe ich auch festgeschnallt. Es kann losgehen, Prinzessin.« Sie fuhren zum Strand und folgten der Straße Richtung Norden, die zum Roten Kliff führte. Die Straße schlängelte sich am Meer entlang, es roch nach Salz und der Wind wehte ihnen leicht um die Nase. Sie hielten oft an und setzten sich in die Dünen und Finnja bemerkte, dass ihnen die Möwen die gesamte Fahrt über begleiteten. Nach eineinhalb Stunden waren sie unten an der Plattform der Uwe
Düne angekommen. »Wir sind doch sportlich und die wenigen Stufen schaffen wir im Nu. Hopp, hopp, Papa«, spornte Finnja ihren Vater an. Es war die höchste Erhebung auf der Insel und das Wetter war so schön, dass man von der Plattform bis nach Dänemark schauen konnte. Jetzt war es nicht mehr weit zum Roten Kliff. Finnja sprang die Treppen hinunter und plötzlich rutschte sie auf einer Stufe weg. Sie wollte sich noch mit einer Hand abstützen, aber sie fiel so ungeschickt auf den Arm, dass Valentin hörte, wie es laut knackte. Finnja schrie auf und sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Sie schaute auf ihren Arm, der etwas schief zur Seite stand und bog ihn gerade. Jetzt wurde sie blass und ihr liefen Schweißperlen über die Stirn. »Finnja, bleib sitzen und rühr dich nicht«, rief Valentin und setzte sich neben sie, um den Rettungsdienst anzurufen. Er schilderte die Situation, dass er mit dem Fahrrad hier sei, dass keine Lebensgefahr bestand, aber er traute sich nicht, seine Tochter mit dem Fahrrad zu transportieren. Er trug sie den Rest der Treppen hinunter und wartete auf den Rettungswagen. Der kam einige Minuten später und ein Sanitäter legte ihren Arm vorsichtig in eine riesengroße ausgepolsterte Schiene. Wimmernd krallte sich Finnja an ihrem Vater fest, der beruhigend auf sie einredete. Der Rettungssanitäter lud die beiden in sein Fahrzeug ein und fuhr mit ihnen in die Notaufnahme der Nordseeklinik Westerland. Unterwegs rief Valentin den Fahrradverleih an, erklärte den Unfall und bat darum die Fahrräder von der Uwe Düne wegzuholen. In der Notaufnahme angekommen wurden sie gleich in ein Aufnahmezimmer geschoben. Es dauerte nicht lange, bis ein Arzt kam und sich den Arm anschaute. Er stellte einige Fragen und vermutete, dass der Arm operiert werden musste. Ein Pfleger fuhr mit dem Mädchen zum Röntgen und Valentin lief nebenher, weil sie seine Hand nicht losließ. Bei Valentin ließ der Schock langsam nach und wich den vielen Vorwürfen, die er sich machte.
Warum musste er das Fahrradfahren vorschlagen? Warum sind sie zu dieser Düne gefahren? Warum sind sie überhaupt nach Sylt gefahren? Warum ist er nicht vor ihr gelaufen? Er konnte noch viele solcher Fragen stellen, aber er fand keine Antworten. Als sie beim Röntgen ankamen, musste er vor der Tür bleiben. Dort fing Finnja zum ersten Mal an, richtig heftig zu weinen und es zerriss ihm das Herz. Die Tränen standen auch in seinen Augen. Er versprach ihr, auf sie zu warten, und er würde sich keinen Schritt wegbewegen. Sie lag noch immer auf der Trage, als sie aus dem Röntgenraum herauskam und wurde wieder in die Notaufnahme zurückgeschoben. Ihr verweintes Gesicht war blass und man sah die Angst in ihren Augen. Kurz darauf erschien der Chirurg der Klinik und lud am Computer die Röntgenbilder hoch. Er erklärte Valentin die Verletzung und zeigte mit einem Stift auf den Bildschirm. Der Arm musste auf jeden Fall operiert werden, denn durch das Zurückdrehen ist einiges mehr gesplittert, was nur mit einem einfachen Gips nicht zusammenheilen würde. Der Arzt sprach sanft und einfühlsam und Valentin sollte sich keine Sorgen machen. Er bot ihm an, noch bis zum Operationssaal mitzukommen, er würde jetzt operieren und schätze, dass es etwa drei Stunden dauern würde, bis Finnja wieder wach werden würde. Sie bekam eine Beruhigungstablette, die schnell wirkte und der Arzt versprach ihm, dass sie keine Schmerzen haben würde. Schweren Herzens verabschiedete er sich vor dem OP von Finnja und merkte bereits ihre Müdigkeit.
*
Valentin blieb vor der Tür des OP-Bereiches stehen und kam sich komplett verloren vor. Plötzlich ging die Tür wieder auf und eine rothaarige Krankenschwester schob ein Bett mit einem Kind in Richtung Fahrstuhl. Sie hielt an und wollte wissen, ob sie ihm helfen könne. »Das können Sie sicher nicht, meine Tochter wird gerade operiert und ich werde hier drei Stunden warten bis sie wieder herauskommt«, erklärte er ihr. »Dann gehen Sie doch einen Kaffee trinken oder fahren nach Hause. Sie benötigen nachher noch viel Kraft und Geduld, wenn Ihr Kind aus dem OP kommt.« Die Schwester lächelte ihn verständnisvoll an. »Wir treffen uns nachher wieder hier. Ich werde Ihr Kind auch von hier auf unsere Kinderstation holen«, schlug sie ihm vor. »Ich bin übrigens Schwester Inka!« Ihre langen, roten und zu einem Knoten hochgestreckten Haare sträubten sich komplett dagegen, eingezwängt zu werden. An verschiedenen Teilen des Kopfes hingen einige Strähnen kreuz und quer herunter. Es sah wild aus und schmeichelte trotzdem ihrem Gesicht. »Ich muss jetzt wieder auf die Station. Ich verspreche Ihnen, die Kinder sind hier in guten Händen«, rief sie und rollte mit dem Bett davon. Valentin trottete in Richtung Ausgang. Der Weg bis zu seinem Auto war nicht weit und führte an dem Fahrradverleih vorbei. Er erkundigte sich, ob alles mit den Fahrrädern in Ordnung war und ob er noch etwas bezahlen musste. »Nein, Sie müssen nichts mehr bezahlen. Wir hoffen, Ihre Tochter wird wieder völlig gesund.« Er bedankte sich und lief zum Auto. Am Tor der Pension Kleine Möwe traf Valentin zum ersten Mal Haro Fries. »Guten Tag, ich bin Haro, der Mann von Wencke«, grüßte er freundlich.
»Sie sind bestimmt Valentin. Wo ist denn Ihre kleine niedliche Tochter, von der meine Frau so schwärmt?«, erkundigte Haro sich. Valentin wunderte sich, dass Haro ihn mit Vornamen ansprach, was ihn aber nicht weiter störte, weil Haro sehr sympathisch wirkte. »Meine Tochter wird gerade im Krankenhaus operiert. Sie hat sich bei unserem Ausflug einen komplizierten Bruch am Arm zugezogen.« »Oh, das tut mir leid, können wir Ihnen helfen? Sollten Sie etwas benötigen, sagen Sie uns Bescheid, wir helfen Ihnen gern.« Valentin nickte und wollte jetzt nur etwas allein sein und über seine Situation nachdenken. Er versprach, sich zu melden, wenn er Hilfe gebrauchen konnte. Er ging auf sein Zimmer, warf sich einfach auf das Bett und war völlig erschöpft. Nach einiger Zeit erhob er sich, duschte und zog frische Kleidung an. Valentin schaute zur Uhr. Bevor er ins Krankenhaus zurückfuhr wollte er Wencke Bescheid geben, dass sie ab morgen früh nur ein Frühstück bereiten musste. Er traf sie nicht an, doch er sah Haro mit einem anderen Gast im Garten sitzen. Valentin grüßte höflich und bat Haro es Wencke auszurichten. Auf den Weg zurück ins Krankenhaus musste er an Schwester Inka denken. Er fand, sie hatte ein äußerst liebevolles Wesen und tat den kranken Kindern bestimmt gut. Sie war nicht sehr groß und ihre etwas rundliche Figur strahlte etwas Warmes, mütterliches aus. Ihr natürliches Aussehen wurde weder durch Schminke noch durch Schmuck beeinflusst. Sie wartete tatsächlich vor dem Operationsbereich auf ihn. Sie konnte ihn über den Zustand seiner Tochter informieren und ihn beruhigen, dass alles ausgezeichnet aussah. Es ging der Kleinen gut und sie war auf dem Weg zum Aufwachraum. Schwester Inka bot Valentin an, sie zu begleiten, um Finnja anschließend zur Kinderstation zu bringen. Als sie mit Finnja aus dem Aufwachraum herauskam, schaute sie noch ganz benommen und lächelte ganz zart. Valentin nahm ihre gesunde Hand und küsste sie vorsichtig, um ihr nicht wehzutun.
Inka beobachtete die beiden und fand, dass Valentin ein liebevoller Vater war. Sie richtete ihm aus, dass der Operateur in einer Stunde auf die Kinderstation kommen würde, um noch einmal nach seiner Tochter zu schauen. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock und Inka schob Finnjas Bett in das Zimmer, welches genau neben dem Schwesternzimmer lag. »Ich e die ganze Nacht auf sie auf, damit Sie ruhig schlafen können«, versprach sie Valentin und lächelte ihn dabei freundlich an. Der Arzt kam wie versprochen nach einer Stunde und berichtete, was alles repariert wurde. Er hatte mit einem Draht und zwei Nägel die Knochen zusammengesetzt. Nach zwei bis drei Wochen werden die Fäden gezogen und etwa nach einem Jahr wird nach einer Röntgenuntersuchung das Metall wieder entfernt. »Und wann kann meine Tochter wieder nach Hause, Herr Doktor?« »Voraussichtlich in zwei Tagen. Aber bitte, die zeitlichen Aussagen sind nur bei normalem Verlauf der Krankheit richtig. Ich wünsche noch einen schönen Abend.« Der Arzt drehte sich zu seiner kleinen Patientin. »Und wir sehen uns morgen wieder, Finnja. Schlaf schön und wenn du Schmerzen hast, rufst du die Schwester. Alles klar?« Finnja nickte. Der Doktor verließ das Zimmer und Valentin setzte sich an die Seite des Bettes. Er streichelte das Gesicht seiner kleinen Prinzessin und die Augen wurden immer glasiger, bis eine Träne über seine Wange lief. Finnja war noch sehr müde und schlief wieder ein. Plötzlich ging die Tür auf und Inka trat ins Zimmer. Sie schaute ihn warmherzig an und Valentin grinste verlegen. Sie stellte sich an das Bettende, betrachtete Finnja und erklärte ihm, dass ein Armbruch kein Weltuntergang wäre.
»Wie hat die Mama die Nachricht verkraftet?«, wollte sie von Valentin wissen. »Ach, die ist nicht so zimperlich«, log er und war froh, dass Finnja die Frage nicht mitbekam. Er wechselte gleich das Thema. »Wohnen Sie auf Sylt, Schwester Inka?«, erkundigte er sich. »Ja, jetzt kommen Sie mir aber nicht mit dem beliebten Spruch ›arbeiten, wo andere Urlaub machen‹. Andere Leute machen zwar hier Urlaub, aber das Leben will auch auf Sylt bewältigt werden. Für die Bewohner fliegen auch hier keine gebratenen Tauben durch die Luft.« Er schaute sie etwas erschrocken an, aber sie lächelte bereits wieder. »Ich bin etwas grantig, wenn ich diese Frage gestellt bekomme, entschuldigen Sie die Reaktion«, gab sie leise zu. »Sie können mich übrigens auch Inka nennen, genau wie die Kinder hier. Ich bin nämlich nicht die Schwester der Kinder und auch nicht Ihre«, sagte sie kichernd. »Das mache ich gerne, aber nur, wenn ich für Sie der Valentin bin.« »Gut Valentin, dann lassen Sie uns jetzt aus dem Zimmer gehen, wir stören Finnja beim Schlafen. Ich bin die ganze Nacht hier und werde auf sie achten«, versprach sie ihm. Es war kein Besucher mehr auf der Station, deshalb plauderten sie noch eine Weile vor dem Schwesternzimmer. Als dann die erste Klingel läutete und Inka ihrer Arbeit nachgehen musste, verabschiedeten sie sich und Valentin rief ihr noch flüsternd hinterher: »Bis morgen.« Sie drehte sich um und lächelte ihm zu.
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Als er die Gartenpforte der Pension öffnete und um das Haus ging, sah er, dass auf der Terrasse noch eine Kerze auf dem Tisch der Sitzecke brannte.
Er wurde von Wencke begrüßt und sie erkundigte sich, wie es Finnja ging. Beim Erzählen knurrte plötzlich Valentins Magen sehr laut. Er entschuldigte sich und stellte fest, dass er außer Frühstück noch nicht gegessen hatte. Wencke bot ihm ein kaltes Schnitzel und Kartoffelsalat an, was vom Abendessen noch übrig war. Er nahm es dankend an. Sie lief in die Küche und Haro holte eine weitere Flasche Wein. Er goss die Gläser voll und bat Valentin, sich zu setzen. Haro erkundigte sich, wie Finnjas Mutter auf den Unfall reagiert hatte. Er bot ihm an, wenn sie Finnja besuchen wollte, dass sie mit im Leuchtturmzimmer schlafen könnte. Valentin reagierte nicht auf Haros Frage, sondern räusperte sich nur und nippte an seinem Weinglas. Aber ... Nach dem guten Essen und dem zweiten Glas Wein lockerte sich seine Zunge und er erzählte von seiner Ehe, die glücklich war, bis Finnja zur Welt kam. »Meine Frau Laura hatte eine Schwangerschaftsdepression und lehnte ihr neugeborenes Kind nach der Entbindung ab. Es war schrecklich ...«, flüsterte Valentin. »Ich musste Finnja mit der Flasche ernähren, da sie sich weigerte, sich um das Kind zu kümmern«, fuhr er fort. Er drehte sein Weinglas in der Hand und man spürte, dass ihm das Reden schwerfiel. »Ich beantragte Elternzeit und war die ersten zwei Jahre komplett zu Hause. Ich hatte nur stundenweise im Homeoffice für meine Firma gearbeitet, um den Anschluss zu meinem Arbeitgeber nicht zu verlieren. Eines Tages, es war Finnjas zweiter Geburtstag, erzählte Laura mir, dass sie hier in Deutschland nicht mehr leben wollte. Sie brauchte kein Luxusleben, sie wollte frei von allen Sorgen und ohne Druck am Strand im Pazifik leben. Finnja wollte sie zum Glück nicht mitnehmen aber vielleicht später einmal nachholen.« Wencke legte sacht ihre Hand auf Valentins Arm und Haro war über diese Worte sehr betroffen.
»Ich hatte sie angefleht, es sich noch einmal zu überlegen. Aus ihrem Reden hörte ich damals heraus, dass ein jüngerer Mann da viel mehr Überzeugungsarbeit geleistet hatte, als ich und Finnja es jemals konnten.« Valentin schwieg und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Weinglas. »Acht Jahre bin ich jetzt schon alleinerziehender Vater. Meine Eltern unterstützen mich, wo sie nur können. Sie kümmern sich liebevoll um ihre Enkeltochter, denn mittlerweile bin ich wieder berufstätig.« Er wischte sich über das Gesicht, so, als wollte er die Vergangenheit wegwischen. Es wurde spät und Valentin begann zu frösteln. Sie beendeten ihre nächtliche Unterhaltung und die Pensionswirte wünschten eine gute Nacht. »Gute Nacht, bis morgen zum Frühstück«, murmelte er leise und schwankte leicht zur Eingangstür.
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Am nächsten Morgen, gleich nachdem Valentin sein Frühstück heruntergeschlungen hatte, machte er sich auf den Weg ins Krankenhaus. »Valentin, schöne Grüße an Finnja und kündige uns an. Wir werden sie morgen besuchen«, rief Wencke ihm noch hinterher. Das Du kam ihr wie selbstverständlich über die Lippen. »Danke, Wencke, ich werde es ausrichten«, versicherte Valentin und eilte durch den Garten. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr die wenigen Kilometer zur Westerland Klinik. Dort saß Finnja bereits im Bett und schaute mit sehnsüchtigen Blicken zur Eingangstür ihres Krankenzimmers. Die Tür öffnete sich einen Spalt und Valentin steckte seinen Kopf hindurch. Er sah, wie seine Tochter leicht leidend zurück in ihre Kissen fiel.
»Na kleine Micky Maus, wie geht es dir? Hast du Schmerzen?«, fragte er und schob sich ganz durch die Tür. »Ein wenig, aber für eine Runde Mau-Mau reicht auch ein Arm«, verkündete sie und ihr Gesicht hellte sich auf. »Ah, du hast also auf mich gewartet, damit wir spielen können.« Er legte das Buch, das er unterwegs noch schnell besorgt hatte, auf ihre Bettdecke. »Da haben wir ja den ganzen Tag Zeit«, sagte er und man sah, wie sich seine Gesichtszüge langsam entspannten. Finnja erzählte von der netten Krankenschwester, von der sie ganz früh geweckt wurde, um bei ihr Fieber zu messen. »Sie brachte mir Waschzeug und eine Zahnbürste, und beim Waschen half sie mir.« Valentin schlug sich gegen die Stirn, an so etwas hatte er überhaupt nicht gedacht. »Papa, das musst du mir morgen mitbringen. Ich möchte auch mein KittySchlafanzug. Bitte, Papa, bringst du mir das alles vorbei?« »Ich kann auch nachher zur Pension fahren«, erwiderte Valentin. Er machte den Vorschlag bei Oma und Opa anzurufen. Er holte sein Handy aus der Jacke und wählte ihre Nummer. Er übergab Finnja das Handy, damit sie sich den Schmerz von der Seele reden konnte. Während seine Tochter sprach, dachte er an den gestrigen Abend. Wie befreiend es war, einmal mit Fremden, die keine Vorurteile hatten, über die Situation mit Finnjas Mutter zu sprechen. Vor allem hat ihm das Gespräch etwas Frust von der Seele genommen. Nachdem Finnja fast eine halbe Stunde mit ihren Großeltern am Telefon herumgealbert hatte, verabschiedeten sich beide. Valentin schlug Finnja vor, sich etwas auszuruhen. Er wollte die Sachen, die sie so notwendig brauchte, aus der Pension holen und in der Stadt etwas besorgen.
Er fuhr zur Kleinen Möwe, die ziemlich verwaist war. Sicher sind die beiden mit den Kindern einkaufen, dachte er. Die gewünschten Sachen für Finnja waren schnell zusammengepackt. Er fuhr zurück in die Stadt und besorgte für Wencke ein kleines Dankeschön dafür, dass die beiden sich noch so spät abends seine Sorgen angehört haben. Eine kleine Pflanze im Garten sollte sie an Finnja und Valentin erinnern. Nachdem die Besorgungen erledigt waren, setzte er sich ins Café Madleen. Es machte einen gemütlichen Eindruck und der Kuchen sah auch sehr lecker aus. Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. »So, so, die kleine Tochter leidet und der Vater genießt das Leben«, sagte Inka lachend. Valentin drehte sich um und ein Strahlen ging über sein Gesicht. »Inka, komm setz dich und trink einen Kaffee mit mir, bitte«, lud er sie ein. Es blieb nicht viel Zeit, da in einer Stunde ihre Mittagsschicht im Krankenhaus anfing. Aber ein kleines Pläuschchen konnten sie schon halten, welches wieder sehr intensiv ausfiel. »Du brauchst dich nicht abhetzten, ich nehme dich im Auto mit, schließlich haben wir doch den gleichen Weg«, bot er ihr an
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Inka und Valentin kamen pünktlich im Krankenhaus an. Finnja packte die Sachen aus und entdeckte dabei noch ein kleines neues Kuscheltier, eine kleine Möwe. »Oh, ist die süß, danke Papa.« Als sie ihn dafür knuddeln wollte, stieß sie mit ihrem Arm an seine Schulter.
»Autsch«, kam es von Finnja. »Papa, kannst du nicht besser aufen?« »Ups, es tut mir leid. Ich e demnächst besser auf«, versprach er ihr. Der Tag verging wie im Flug und Valentin schaute auf die Uhr. Er beabsichtigte bald zur Pension zurückzufahren, als die Tür zum Krankenzimmer aufging und Inka durch einen schmalen Spalt lugte. »Ich wollte nur nach Finnja schauen und tschüss sagen. Ich habe gleich Feierabend«, erklärte sie und wollte die Tür wieder schließen. »Inka«, rief Finnja ihr laut hinterher. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging ins Zimmer, hielt ihren Zeigefinger auf den Mund. Finnja flüsterte leise weiter. »Inka, Papa geht jetzt auch. Da kann er dich doch schnell nach Hause fahren. Den weiten Weg läufst du doch jetzt nicht gerne, oder?« Inka und Valentin sahen sich verdattert an. Wie kam sie nur auf diese Idee? »Na gut, dann werde ich deine Krankenschwester nach Hause fahren, möchtest du mich loswerden?«, fragte er seine Tochter scherzhaft. Alle drei lachten und bevor er seine Jacke angezogen hatte, klönte Finnja schon mit ihrer Bettnachbarin. Inka und Valentin gingen zur Tür und winkten. »Was fangen wir mit dem angebrochenen Abend an?«, fragte Valentin. »Würdest du mich in ein Restaurant begleiten, ich habe heute noch nicht zu Abend gegessen. Ich würde dich gern dazu einladen.« Valentin schaute sie verlegen an. Inka kannte als Einheimische selbstverständlich die nettesten und romantischsten Restaurants auf Sylt und machte einige Vorschläge. Sie konnten sich schnell einigen, da sie sich beide zu Fisch als ihre Lieblingsspeise bekannten. Es wurde ein wunderbarer Abend, denn neben mehreren interessanten Gesprächsthemen entdeckten sie auch gemeinsame Hobbys. An ihren freien
Tagen schauten sie gerne spannende Krimis, gingen gerne Essen oder ins Kino und im Winter waren beide vom Skifahren begeistert. Inka konnte am nächsten Tag ein wenig länger schlafen, aber trotzdem wollte sie jetzt nach Hause. Es war ein langer Tag und die Müdigkeit übermannte sie.
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Valentin nutzte die gute Versorgung für Finnja aus und schlief am nächsten Morgen ein wenig länger. Als er zum Frühstück kam, waren alle bis auf Wencke aus dem Haus. Sie brachte ihm den Kaffee, kochte frische Eier und setzte sich anschließend zu ihm. Sie bot ihm an, Finnja heute im Krankenhaus zu besuchen, damit auch er ein paar Stunden Abwechslung in seinem Urlaub genießen konnte. Valentin wollte am späten Nachmittag seine Tochter aufsuchen. »Sie ist ja auch nicht ganz allein, sie hat bestimmt auch andere Kinder, mit denen sie sich unterhalten kann«, sagte er und ließ sich das Frühstück schmecken. Wencke machte ihm noch ein wenig Mut und erinnerte ihn, dass es auch Finnja gut geht, wenn ihr Vater entspannt ist. Sie erhob sich, zog ihre Schuhe an und machte sich auf den Weg. Er beabsichtigte, Inka anzurufen und war froh, dass sie am Vortag die Telefonnummern ausgetauscht hatten. Er ließ es klingeln und am anderen Ende meldete sich ein freundliches: »Hallo ...« »Hallo Inka, bist du es?«, säuselte er ins Telefon. »Valentin, ist was mit Finnja?«, wollte sie aufgeregt wissen. »Nein, was soll denn sein? Sie ist doch in guten Händen, jedenfalls sagtest du es, als wir uns kennenlernten«, erwiderte er.
Er unterbreitete ihr den Vorschlag, sie vor der Arbeit zu Hause abzuholen, um mit ihr nochmals ins Café Madleen zu gehen. Anschließend könnten sie gemeinsam zu Finnja zu fahren. »Was hältst du davon?« »Das ist eine gute Idee, du kannst mich in einer Stunde abholen. Oder, komm doch einfach her, dann kannst du hier warten bis ich alles eingepackt habe und für den Start fertig bin. Bis gleich.« Sie legte den Hörer auf und Valentin fuhr zu ihr. Als sie gemeinsam das Zimmer betraten, schaute Finnja sie mit großen Augen an und fing an zu grinsen. »Hallo Inka, bleibst du jetzt hier?«, fragte sie begeistert. »Wisst ihr wer hier war?« »Nein, wer war hier?«, fragte Valentin scheinbar neugierig. »Wencke mit den beiden Kleinen Mia und Janis und Eis hat sie auch mitgebracht. Voll lecker war das«, schwärmte Finnja. Inka drückte zärtlich ihre gesunde Hand und ging ins Schwesternzimmer. »Hör mal, Papa, die Inka ist doch eine total nette Frau, wäre die nicht was für uns? Wenn du dich nicht traust, dann frag’ ich sie, ob sie nicht Lust hätte, mit uns nach Dresden zu ziehen.« »Finnja, immer langsam, man muss sich doch erst an einen Menschen gewöhnen, wenn man mit ihm zusammenziehen will. Ich mache dir einen Vorschlag: Wenn du aus dem Krankenhaus kommst, besuchen wir Inka mal hier auf Sylt in ihrer Wohnung, solange wir noch in der Pension Kleinen Möwe wohnen. Und bevor wir wieder nach Haus fahren, fragen wir sie, ob sie uns auch einmal in Dresden besuchen möchte«, schlug er Finnja vor. Am nächsten Tag durfte Finnja das Krankenhaus verlassen, sie konnte sich nicht von Inka verabschieden und war außerordentlich traurig, die Tränen flossen und sie konnte sich gar nicht beruhigen.
Valentin rief bei Inka an und erzählte ihr von den Tränen. Inka musste lachen und versprach, sie heute Abend zu besuchen. Am Abend kam sie in die Pension Kleinen Möwe und wurde von Finnja herzlich begrüßt. Sie setzte sich gleich auf ihren Schoß und schaute Valentin verschmitzt an. Dieser wusste, dass sie sich nicht an die Abmachungen halten würde. Sie wollte unbedingt die Einladung nach Dresden mit Inka besprechen. Aber dazu kam es nicht. Sie planten einen gemeinsamen Ausflug nach List und Inka musste sich dazu einen Tag frei nehmen. Das tat sie gern für Finnja, sie war ein bezauberndes Mädchen und sie war ihr ans Herz gewachsen. Ganz schön schlau war sie außerdem für ihr Alter, das hatte sie bemerkt, als sie während der Pausen mit ihr spielte. Schließlich war da noch Valentin, in den sie ein wenig verliebt war. Er war so sympathisch, aufmerksam und liebevoll. Dabei hatte er immer einen Scherz auf den Lippen, aber vor allem waren ihre gemeinsamen Treffen romantisch, dass es bis in die Fußspitzen kribbelte. Am vorletzten Tag ihres Urlaubes war die Fahrt nach List an den Hafen geplant. Sie ließen sich Zeit mit dem Frühstück bei Wencke, das wollte Valentin noch mal genießen. Auf dem Weg holten sie Inka ab und alle drei trällerten gemeinsam ein Lieblingslied nach dem anderen. Als sie List endlich erreichten, war das Wetter genau richtig für die Fahrt. Sie wanderten am Hafen entlang konnten durch einige Läden bummeln und am Nachmittag auf der Rückfahrt besuchten sie noch die Wanderdüne. In Westerland gingen sie noch etwas Essen. Es war Abschiedsstimmung und Finnja trat ihren Vater unter dem Tisch mit den Beinen, bis er endlich fragte: »So Inka, es ist unser letzter gemeinsamer Abend. Wir beide wollten dich zu uns nach Dresden einladen. Wenn du Lust hast, könntest du deinen nächsten Urlaub bei uns verbringen«, schlug Valentin ihr vor. »Ich mache dir auch Frühstück und zeige dir alles«, schob Finnja hinterher.
Valentin und auch Finnja strahlten beide über das ganze Gesicht, als Inka die Einladung annahm und ihnen dazu noch mitteilte, dass ihr Urlaub schon in zwei Wochen wäre. Am nächsten Morgen packte Wencke noch zwei Lunchpakete und sie verabschiedeten sich und versprachen, im nächsten Jahr auf jeden Fall wiederzukommen.
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Haro Fries fand ein geeignetes Büro in Kampen und richtete somit für seine Flensburger Anwaltskanzlei eine Niederlassung auf Sylt ein. Das Pendeln zwischen Flensburg und Sylt gehörte damit der Vergangenheit an und er konnte endlich mit Wencke und den Kindern in seinem neuen Zuhause wohnen. Die Pension Kleine Möwe lief gut, die drei Gästezimmer waren, bis auf vereinzelte Tage, immer komplett ausgebucht. Die Kinder Mia und Janis fanden schnell Anschluss und fühlten sich pudelwohl auf Sylt. Jürgen und Katja trennten sich nach dem unschönen Vorfall auf Sylt. Jürgen legte keinen Wert darauf, Katja noch einmal zu treffen. Er bat sie, seine persönlichen Sachen, die noch bei ihr in der Wohnung waren, per Paketdienst zu ihm zu schicken. Katja wurde vom Gericht wegen Sachbeschädigung an Jürgens Wagen zu einer Geldstrafe von dreitausend Euro verurteilt und hatte zusätzlich die Kosten des Schadens an seinem Fahrzeug zu tragen. Mit der Freundschaft zwischen Steffi und Katja war es auch vorbei. Keiner der beiden Damen machten je Anstalten, sich bei der anderen zu melden. Die zwei jungen Leute Jana und Hagen hatten ihr Leben fest im Griff. Ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes Luca riefen sie in der Pension Kleine Möwe bei Wencke an und buchten für den Herbst eine Woche das Familienzimmer, denn sie waren nun zu viert. Die kleine Lena war geboren. Zwei Wochen nachdem Valentin und Finnja abgereist waren, fuhr Inka in ihrem Urlaub nach Dresden. Es wurden wunderschöne Ferien, und sie fühlten sich wie
eine kleine Familie. Der Umzug erfolgte nicht nach Dresden, aber Valentin und Finnja zogen nach Sylt. Und es fand bald darauf die Verlobung statt.
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ENDE
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