Sophienlust Extra – 44 –
Kai und Katja
Ihr trauriges Schicksal nimmt eine glückliche Wendung...
Gert Rothberg
»Wollt ihr wohl aufhören!«, rief Denise. Doch sie bemühte sich vergebens, ernst zu bleiben. Als ein Schneeball ihren Arm traf, musste sie lachen und war im Nu von den Kindern eingekreist. »Noch eine Schneeballschlacht, Tante Isi«, bettelte Heidi. Die anderen Kinder pflichteten ihr bei. »Du spielst so selten mit uns«, erinnert Pünktchen die geliebte Tante Isi. Das war nur allzu wahr. Spontan entschloss sich Denise, den Nachmittag einfach zu verspielen. Gemeinsam mit den Kindern. Schon formte sie einen besonders großen und festen Schneeball, da rief Frau Rennert aus dem Küchenfenster: »Frau von Schoenecker, wir haben Besuch!« »Auch das noch«, maulte Nick. Auch alle anderen Kinder verwünschten den Besuch in diesem Moment. Endlich einmal hätten sie ihre Tante Isi ein paar Stunden für sich allein gehabt. Und nun musste schon wieder jemand kommen und sie ihnen wegnehmen. Denise konnte die Gedanken der Kinder an ihren Gesichtern ablesen. »Wir holen die Schneeballschlacht ein andermal nach«, versprach sie. »Vielleicht geht der Besuch bald wieder«, meinte Henrik verschmitzt. »Kommst du dann wieder, Mutti?« »Gut, dann komme ich wieder«, versprach Denise. Dann klopfte sie sich den Schnee von der Jacke und eilte ins Haus. »Eine ältere Dame ist da«, berichtete Frau Rennert. »Ich schätze sie auf ungefähr sechzig. Sie war noch nie bei uns.« Denise zog ihre Jacke aus und klopfte sich den Schnee von der Hose. »Dann wollen wir mal sehen, was sie zu uns führt.« Mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen betrat Denise den Biedermeiersalon. Sie wirkte in diesem Moment wesentlich jünger, als sie tatsächlich war. Überrascht schaute ihr Friederike Göldner entgegen. »Frau von Schoenecker?« Ihre Stimme klang ungläubig.
»Das bin ich«, bestätigte Denise. »Friederike Göldner«, stellte sich die weißhaarige Dame vor. Denise schüttelte ihr herzlich die Hand. Dann bot sie ihr an, eine Erfrischung kommen zu lassen. Doch Friederike Göldner lehnte dankend ab. Noch immer ruhten ihre Augen verwundert auf Denises jugendlicher Erscheinung. »Ich komme gerade von einer Schneeballschlacht mit den Kindern«, erläuterte Denise ihrer Besucherin. Sie hatte deren überraschten Blick sehr wohl registriert. »Wie schön, dass Sie sich die Zeit nehmen können, mit den Kindern zu spielen.« »Leider finde ich nur sehr selten Gelegenheit dazu«, bedauerte Denise. »Dann tut es mir leid, dass ich Ihre ohnehin knappe Zeit auch noch beanspruche.« »Aber ich bitte Sie, Frau Göldner. Ich freue mich stets, wenn ich helfen kann!« Sie schaute die Besucherin abwartend an. »Mit der Bitte bin ich allerdings zu Ihnen gekommen. Ich habe soviel Gutes über Sophienlust gehört …« Ein wenig hilflos brach Friederike Göldner ab. Sie war nun doch nicht mehr so ganz sicher, ob ihre Bitte gerechtfertigt war. »Es geht um meine beiden Enkelkinder Katja und Kai. Darf ich Ihnen das Schicksal der Kinder in kurzen Worten schildern?« »Ich bitte darum.« »Kai ist vier Jahre alt und seine Schwester Katja sieben. Der Vater der Kinder ist mein Sohn Wolfgang. Seine Frau Herta verursachte einen Autounfall, durch den mein Sohn sehr schwer verletzt wurde. Herta selbst kam mit ein paar Abschürfungen davon. Sie fuhr sehr leichtsinnig. Die Polizei stellte fest, dass sie an dem Unfall einwandfrei die Schuld trug.«
Friederike Göldner hielt kurz inne und tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Es liegt mir fern, meine Schwiegertochter zu beschuldigen«, fuhr sie fort. »Aber Wolfgangs Gesicht wurde durch diesen Unfall auf entstellende Weise verletzt. Er wagt sich seitdem nicht mehr unter Menschen. Außer mir darf ihn niemand sehen.« »Und was ist mit seiner Frau?«, erkundigte sich Denise erschüttert. Sie begriff, welch' schweres Schicksal den Sohn der alten Dame getroffen hatte. »Herta hat ihren Mann und ihre Kinder nach dem Unfall verlassen«, sagte Friederike Göldner hart. »O nein!«, entfuhr es Denise unwillkürlich. Dabei dachte sie in erster Linie an die Kinder. Wie schwer musste sie der Verlust der Mutter getroffen haben. Sie verstand diese Frau nicht. »Ich habe es vorher nicht auszusprechen gewagt«, fuhr Friedrike Göldner schwer atmend fort. »Aber meine Schwiegertochter Herta ist leider eine sehr oberflächliche und leichtfertige Person.« Nach allem, was Denise gehört hatte, musste sie der alten Dame rechtgeben. Doch sie sprach ihre Gedanken nicht aus. Ein Urteil stand ihr nicht zu. »Wo sind die beiden Kinder jetzt?«, wollte sie wissen. »In unserem Haus am Starnberger See. Von dort aus leitet mein Sohn auch seinen Betrieb in München.« Denise versuchte sich das vorzustellen. Ein Unternehmer, der es nicht mehr wagte, vor seinen Angestellten zu erscheinen. »Das ist sicher eine schwierige Aufgabe, die Ihr Sohn zu bewältigen hat.« »O ja«, seufzte Friederike Göldner. Dabei dachte sie an ihren Sohn, der jetzt in seinem abgedunkelten Zimmer saß und keinen Menschen zu sich ließ. »Aber genauso schwer ist es für seine Umwelt, mit ihm auszukommen. Seit Herta ihn verlassen hat, will er auch von seinen Kindern nichts mehr wissen.« Denise blickte die weißhaarige alte Dame ungläubig an. »Aber die Kinder können doch nichts dafür …«
»Nein. Sie sind unschuldig, aber sie müssen am meisten leiden. So ist es doch immer.« »Darf ich Sie etwas fragen, Frau Göldner? Warum, glauben Sie, hat Ihre Schwiegertochter Mann und Kinder verlassen?« »Sie glaubte das Leben an seiner Seite nicht mehr ertragen zu können. Das hat sie mir selbst gesagt. Herta hat niemals eine Schuld bei sich selbst gesucht. Immer nur beim Schicksal.« »Sie macht es sich sehr einfach«, warf Denise ein. »Das kann man wohl sagen«, meinte Friederike Göldner bitter. »Sogar den Unfall bezeichnete sie als Schicksalsschlag. Dabei steht fest, dass sie ihn nur durch ihre leichtsinnige Fahrweise verursacht hat.« »Wo sind die Kinder jetzt?«, wollte Denise wissen. »Zu Hause. Ich habe sie in der Obhut unserer Köchin Hanna gelassen. Früher waren die beiden immer so lustig. Es war direkt eine Freude, ihnen beim Spiel im Garten zuzusehen.« »Und jetzt?« »Das Lachen haben sie völlig verlernt. Wie Schatten schleichen sie im Haus umher. Sie dürfen ihren Vater nicht sehen, sie dürfen nicht laut sein, sie dürfen überhaupt nichts mehr. Jetzt frage ich Sie, Frau von Schoenecker, wie sollen Kinder in einer solchen Atmosphäre gedeihen?« »Das geht nicht«, antwortete Denise spontan. »Kinder brauchen einen hellen, fröhlichen Lebensraum. Und vor allem das Gefühl, geliebt zu werden und geborgen zu sein.« »Ja, wie bei Ihnen hier. Eigentlich sieht Sophienlust gar nicht wie ein Kinderheim aus.« »Es ist auch kein Kinderheim im üblichen Sinn. Gerade das wollen wir nicht sein«, meinte Denise. »Heranwachsende brauchen mehr als nur Nahrung und Unterkunft.«
»Wie wahr«, pflichtete Friederike Göldner ihr bei. »Wissen Sie, Freunde haben mich auf Sophienlust aufmerksam gemacht. Und wenn ich ehrlich sein soll, dann muss ich zugeben, dass ich ihrer Schilderung eigentlich keinen Glauben geschenkt hatte. Aber sie haben recht. Sophienlust ist etwas Besonderes. Stimmt es, dass dieser wundervolle Besitz eigentlich Ihrem Sohn gehört?« »Ja, Sophienlust gehört meinem Sohn Dominik. Ich verwalte es nur für ihn. Er hat das Gut von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt. Die Dame, die wir alle sehr verehren, stellte die Bedingung, aus dem Anwesen ein Kinderheim zu machen.« Denise schilderte nun kurz die Verhältnisse in Sophienlust und Schoeneich. Sie sprach über ihre zweite Ehe mit Alexander von Schoenecker, über Dominiks kleinen Bruder Henrik und über seine erwachsenen Stiefgeschwister Andrea und Sascha, die Alexander mit in die Ehe gebracht hatte. Doch schließlich fragte sie: »Warum bringen Sie Ihre Enkelkinder nicht zu uns, Frau Göldner?« Ein erleichtertes Lächeln huschte über das Gesicht der alten Dame. »Sie würden Kai und Katja wirklich aufnehmen? Obwohl die beiden noch Eltern haben?« »So starre Regeln befolgen wir hier nicht. Wir sind für Kinder da, die uns brauchen. Und das scheint mir doch bei Kai und Katja der Fall zu sein. Ein Vater, der seine Kinder nicht sehen will, und eine Mutter, die sie verlassen hat … Verzeihen Sie, Frau Göldner, aber diese Kinder haben für mich keine Eltern.« Friederike Göldner nickte. Wie klug diese Frau von Schoenecker doch war. »Ich bin Ihnen ja so dankbar. Bei Ihnen wären meine Enkelkinder gut aufgehoben, und mir wäre eine Last von der Seele genommen.« »Dann ist diese Frage geklärt«, entschied Denise. »Bringen Sie Katja und Kai so bald wie möglich.« »Das will ich tun.« Nachdem Denise mit Frau Göldner noch einen Rundgang durch das Haus unternommen hatte, verabschiedete sich die Großmutter von Frau von Schoenecker. Die Kinder hatten ihre Schneeballschlacht im Garten inzwischen ohne Denise beendet. »Ohne Tante Isi war es nur halb so schön«, maulte die vierjährige Heidi. Das fanden die anderen Kinder auch. Deshalb umringten sie Denise
sofort, als sie aus dem Haus trag. »Ist dein Besuch wieder weg, Tante Isi?«, erkundigte sich Heidi. »Ja, und für euch habe ich eine Neuigkeit.« Denise schmunzelte. Einige der Kinder horchten auf. Sie ahnten sofort, worum es ging. »Wir bekommen Zuwachs, Mutti. Stimmt es?«, vermutete Nick. »Erraten.« »Einen Jungen oder ein Mädchen?«, wollte Irmela wissen. »Einen Buben und ein Mädchen. Katja und Kai.« Denise dachte kurz nach. »Katja ist sieben. Ihr Bruder Kai ist erst vier Jahre alt.« Damit hatten die Kinder Gesprächsstoff für den Rest des Nachmittags. Sie diskutierten sogar noch beim Abendessen über die beiden Neuen. »Wann kommen die beiden denn nun eigentlich?«, fragte Vicky. »Morgen, das hast du doch gehört«, antwortete Pünktchen. »Habe ich nicht gehört.« »Aber Tante Isi hat es gesagt. Stimmt's?« Pünktchen blickte fragend in die Runde. »Stimmt genau! Tante Ma hat sogar schon die Zimmer herrichten lassen«, wußte Irmela zu berichten. »Der kleine Kai wird im Zimmer von Peter schlafen. Zu wem seine Schwester kommen soll, weiß ich nicht.«
*
Als die Kinder am nächsten Tag aus der Schule kamen, waren Katja und Kai schon da. Kai war ein schmaler, blonder Junge, der sich immer wieder hinter seiner größeren Schwester versteckte. Die ältere Katja war jedoch schon ein
wenig vernünftiger. Henrik betrachtete das siebenjährige Mädchen prüfend. »Deine ganze Nase ist voll Sommersprossen«, platzte er heraus. »Aber Henrik!«, rief Frau Rennert, die in der Nähe stand, tadelnd. Doch der Junge hatte seine Feststellung so drollig hervorgebracht, dass ihm niemand böse sein konnte. Vor allem auch Katja nicht. »Ich weiß«, sagte sie nur und strich sich das dichte rostrote Haar aus dem Gesicht. »Du bist mir doch nicht böse?«, fragte Henrik erschrocken. Katja zog das Näschen mit den Sommersprossen kraus. »Nö, ich hab' mich daran gewöhnt. Ich werde ja von allen gehänselt, weil ich rote Haare und Sommersprossen habe.« »Aber ich wollte dich wirklich nicht hänseln«, versicherte Henrik treuherzig. »Ich finde deine Sommersprossen nämlich lustig.« »Ich auch!«, rief Pünktchen spontan aus. »Und dein dunkelrotes Haar sieht sehr schön aus. Das hat wenigstens nicht jeder. Bestimmt werden dich später einmal alle Frauen darum beneiden.« Überrascht betrachtete Katja das blonde Mädchen, das selbst ein paar Sommersprossen auf der Nase hatte. Es geschah das erste Mal, dass ihr jemand ein Kompliment über ihr Haar machte. Bisher hatten die Kinder sie deshalb nur ausgelacht. Also fasste sie spontan Zuneigung zu dieser kleinen Clique in Sophienlust. Nach diesen ersten Minuten des gegenseitigen Abtastens übernahm Nick die Vorstellung. Zuletzt sagte er zu Katja und Kai: »Bestimmt werdet ihr euch so viele Namen auf einmal nicht merken können. Aber mit der Zeit behaltet ihr sie schon.« Barri, der Bernhardiner, tapste daher und beschnüffelte Kai neugierig. Ein Leuchten glomm in den Augen des kleinen Jungen auf. Er streichelte Barris weißbraunes Fell und begann mit ihm zu sprechen.
»Du magst wohl Hunde gern?«, fragte die vierjährige Heidi. »Ja, sehr. Gehört er auch hierher?« »Freilich! Er heißt Barri.« »Barri.« Kai sprach den Namen vorsichtig aus. »Wird er vielleicht noch größer?« »Um Gottes willen!« Pünktchen hob abwehrend die Hände. »Der ist doch sowieso schon so groß. Du solltest mal sehen, was Barri alles frisst.« Es gefiel dem Bernhardiner, dass er in den Mittelpunkt des Interesses gerückt war. Neugierig kam er nun auch zu Katja. Zögernd kraulte sie ihn im Nacken. »Der ist aber wirklich lieb.« »Ja, und man kann richtig schön mit ihm spielen.« Henrik lief ein Stück davon und lockte den Hund. »Komm, Barri, komm! Fang' mich!« Sofort sprang Barri ihm nach. Das sah ein wenig tolpatschig, aber sehr lustig aus. Kai musste lachen. Dass es das erste Lachen seit geraumer Zeit war, wurde ihm nicht bewusst. Doch in dem düsteren Haus am Starnberger See hatte er das Lachen gründlich verlernt.
*
Das wundervolle Grundstück reichte direkt bis zum Ufer des Sees. Eine gleichmäßige weiße Schneedecke lag über der Rasenfläche. Sie wurde durch hohe Bäume unterbrochen, unter denen ein schmuckes Landhaus stand. Es war im Stil der Alpenhä erbaut und machte von außen einen friedlichen und harmonischen Eindruck. Doch ganz anders sah es in seinem Innern aus. Im Haupttrakt des großen Hauses befand sich eine Wohnhalle, die sehr gemütlich wirkte. Den linken Flügel bewohnte Friederike Göldner zusammen mit dem Hausmeister und der Köchin Hanna Winter. Der rechte Flügel des Gebäudes war verdunkelt. Herabgelassene Jalousien waren an allen Fenstern zu sehen. Hier residierte der Hausherr, Wolfgang Göldner. Niemand außer seiner Mutter durfte
diesen Teil des Hauses betreten. Wehmütig kehrte Friederike Göldner an diesem Tag von Sophienlust zurück. Ohne die Kinder wirkte das ohnehin ruhige Haus wie ein Grab. Trotzdem war Friederike ungeheuer erleichtert, die Kinder in einer so freundlichen und angenehmen Umgebung wie Sophienlust zu wissen. Sie wären in dem düsteren Haus seelisch krank geworden. Ein paar vereinzelte Schneeflocken hatten sich auf Friederikes Hut verirrt. Sie stäubte sie herunter. Da trat die Köchin aus der Küche. »Sie sind schon zurück«, sagte sie aufatmend. »Ich wagte es nicht, Herrn Göldner das Abendessen zu bringen. Nun können Sie das ja tun.« Man sah ihr an, wie erleichtert sie war. Friederike wußte, warum. Ihr Sohn hätte die Köchin sofort aus dem Zimmer gewiesen. Lieber hungerte er, als dass er einen Menschen in seiner Nähe duldete. »Hatte mein Sohn heute Besuch?« Hanna Winter nickte. »Der Direktor der Fabrik war hier. Der junge Herr empfing ihn im verdunkelten Wohnzimmer. Ich war zufällig im Garten. Es schimmerte kein Licht durch die Jalousien. Dem Mann muss das unheimlich vorgekommen sein.« »Ich glaube, er hat sich bereits daran gewöhnt. Mein Sohn empfängt ihn ja immer im dunklen Zimmer.« Seufzend ging die achtundfünfzigjährige Köchin zurück in die Küche. »Darf ich Ihnen jetzt Ihr Abendessen zubereiten?« »Nur einen kleinen Imbiß, Hanna. Ich bin nicht hungrig. Und geben Sie mir Bescheid, sobald Sie das Essen für meinen Sohn fertig haben. Ich bringe es ihm dann. Sie finden mich in meinem Zimmer.« Mit einem Tablett auf dem Arm betrat Friederike Göldner zwanzig Minuten später das abgedunkelte Arbeitszimmer ihres Sohnes. »Guten Abend, Wolfgang. Ich bringe dir dein Essen.« Im Dunkeln tastete sie sich zu seinem Schreibtisch. Sie kannte jeden Gegenstand in seinem Zimmer. Trotzdem überkam sie jedesmal ein eigenartiges Gefühl, wenn sie sich durch die Dunkelheit zu ihm vortastete. Er beantwortete ihren Gruß nicht, sondern schwieg.
»Wo darf ich es hinstellen, Wolfgang?« »Hier auf den Schreibtisch«, erklang nun eine angenehme Stimme. Es war ein warmer, tiefer Bass. Aber der Tonfall klang gallebitter und sehr abweisend. Ist das noch mein Sohn? fragte sich Friederike Göldner. Sie stellte das Essen auf den Schreibtisch. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie wenigstens die Umrisse der Gegenstände erkennen konnte. Sie wollte ihm Tee in die Tasse gießen. Doch da fuhr er sie an. »Lass das bitte! Ich mache es selbst.« »Wie du willst.« Friederike wandte sich um und verließ das Zimmer. Kein Wort des Dankes hörte sie von ihm. Er ließ sie einfach gehen. Die Mutter war daran gewöhnt. Trotzdem machte sie das Verhalten ihres Sohnes sehr traurig. Sie wußte ja, dass er nicht immer so gewesen war. Aus ihrem charmanten, höflichen und immer freundlichen Wolfgang war ein verbitterter Einzelgänger geworden. Das tat ihr weh. »Mein armer Sohn, wohin hat das Schicksal dich getrieben?«, flüsterte sie vor sich hin, während sie durch das düstere Haus in ihr Zimmer ging. Ein Imbiss stand dort auf dem Tisch. Doch Friederike beachtete ihn zunächst nicht. Sie trat zum Fenster und spähte in den hellen Winterabend hinaus. Leise hatte es zu schneien begonnen. Die Landschaft bot ein stilles, friedliches Bild. Das Leben könnte so schön sein, dachte Friederike und beobachtete eine Zeitlang, wie die Flocken lautlos heruntertanzten. Friederike Göldner ahnte nicht, dass auch im gegenüberliegenden Teil des Hauses jemand wehmütig dem Tanz der Flocken zusah, es war ihr Sohn. Wenn er allein war, öffnete er ab und zu ein Fenster. Natürlich lebte er dann auch nicht mehr in der Dunkelheit. Nur wenn er Besucher zu empfangen hatte, dunkelte er den Raum ab. Auch jetzt war das Zimmer nur durch eine schwache Stehlampe erhellt. Aber Wolfgang Göldner hatte das Fenster geöffnet. Mit einem verlorenen Ausdruck in den Augen betrachtete er das lautlose Fallen des Schnees. Er dachte dabei an glückliche Wintertage mit seiner Familie. Dieses Leben war nun vorbei. Verloren für immer. Warum musste das Schicksal mir einen solchen Schlag versetzen? fragte er sich
verbittert. Seine Finger tasteten über die vernarbten Wangen, über die gebrochene und schief zusammengewachsene Nase. Von dem Mund war nur eine verzerrte Öffnung geblieben. In einem plötzlichen Anfall von Verzweiflung trat Wolfgang Göldner zu einem Regal. Mit einer wütenden Bewegung fegte er alle Gegenstände zu Boden. Ein ohrenbetäubender Lärm folgte. Wertvolle Kunstgegenstände und teure Vasen lagen zerbrochen am Boden. Jetzt wandte er sich ab und presste das zerstörte Gesicht in die Handfläche. Niemand sah ihn weinen, und kein Mensch hätte ihm einen solchen Gefühlsausbruch zugetraut. Denn seiner Umwelt gegenüber wirkte er stets hartherzig und verschlossen.
*
Die folgenden Tage flossen ruhig dahin. Nichts änderte sich in dem düsteren und stillen Haus. Einen Tag lang schneite es fast ununterbrochen. Das Landhaus versank in einer Decke von Schnee. Ununterbrochen schaufelte der Hausmeister Schnee, um den Weg zum Gartentor freizuhalten. Er und die Köchin Hanna waren die einzigen Bediensteten in dem großen Haus. Friederike Göldner trat aus dem Haus, um ein wenig spazieren zu gehen. Fröstelnd schlug sie den Mantelkragen hoch. »Ich mache einen kurzen Spaziergang«, sagte sie zu dem Hausmeister. Dann verließ sie das Grundstück über den freigeschaufelten Weg. Es war ein klarer Tag, aber beißend kalt. Lang hielt es Friederike nicht im Freien aus. Schon nach einer halben Stunde kehrte sie zurück. Als sie das Haus betrat, vernahm sie aufgeregte Stimmen in der Halle. Einen Moment lang dachte sie an Besuch. Doch dann erkannte sie die Stimmen der Köchin und des Hausmeisters. Friederike betrat die Wohnhalle. Hier fand sie eine völlig aufgelöste Hanna Winter vor. Vergebens versuchte der Hausmeister die Köchin zu beruhigen.
Friederikes erster Gedanke galt ihrem Sohn. »Was ist iert, Hanna?« Die Köchin fand nicht sofort Worte, um das hereingebrochene Unglück zu schildern. Ein Unglück, das nicht Wolfgang Göldner widerfahren war. »Es geht um Irma, meine Nichte«, schluchzte sie. »Ihre Nichte?« Friederike verstand nicht sofort. »Ja, Sie wissen doch von Irma, die ich aufgezogen habe …« Hannas Stimme verlor sich erneut in Weinen. Nun erinnerte sich Friederike Göldner. Irma Winter hatte ihre Eltern früh verloren. Da hatte die Tante das Mädchen zu sich genommen und aufgezogen. Friederike kannte Irma gut und mochte das Mädchen. Außerdem wußte sie, dass die Köchin ihre Nichte liebte wie ein eigenes Kind. Daher die Aufregung. »Aber, was ist mit Irma, Hanna?« »Ein Unglück«, schluchzte Hanna. »Irma liegt in Nürnberg im Krankenhaus. Sie haben vorhin angerufen.« Ein eisiger Schrecken durchzuckte Friederike. Nahm denn das Unglück kein Ende? »Was für ein Unfall?«, drang sie in die Köchin. »Der Gasherd in ihrem kleinen Zimmer ist explodiert.« »O Gott!« Friederike schlug die Hände vors Gesicht. Sie wußte, welche verheerenden Folgen Gasexplosionen haben konnten. »Wissen Sie, wie es ihr geht?« Die Köchin machte eine hilflose Bewegung. »Man wollte mir nichts Näheres sagen. Nur, dass sie im Krankenhaus liegt.« Hilfesuchend und fragend blickte die Köchin Friederike Göldner an. »Dann müssen Sie sofort nach Nürnberg fahren«, entschied Friederike. Sie wußte, es war ein schlechtes Zeichen, dass man über den Zustand des Mädchens nichts sagen wollte. Wären Irmas Verletzungen leichterer Art gewesen, hätte man das der Tante bestimmt mitgeteilt. »Sie würden mich wirklich fahren lassen?« Ein unendlich dankbarer Blick traf Friederike. Doch dann trübte sich Hannas Blick. »Aber ich kann Sie doch jetzt
nicht allein lassen …« »Natürlich können Sie das«, erklärte Friederike Göldner energisch. »Schließlich bin ich ja nicht ganz allein. Außerdem macht es mir gar nichts aus, wenn ich das Essen ausnahmsweise einmal selbst zubereiten muss.« Hanna Winter zögerte noch immer. Sie dachte an den schwierigen Hausherrn. Doch auch in dieser Hinsicht beruhigte Friederike sie. »Meinen Sohn muss ich ohnehin selbst bedienen.« Sie trat zum Telefon und erkundigte sich nach der nächsten Zugverbindung. »In einer halben Stunde geht ein Zug. In München müssen Sie umsteigen.« Sie blickte den Hausmeister an. »Herr Huber, würden Sie Frau Winter zum Bahnhof fahren? Der Wagen steht in der Garage.« »Aber selbstverständlich.« So kam es, dass Hanna Winter noch in der gleichen Nacht das Krankenhaus in Nürnberg erreichte. Aber es war zu diesem Zeitpunkt kein Arzt da, mit dem sie sprechen konnte. Nur für einen Moment durfte sie Irma sehen. Das Mädchen schlief. Hanna Winter betrachtete es gerührt. Sie konnte keinerlei sichtbare Verletzungen feststellen. Einige Stellen am Hals und an den Armen waren verbunden. Aber es sah nicht gefährlich aus. »Sind das alle Verletzungen, die meine Nichte hat, Schwester?« Die Nachtschwester senkte den Blick. Hanna verstand nicht. »Ich meine, man sieht doch nicht viel?« »Kommen Sie morgen wieder, dann können Sie mit dem zuständigen Arzt sprechen«, riet die Schwester. Verwirrt verließ Hanna das Krankenhaus. Irmas Zimmer war bereits wieder hergerichtet worden. Dort übernachtete die Köchin. Am nächsten Morgen fuhr Hanna wieder zum Krankenhaus. Der behandelnde Arzt empfing sie sofort. Zuerst erkundigte er sich danach, in welchen Verhältnissen Irma lebte. Hanna antwortete bereitwillig, dass ihre Nichte in einem Büro arbeitete. Sie berichtete auch, dass Irma ein Zimmer in Untermiete bewohne und von ihr
aufgezogen worden sei, da sie die Eltern früh verloren habe. Doch dann wurde Hanna plötzlich misstrauisch. Warum wollte der Arzt das alles wissen? War Irmas Zustand so ernst? »Ich habe meine Nichte gestern Nacht noch gesehen, Herr Doktor. Ihre Verletzungen sahen so harmlos aus«, meinte sie. Ängstlich forschend blickte sie den Arzt dabei an. »Die Verbrennungen der Haut sind harmlos, Frau Winter. Aber leider hat Ihre Nichte nicht nur Verbrennungen erlitten.« Er brach ab und senkte den Blick. Grenzenlose Angst erfasste die einfache Frau. Nicht nur Verbrennungen? Was denn noch? Sie wollte den Arzt fragen, doch sie brachte keinen Ton hervor. Da sprach der Arzt weiter. Sehr leise und bedauernd. Man spürte, dass ihm das Schicksal seiner Patientin zu Herzen ging. »Sie müssen jetzt sehr tapfer sein, Frau Winter. Was ich Ihnen zu sagen habe, wird Sie hart treffen.« Er hielt wieder inne, suchte nach den richtigen Worten. Hypnotisiert vor Angst und Schrecken starrte Hanna Winter auf den Arzt. Er brachte es fast nicht fertig, ihr die Wahrheit zu sagen. Doch er musste. »Die Augen Ihrer Nichte sind bei der Explosion verletzt worden …« »Nein!« Der Schrei war Hanna gegen ihren Willen entschlüpft. Jetzt sprang sie auf. Doch sie war sich dessen, was sie tat, nicht bewusst. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Herr Doktor. Ich bitte Sie!« Der Arzt wußte, dass diese Frau ihn um etwas bat, was er ihr nicht geben konnte. Ohnmacht prägte sich auf seinen Zügen. Wie gern hätte er ihr gesagt, dass seine Behauptung nicht stimmte. Dass es einfach nicht wahr war, dass diese Irma erblindet war. Doch es wäre eine Lüge gewesen. Und er durfte nicht lügen. Er musste der Besucherin die Wahrheit sagen. Denn Hanna Winter war die einzige Person, die sie Irma beibringen konnte. Einen so schweren Schicksalsschlag musste das Mädchen von einem vertrauten Menschen erfahren. »Ist sie … Kann meine Irma nicht mehr sehen?« Hanna Winter hatte sich wieder gesetzt. Wie ein Häufchen Unglück hockte sie vor dem Arzt. Er konnte nur nicken. Einen Moment lang war seine Kehle wie zugeschnürt. »Sie ist erblindet, Frau Winter. Doch wir hoffen, dass es nur vorübergehend ist.«
»Mein Gott!« Erst jetzt spürte Hanna Winter die warme Tränenspur auf ihren Wangen. Ihre Irma, ihr Ein und Alles, war erblindet. Warum gerade sie?, fragte sich die einfache Frau verzweifelt. Irma hatte niemandem etwas zuleide getan. Sie war immer anständig und gut gewesen. Und jetzt hatte sie ein so grausames Schicksal getroffen. »Kann … kann ich sie sehen?« Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht mehr. »Natürlich«, sagte der Arzt mitfühlend. Er erhob sich und begleitete Hanna Winter selbst zum Zimmer ihrer Nichte. Allein betrat Hanna Winter das Krankenzimmer. Als sie zum Bett des Mädchens trat, war sie der einsamste Mensch auf Erden. »Irma«, flüsterte sie. Das Mädchen öffnete die Augen. Mit leerem Blick starrte es zur Decke. Doch der Klang der Stimme zauberte ein kleines Lächeln auf seine Züge. »Tante Hanna!« Irma streckte die Hand aus und tastete in die Richtung, aus der die Stimme kam. Wunderschön waren Irmas Augen. Groß und tiefblau. Bei dem Gedanken, dass sie nun immer leer und ausdruckslos durch den Raum irren würden, stiegen Hanna Winter wieder die Tränen in die Augen. »Meine Irma!« Sie kämpfte schwer, um ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Das Mädchen ahnte noch nichts von seinem Schicksal. »Schön, dass du gekommen bist, Tante Hanna. Aber warum kommst du so früh?« »So früh?« Hanna verstand nicht sofort. »Ja, es ist doch noch nicht einmal hell. Oder haben sie die Jalousien nicht hochgezogen?« Da konnte sie unglückliche Frau sich nicht mehr beherrschen. Sie begann zu schluchzen. Misstrauisch horchte die Kranke auf. »Warum weinst du, Tante Hanna?« »Ich hatte solche Angst um dich, mein Kind.« »Aber warum denn? Ich bin doch noch einmal glücklich davongekommen. Jetzt
musst du keine Angst mehr haben.« Sie drückte die Hand ihrer Tante. O mein Gott, dachte Hanna Winter, ich kann es ihr nicht sagen. Ich kann einfach nicht … Doch Irma schien die Gedanken ihrer Tante zu ahnen. Sie wurde wieder misstrauisch. »Es ist doch noch finster draußen, Tante Hanna?« Hanna Winter konnte nicht antworten. »Tante?«, rief die Kranke alarmiert. »Bitte, antworte mir! Sind die Jalousien heruntergelassen?« »Nein.« Es war kaum ein Hauch. »Sie sind nicht heruntergelassen?« »Nein, mein Kind.« Hanna ergriff Irmas Hände. »Aber, aber … Dann ist es hell im Zimmer?« Es war ein verzweifelter Schrei. »Ja«, antwortete die Tante gebrochen. Tränen stürzten dem Mädchen in die schönen, erblindeten Augen. »Tante, ich kann nicht sehen!« Es war der hilflose Ruf einer verwundeten Kreatur. »Es wird vorübergehen, mein Kind.« »Nein, nein! Das sagst du nur, um mich zu trösten!« Irma richtete sich auf, sank aber gleich wieder schluchzend in die Kissen zurück. Hanna Winter weinte mit ihr. Es war der schrecklichste Augenblick ihres ganzen Lebens. Warum nur, warum? fragte sie sich immer wieder. Allmählich wurde Irma ruhiger. Doch der Ausdruck ihres schönen Gesichtes war erschreckend. Sie hatte in Sekunden alle Hoffnung und Freude am Leben verloren. Woran sollte eine Blinde sich noch erfreuen können? Tränen strömten ihr wieder über die Wangen. Ihre Mundwinkel zuckten unaufhörlich. Doch kein Laut drang mehr aus ihrer Kehle. Umso schrecklicher war dieses stumme Weinen anzusehen. Hätte man ihr selbst das Augenlicht genommen, es hätte
Hanna Winter nicht schmerzlicher treffen können. Sie schmiegte ihr Gesicht an die Wange der Kranken. Instinktiv tat sie das einzig Richtige. Ein Psychologe hätte ihr nichts Besseres raten können. Mit dieser opferbereiten, mütterlichen Geste gab sie ihrer Nichte zu verstehen, was auch immer geschehen mag, ich bin an deiner Seite. Ich bin für dich da. In ihrem grenzenlosen Leid war es ein winziger Trost für Irma. »Tante«, weinte sie leise. »Liebe Tante, was soll denn nun aus mir werden?« »Wir werden einen Weg finden, mein Kind. Wir müssen nur auf Gott vertrauen.« Der Glaube gab Hanna Winter in dieser schweren Stunde Kraft. »Du wirst zu mir kommen, Irma. Ich werde dich nie mehr allein lassen.« Es klang fast wie ein Schwur.
*
Noch am gleichen Abend stand Hanna Winter vor ihrer Herrin. Fassungslos starrte Friederike Göldner ihre Köchin an. Dann musste sie sich setzen. »Nein, Hanna, das kann nicht wahr sein. Es ist zu grausam.« Die Köchin konnte nur nicken. »Setzen Sie sich doch, Hanna. Bitte, setzen Sie sich.« Mit zitternden Fingern zog Friederike Göldner einen Sessel an ihre Seite. »Ist es auch ganz sicher, dass Irma erblindet ist? Vielleicht kann man sie operieren lassen.« Hanna Winter schilderte ihre Unterhaltung mit dem Arzt, der ihr wenig Hoffnung gelassen hatte. »Natürlich werden wir nichts unversucht lassen«, versprach ihr Friederike Göldner. Doch so recht glaubte auch sie nicht an eine Heilung. »Kann ich meine Nichte zu mir nehmen, Frau Göldner?«, fragte Hanna schüchtern. Ängstlich ruhte ihr Blick auf ihrer Herrin. »Ich meine hierher, in Ihr Haus?«
Selbstverständlich, wollte Friederike spontan antworten. Sie brauchte keine Sekunde über diese Entscheidung nachzudenken. Doch das Haus gehörte ihrem Sohn. Ob sie wollte oder nicht, sie musste dessen Zustimmung erbitten. »Von mir aus sofort, Hanna. Das wissen Sie ja. Aber ich muss vorher mit meinem Sohn sprechen.« Schrecken zeichnete sich in Hannas Blick ab. »Es ist sein Haus«, erinnerte Friederike die Köchin. »Aber ich spreche noch heute mit meinem Sohn.« »Danke, Frau Göldner. Vielen Dank.« »Danken Sie mir nicht, Hanna. Es ist zu wenig, was ich für Sie und Irma tun kann.« Friederike dachte an das hübsche blonde Mädchen, das sie so gut kannte. Wolfgang kannte Irma auch. Würde er erlauben, dass sie in sein Haus kam? Seit seinem Unfall hatte er sich entschieden dagegen gewehrt, außer seiner Mutter noch einen anderen Menschen in seinem Haus zu haben. Obwohl es schon spät war, ging Friederike noch zu ihm. Ein Lichtschein drang aus einem Arbeitszimmer. Sie klopfte an und wartete. »Ich bin es, Wolfgang.« Das Licht erlosch. »Komm herein, Mutter.« Als sie eintrat, erhellte nur noch eine abgewandte schwache Lampe den Raum notdürftig. Friederike konnte die Züge ihres Sohnes nicht erkennen. »Ich komme mit einem Problem zu dir«, entschuldigte sie sich. »Als ob ich nicht schon Probleme genug hätte!« Sie sah, wie sein zerstörter Mund zuckte. »Eigentlich ist es eine Bitte.« Und nun schilderte sie ihm Irmas Schicksal. Sie wählte dabei ergreifende Worte. Doch sie konnte sein Mitleid nicht erwecken. »Jeder muss mit seinem Schicksal fertig werden, Mutter. Auch diese Irma.« »Bedenke doch, sie ist blind, Wolfgang. Weißt du, wie hart das Schicksal eines Erblindeten ist? Eines Menschen, der die Welt vorher sehen konnte und plötzlich nicht mehr?«
Bei dieser Vorstellung stiegen ihr selbst Tränen in die Augen. Doch ihren Sohn rührte dieses harte Los nicht. Er saß da und hörte teilnahmslos zu. »Ich will keine fremden Menschen in meinem Haus haben«, sagte er schließlich. Friederike starrte ihn ungläubig an. »Soll das heißen, dass du Irma Winter nicht erlaubst, zu uns zu kommen?« »Schau mich nicht so entsetzt an«, erwiderte er abweisend. »Ich bin nicht schuld an dem Schicksal dieses Mädchens.« »Aber du könntest Irma helfen. Und ich denke, das ist die oberste Pflicht eines jeden guten Christen. Du hast die Möglichkeit, Irma das Leben ein wenig zu erleichtern. Und du weigerst dich.« Zum erstenmal sprach Friederike Göldner in diesem Ton mit ihrem Sohn. Bisher hatte sie ihn immer rücksichtsvoll und vorsichtig behandelt und alles vermieden, was ihn hätte verletzen können. Doch diese Hartherzigkeit verstand auch sie nicht mehr. Resigniert und unendlich traurig erhob sie sich schließlich. Welchen Zweck hatte es, noch weiter in ihn zu dringen? »Was in meiner Macht stand, habe ich getan?«, murmelte sie. »Gute Nacht, Wolfgang.« Friederike war schon an der Tür. Da hielt seine Stimme sie zurück. »Warte einen Augenblick.« Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, spürte sie den Kampf, den er mit sich ausfocht. »Meinetwegen soll sie kommen. Aber zu Hanna. Nicht zu mir. Ich möchte sie nicht sehen und erlaube auch nicht, dass sie diesen Flügel des Hauses betritt.« »Aber Wolfgang, sie kann doch nicht sehen«, erinnerte Friederike ihn. »Das ist mir gleich. Ich will niemanden sehen. Auch diese Irma nicht. Bitte, sorge dafür. Ich mache dich verantwortlich, wenn ich hier gestört werde.« »Du kannst dich darauf verlassen, dass es nicht geschehen wird«, versprach sie. Und leise fügte sie hinzu: »Vielen Dank.«
Doch davon wollte er nichts hören. »Gute Nacht, Mutter.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Leise verließ Friederike Göldner das Zimmer ihres Sohnes. Erschüttert erkannte sie, dass er zum Menschenfeind geworden war. Das hatten nur diese Gesichtsverletzungen bewirkt. Wie oft hatte sie ihm schon geraten, sich operieren zu lassen. Es gab so gute Gesichtschirurgen. Doch das lehnte er entschieden ab. Es sah fast so aus, als wollte er sich selbst quälen. Hanna erwartete ihre Herrin in der Küche. Mit großen bangen Augen blickte sie ihr entgegen. »Sie können Irma zu sich nehmen, Hanna.« Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Hanna vor Dankbarkeit auf die Knie fallen. Dann liefen ihr Tränen über die faltigen Wangen. »Ich bin Ihnen ja so dankbar«, stammelte sie. »Schon gut, Hanna. Fahren Sie noch in dieser Woche nach Nürnberg und holen Sie Ihre Nichte. Wenn die Verletzungen nur leicht sind, werden die Ärzte es erlauben.« »Ja, das will ich tun. Und … Der gnädige Herr hat nichts dagegen ?« »Nein.« Friederike senkte den Blick. »Er stellt nur die eine Bedingung, dass er in seinem Teil des Hauses ungestört bleibt. Das müssen Sie Irma erklären. Sie darf diesen Flügel nicht betreten.« »Natürlich«, meinte die Köchin eifrig. Sie war deshalb nicht beleidigt. »Irma wird ihn bestimmt nicht stören.« »Gut, dann soll Herr Huber Sie mit dem Wagen morgen oder übermorgen nach Nürnberg fahren.« Die Köchin nahm dieses Angebot dankbar an. Es wäre sicher schwierig gewesen, mit dem blinden Mädchen den Zug zu benutzen. »Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern schon morgen fahren«, meinte sie. »Aber selbstverständlich«, gestattete Friederike.
*
So fuhren die Köchin und der Hausmeister am nächsten Morgen los, um Irma zu holen. Die Entlassung aus dem Krankenhaus verlief schnell und ohne Schwierigkeiten. Irmas Sachen hatte Hanna zuvor schon aus dem möblierten Zimmer geholt. Dann saßen die beiden Frauen auf dem Rücksitz der großen, bequemen Limousine. Hanna hielt die Hand ihrer Nichte. Sie hatte ihr gerade von der Bedingung Wolfgang Göldners berichtet. »Du darfst ihm deshalb nicht böse sein, Irma«, fügte sie hinzu. »Das bin ich nicht. Ich kann jetzt verstehen, wie ihm zumute ist. Vielleicht hätten wir uns gegenseitig trösten können. Aber wenn er nicht will …« Irma brach entmutigt ab. Wieder überflutete sie eine Welle der Verzweiflung. Hatte das Leben denn überhaupt noch einen Sinn? Du musst kämpfen, hatte die Tante zu ihr gesagt. Ja, aber wofür? Gewaltsam hielt sie die aufsteigenden Tränen zurück. »Scheint draußen die Sonne, Tante?« »Nein, Irma. Es ist düster und verhangen. Und der Schnee sieht nicht mehr weiß, sondern grau aus.« Hanna bemühte sich, ihrer Stimme einen normalen und alltäglichen Klang zu geben. Irma musste sich daran gewöhnen, die Welt von nun an durch die Augen anderer zu sehen. Ergriffen lauschte der Hausmeister dem Gespräch der beiden Frauen. Als sie das Landhaus am See erreicht hatten, sprang er schnell aus dem Wagen und öffnete die Tür an Irmas Seite. Sie stellte zuerst einen Fuß in den Schnee. Dann tastete ihre Hand nach einem Halt. Der Hausmeister griff danach. Erschüttert stellte er fest, wie hilflos ein Mensch war, wenn er nicht sehen konnte. »Kommen Sie, wir bringen Sie zum Haus.« Hanna hakte ihre Nichte auf der anderen Seite unter. Auf unsicheren Beinen, Schritt für Schritt ertastend, kam Irma zum Haus. Dort stolperte sie über die
Stufe vor der Tür. Sie wäre gefallen, wenn der Hausmeister und die Tante sie nicht gehalten hätten. »Du wirst dich schnell eingewöhnen«, sagte Hanna. Sie wollte ihrer Nichte Mut machen. » auf, in ein paar Tagen bewegst du dich so sicher …« Sie biss sich auf die Lippen. ›… als ob du sehen könntest‹, hatte sie sagen wollen. Zu spät hatte sie begriffen, wie sehr diese Bemerkung Irma wehtun musste. Ein bitteres Lachen saß dem Mädchen in der Kehle. Was nützt mir diese Sicherheit, wenn ich doch nicht sehen kann, dachte es. »Kann ich gleich auf mein Zimmer gehen, Tante?« Die Verzweiflung überfiel Irma so schmerzhaft, dass sie allein sein wollte. Friederike Göldner wartete in der Halle. Sie sah den hilflosen, ganz und gar entmutigten Ausdruck auf Irmas Gesicht. Es presste ihr das Herz zusammen. Sie ist so jung, dachte sie, und so schön. Warum kann ein solcher Schlag nicht einen Menschen treffen, der das Leben schon hinter sich hat? Sie trat auf Irma zu. »Willkommen, Irma.« Mit warmer Herzlichkeit ergriff sie die Hand des Mädchens. Irma lauschte der Stimme nach. Ihr Tastsinn und auch ihr Gehör waren noch nicht so ausgeprägt, wie es bei Blinden zu sein pflegte. »Frau Göldner?«, fragte sie. »Ja, das bin ich.« Friederike nahm den Arm, den der Hausmeister freigegeben hatte. »Wir bringen dich gleich auf dein Zimmer, Irma. Ich freue mich, dass du bei uns sein wirst.« Da sie das Mädchen von klein auf kannte, duzte sie es natürlich. Irma war ihr dankbar dafür. Es gab ihr ein klein wenig das Gefühl, hier zu Hause zu sein. »Danke, dass ich zu Ihnen kommen darf«, sagte sie schlicht. Als Antwort drückte Friederike nur den Arm des Mädchens. Ganz langsam, wie ein Kind, das erst laufen lernen muss, stieg Irma die Treppe empor. Sie spürte ihre eigene Unbeholfenheit. Und das, obwohl ich geführt werde, überlegte sie. Wie soll es mir erst ergehen, wenn ich allein hinauf- und hinuntersteigen muss? Gewaltsam hielt sie die Tränen zurück.
Im Obergeschoß öffnete Friederike Göldner eine Tür. »Hier ist dein Zimmer, Irma. Es ist das gleiche, das du als Kind bewohnt hast.« Irma begann sich sofort an der Wand entlangzutasten. Doch sie war noch zu unsicher. Überall stieß sie an. Hilflos streckte sie die Arme nach der Tante aus. Hanna führte sie zum Bett. »Leg' dich hin, und ruh dich ein wenig aus. Du bist noch viel zu schwach für solche Experimente. Wenn du etwas brauchst, dann klingle einfach. Auf dem Nachtkästchen neben deinem Bett steht eine Glocke.« Die beiden Frauen verließen das Zimmer. Als Friederike ihrem Sohn an diesem Abend das Essen brachte, verharrte sie noch einen Augenblick in seinem Zimmer. »Irma ist heute gekommen.« Er antwortete nicht. Friederike wußte, dass er nichts davon hören wollte. Doch sie konnte nicht anders, sie musste einfach über Irmas ergreifendes Schicksal sprechen. Es sollte ihn aufrütteln, zum Nachdenken anregen. Nicht nur er hatte ein schweres Los. Es ging anderen genauso. Aber an diesem Abend verhielt Wolfgang sich noch unzugänglicher als sonst. Schließlich erfuhr Friederike auch, warum. Er schob ihr ein Papierstück über den Schreibtisch zu. Sein gezeichnetes Gesicht zuckte dabei. In dem schwachen Licht erkannte Friederike, dass es eine amtliche Urkunde war. »Was … Was ist es?« »Die Scheidung ist ausgesprochen.« Seine Stimme klang wie eingerostet. Jetzt verstand die Mutter. Und obwohl sie wußte, dass es für ihn besser war, von dieser Frau geschieden zu sein, sprach sie ihre Gedanken nicht aus. Es hätte ihm nur wehgetan. Unverständlicherweise hing er noch immer an Herta. »Das tut mir leid«, sagte sie leise. »Bitte, spar' dir dein Mitleid, Mutter«, entgegnete er scharf. »Und jetzt möchte ich gern allein sein.« Schweigend verließ Friederike das Zimmer. In solchen Augenblicken fragte sie sich, woher sie die Kraft nahm, das Leben an der Seite ihres verbitterten Sohnes
zu ertragen. Doch sie war eben eine Mutter. Und eine Mutter hält immer zu ihrem Kind. Mag dieses Kind auch noch so abweisend und verbittert und schon erwachsen sein. Friederike war erschöpft und müde. Aber sie ging noch einmal in die Küche, um sich bei Hanna nach Irma zu erkundigen. »Sie ist eingeschlafen«, berichtete die Köchin. Das Schicksal der beiden Kinder, wie Friederike Irma und Wolfgang bei sich nannte, hatte die beiden Frauen einander noch näher gebracht. Trotz ihrer Müdigkeit setzte sich Friederike noch zu Hanna in die Bauernecke der Küche. Hanna hatte Punsch gebraut, den sie nun schweigend tranken. Erst nach einer Weile begann Friederike zu sprechen. Sie erzählte der Köchin von der Scheidung ihres Sohnes. »Dieser Schritt hat ihn noch ablehnender in seinem Verhalten gemacht«, fügte sie hinzu. »Trotzdem glaube ich, dass es besser so ist«, meinte die Köchin vorsichtig. »Ganz bestimmt«, bestätigte Friederike. »Sie kennen ja meine Schwiegertochter. Sie hatte keinen guten Einfluss auf Wolfgang.« Sie schwieg einen Moment, dann fuhr sie fort: »Wenn er sich nur operieren lassen wollte! Doch er weigert sich entschieden, diesen Schritt zu tun. Dabei gibt es so ausgezeichnete Chirurgen. Ich bin überzeugt, sie könnten ihm helfen.« »Ich verstehe nicht, warum er es nicht wagt«, meinte die Köchin. Sie wollte ihrer Herrin ein weiteres Glas Punsch einschenken. Doch Friederike lehnte ab. »Für heute ist es genug, Hanna. Ich gehe zu Bett. Und Sie sollten auch endlich ruhen. Es war ein anstrengender Tag für Sie.« »Weiß Gott, das war es«, flüsterte die Köchin.
*
Der nächste Tag war eisig, aber sonnig und klar. Irma erwachte früh. Sie hatte einen schönen Traum gehabt und ihren Zustand fast vergessen. Doch beim Erwachen schlug sie die Augen auf und sah nichts. Sofort überfiel sie die Erinnerung wie zentnerschweres Blei. Bewegungslos blieb sie im Bett liegen. Sie versuchte zu beten. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Dann stand sie vorsichtig auf. Schritt für Schritt tastete sie sich durchs Zimmer. Sie musste sich erst wieder daran erinnern, wo die Möbel alle standen. Immer wieder stieß sie an. Dann stieß sie sogar eine Vase zu Boden. Sie hörte es jedenfalls klirren und wußte, dass Porzellan zerbrochen sein musste. Wie soll das nur weitergehen?, dachte sie hilflos. Ich werde mich nie an meinen Zustand gewöhnen. Auch das Anziehen und Waschen im Bad war für Irma ohne Hilfe ein Problem. Ihre Hände waren so ungeschickt, dass sie alles umstießen. Statt mit Zahnpasta putzte sie sich die Zähne mit Hautcreme, und statt mit Mundwasser gurgelte sie mit Gesichtswasser. Würgend spuckte sie es wieder aus. »O mein Gott!« Niedergeschlagen stützte sie sich auf das Waschbecken. Was nun? So fand ihre Tante sie. »Aber Irma, ich wußte nicht, dass du schon wach bist. Warum hast du nicht geklingelt? Ich schlafe neben dir und hätte es bestimmt gehört.« »Ach, Tante, ich muss mich doch daran gewöhnen, allein fertig zu werden.« Ihre Stimme schwankte bedenklich. »Ich habe eine Vase zerschlagen.« »Und wenn schon. So schlimm ist das nun auch wieder nicht.« Ohne viel zu reden half Hanna ihrer Nichte beim Waschen und Anziehen. Mit ihrer Hilfe ging alles schnell und ohne Schwierigkeiten. »Und jetzt gehen wir nach unten und frühstücken.« Am Arm ihrer Tante stieg Irma langsam die Treppe hinunter. Es ging noch nicht sehr gut. »Es wird schon werden«, tröstete Hanna sie. »Du musst nur ein bisschen Geduld haben.« Während ihre Tante das Frühstück zubereitete, stand Irma am offenen Küchenfenster und spähte in den frostklaren Tag hinaus.
»Erkälte dich nicht«, mahnte Hanna. »Nein, nein, ein bisschen frische Luft wird mir guttun. Ich versuche herauszufinden, was für ein Tag es ist. Es ist sehr kalt. Aber ich glaube, die Sonne scheint?« »Richtig«, freute sich Hanna. »Wie hast du es erraten?« »In der kalten Luft spüre ich ein warmes Fleckchen auf meiner Hand. Scheint die Sonne hierher?« Hanna trat zu ihrer Nichte. »Ja. Genau auf deinen Handrücken fällt ein Sonnenstrahl.« Sie freute sich für ihre Nichte. »Siehst du, wie rasch du lernst.« Doch um Irmas schön geschwungenen Mund spielte ein bitterer Zug. Was für ein Leben soll das werden?, dachte sie. Und plötzlich sehnte sie sich geradezu schmerzhaft danach, mit jemandem, dem es ähnlich erging wie ihr, über ihr Schicksal zu sprechen. Das war Wolfgang Göldner. Wir müssten einander doch verstehen, dachte sie. Wir sind beide vom Schicksal geschlagen. Wir könnten uns am besten gegenseitig trösten. »Ich möchte mich gern einmal mit Herrn Göldner unterhalten«, sagte sie zu ihrer Tante. In diesem Moment betrat Friederike die Küche. Sie hatte Irmas letzte Worte gehört. »Das geht nicht, Irma«, platzte sie heraus. Irma fuhr erschrocken herum. »Frau Göldner?« »Ja, mein Kind. Guten Morgen.« Sie nickte auch der Köchin zu. Irma senkte die schönen leeren Augen. Eine Träne schimmerte an den dunklen geschwungenen Wimpern. »Ich weiß, er will es nicht. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Schwierigkeiten bereite«, bat sie leise. Sofort war Friederike an ihrer Seite und legte mütterlich den Arm um ihre Schultern. »Nicht doch! Ich finde ja selbst, dass es richtig wäre, wenn ihr einmal miteinander sprechen würdet. Aber er will nicht. Keinen Menschen will er in seiner Nähe dulden.« Friederike schloss das Fenster. »Du erkältest dich sonst.« Dann führte sie Irma ins Wohnzimmer zum gedeckten Frühstückstisch. »Komm, setz' dich neben mich.« Sie goss ihr Kaffee ein und richtete ihr die Brote. Gerührt sah es Hanna, als sie das Wohnzimmer betrat.
»Weißt du was, Irma? Ich werde noch einmal mit meinem Sohn sprechen. Vielleicht kann ich ihn überzeugen. Ich glaube wirklich, ihr könntet euch gegenseitig das Leben erleichtern.« Sie schaute das schöne blinde Mädchen sinnend an. Irma tastete nach der Hand Friederike Göldners. »Danke.«
*
Friederike sprach mit ihrem Sohn, als sie ihm das Mittagessen brachte. »Irma möchte gern einmal mit dir sprechen, Wolfgang. Sie ist so unglücklich. Sie glaubt, ein wenig Trost bei dir zu finden.« Er lachte bitter auf. Es klang zynisch. Als er seine Mutter anschaute, fiel durch einen Spalt der Jalousie das Licht direkt auf sein Gesicht. Doch Friederike zuckte trotz der entstellenden Hässlichkeit nicht zusammen. Aber sie stellte fest, dass der Hass nun auch in seinen Augen war. Nicht nur in seinen verwüsteten Zügen. Diese äußere Verletzung zerstört noch seine ganze Seele, dachte sie erschrocken. »Bitte, gestatte Irma, einmal zu dir zu kommen«, bat sie demütig. »Nein!« Das war endgültig. Friederike spürte es und ging. Es tat ihr selbst weh, dem Mädchen diese Antwort überbringen zu müssen. »Er will nicht, Irma. Er lehnt es ab, irgendeinen Menschen zu sehen.« »Wie einsam muss er sein«, sagte Irma leise. Sie konnte es ihm nachfühlen. Denn sie war ja selbst genauso einsam. Friederike erzählte dem Mädchen in einer ruhigen Stunde am Nachmittag von der Scheidung ihres Sohnes. Die Vorgeschichte kannte Irma ja bereits. Sie erkundigte sich bei Friederike noch nach ein paar Einzelheiten, die ihr unklar waren. Bereitwillig gab Friederike ihr Auskunft. Es tat ihr selbst gut, sich den ganzen Kummer einmal von der Seele zu reden.
»Ich kann Ihren Sohn verstehen«, erklärte Irma, als Friederike geendet hatte. Überrascht schaute die lebenserfahrene Frau auf. Diese Antwort hatte sie nicht erwartet. Nicht von einem Mädchen, das selbst so viel Leid erdulden musste. »Eines Tages wird Gott dich für all deine Demut und Geduld belohnen.« Friederike wußte selbst nicht, warum sie das sagte. Fast war es, als habe ihr jemand diese Worte eingegeben. Am Abend, als Irma in ihrem Zimmer war, faltete sie die Hände. Doch sie betete nicht für sich. Sie betete für Wolfgang Göldner. Es war erst neun Uhr. Im Zimmer brannte Licht. Irma trug bereits das Nachthemd und darüber einen Hausmantel. Bevor sie zu Bett ging, öffnete sie noch einmal das Fenster. Eine frostklare Winterluft drang zu ihr ins Zimmer. Sie schlug den Hausmantel über der Brust zusammen, doch sie schloss das Fenster nicht. Vielleicht hätte sie es getan, wenn sie geahnt hätte, dass sie beobachtet wurde. Wolfgang Göldner stand am Fenster seines Arbeitszimmers und spähte in die Nacht hinaus. Er konnte sehen, doch er wollte nicht gesehen werden. Deshalb brannte in seinem Zimmer kein Licht. Niemand wußte, dass er dort am Fenster stand. Einsam und allein. Aber er konnte Irma sehen. Überrascht zuckte er zusammen, als er die feingliedrige Gestalt mit den langen blonden Locken am Fenster auftauchen sah. Seine erste Reaktion war, sich zurückzuziehen. Doch dann fiel ihm ein, dass er im Dunkeln stand und Irma ja nicht sehen konnte. Also blieb er stehen und betrachtete sie unverwandt. Er konnte ihre Züge nicht genau erkennen. Nur das lange, goldglänzende Haar. Sie konnte noch nicht älter als fünfundzwanzig sein. Und nun war sie blind. Das Schicksal war mit ihr genauso grausam verfahren wie mit ihm selbst. Als Wolfgang Göldner einen Hauch von Mitleid in sich aufsteigen spürte, wandte er sich abrupt vom Fenster ab. Wer hatte mit ihm Mitleid? Niemand! Nicht einmal seine eigene Frau. Als das Leben an seiner Seite nicht mehr angenehm gewesen war, hatte sie sich einfach scheiden lassen. So bequem machten es sich die Frauen heutzutage. »Sie sind alle gleich«, murmelte er und wollte das Fenster schließen. Doch zuvor warf er noch einen letzten Blick auf die zarte unbewegliche Gestalt in dem hellen Fensterviereck. Wie ein Rauschgoldengel stand sie dort. Sie wird sich erkälten, dachte er unwillkürlich.
Doch schon im nächsten Moment wandte er sich ab und schloss das Fenster. Was geht es mich an, dachte er. Sie muss selbst mit ihrem Los fertig werden. Wolfgang Göldner wandte sich wieder seiner Arbeit und seinen Büchern zu. Es war die einzige Unterhaltung, die ihm die langen Winterabende und Nächte verkürzte. Als er ein paar alte Akten suchte, fiel ihm ein Bild seiner Kinder in die Hände. Kai versuchte auf diesem Foto die Schnürsenkel seiner Turnschuhe zu binden, was ihm offensichtlich Schwierigkeiten bereitete. Katja sah ihm dabei zu. Sie saß auf den Knien. Beide waren sehr intensiv mit sich selbst beschäftigt. Wolfgang selbst hatte das Bild seinerzeit aufgenommen. Er erinnerte sich auch, dass die beiden gar nicht gemerkt hatten, dass er sie geknipst hatte. Sein hässliches, zerstörtes Gesicht zuckte. Sekundenlang sah es so aus, als würde er die Beherrschung verlieren und weinen. Doch es kam nicht soweit. Aber er zerriss das Bild. Dann begann er verbissen zu schreiben. Anweisungen für seinen Direktor. Es wurde zwei Uhr, bevor er sich in dieser Nacht zu Bett legte. Zuvor öffnete er noch einmal das Fenster, um frische Luft einzulassen. Da entdeckte er, dass in Irmas Zimmer noch immer Licht brannte. Hatte sie vergessen, es zu löschen? Oder konnte sie auch nicht schlafen? Aber was tat sie die ganze Nacht? Sie konnte doch nicht lesen. Es ärgerte Wolfgang, dass er sich über dieses Mädchen so viele Gedanken machte. Und da er vor Ärger nicht schlafen konnte, beschloss er, noch einen Spaziergang zu machen. Jetzt konnte ihm ja keiner begegnen. Bei Tageslicht hätte er das Haus nie und nimmer verlassen. Er zog seinen dicken Wintermantel an und verließ das Haus. Der gefrorene Schnee knirschte unter seinen Füßen. Es war eine sternhelle Nacht. Beißend schlug die kalte Luft ihm ins Gesicht. Er schlug den Mantelkragen hoch. Und während er ging, musste er schon wieder an Irma denken, die ja eigentlich in seinem Haus aufgewachsen war. Fast wie eine Schwester. Sie hatten sich immer geduzt, obwohl er neun oder zehn Jahre älter war als sie. Aber was bedeuteten schon zehn Jahre? Er überflog die Jahre seiner Ehe. Acht Jahre. War Herta ihm eine gute Frau gewesen? Er bemühte sich, objektiv zu urteilen. Sie hatte immer Wert auf Luxus und auf ein bequemes Leben gelegt. Und all das hatte er ihr bieten können. Ein Gedanke durchzuckte ihn, der ihm bisher noch nie
gekommen war. Hatte Herta ihn vielleicht nur wegen seines Geldes geheiratet? Unwillkürlich blieb er stehen. Sie ist auch jetzt noch eine reiche Frau, dachte er. Schließlich hat sie von mir eine großzügige Abfindung bekommen. Doch dann ging er weiter und beschleunigte seinen Schritt. Das alles war ja nun gleichgültig. Ich will nicht mehr daran denken, nahm er sich vor und kehrte endlich in das Haus zurück.
*
Am nächsten Morgen erwachte Irma spät und mit Kopfschmerzen. Eigenartigerweise wanderten ihre Gedanken an diesem Vormittag immer wieder zu Wolfgang Göldner. Wie erträgt er die Einsamkeit?, fragte sie sich. Warum nur weigert er sich, mich zu sehen? Mit mir zu sprechen? Bis zum Mittagessen kam Irma von dieser Frage nicht los. Man kann sich doch nicht so gegen seine Umwelt abkapseln, sagte sie sich. Vielleicht sollte man ihn gar nicht erst fragen, sondern ihn zu einer Unterhaltung zwingen? Ihn einfach vor die Tatsache stellen? Dieser Gedanke gefiel ihr. Ich werde heute Nachmittag heimlich zu ihm gehen, beschloss sie. Ich will ihm ja nur helfen. Bestimmt kann uns ein Gespräch sehr viel geben, denn wir leben ja beide außerhalb der normalen Gesellschaft. Wir sind beide Außenseiter und unglücklich. Wir müssen ganz einfach zusammenhalten. Doch als Irma nach dem Mittagessen den Weg zu seinen Räumen suchte, fühlte sie sich doch ein wenig bang. Rasch rief sie sich noch einmal die Lage des Hauses ins Gedächtnis zurück. Sie wußte, der linke Flügel, den Wolfgang ganz für sich allein bewohnte, lag ihrem Zimmer genau gegenüber. Irma verließ die Wohnhalle und schloss leise die Tür hinter sich. Im Haus war es sehr still. Der Hausmeister war weggefahren. Tante Hanna begleitete ihn, um Einkäufe zu machen. Also war nur noch Friederike Göldner im Haus.
Schritt für Schritt tastete Irma sich durch das Haus. Das muss der Gang mit den hübschen alten Bauernmöbeln sein, überlegte sie. Ihre Finger huschten über eine geschnitzte Truhe. Sie konnte sich an das wertvolle Stück gut erinnern. Schon früher hatte sie diese Möbel immer bewundert. Als der Gang vor zwei Türen endete, wußte Irma nicht mehr, wohin die Türen führten. Krampfhaft versuchte sie, sich zu erinnern. Doch es gelang ihr nicht. Da öffnete sie aufs Geratewohl eine Tür und befand sich wieder in einem Gang. Hier war die Orientierung für sie schon schwieriger. Also schritt sie einfach in der Mitte des Ganges weiter. Doch der Gang machte plötzlich eine Biegung. Das hatte Irma nicht einkalkuliert. Schmerzhaft schrie sie auf. Ihr Kopf war gegen die spitze Kante eines Schrankes gestoßen. Sie taumelte. Doch während sie fiel, spürte sie zwei starke Arme, die sie auffingen. Wolfgang Göldner hatte den Schrei gehört. Erschrocken war er aufgesprungen und zur Tür gelaufen. Als er das taumelnde Mädchen gesehen hatte, war er sofort an Irmas Seite geeilt. Nun stand er da und hielt Irma auf den Armen. Sie war ohnmächtig geworden. Plötzlich entdeckte er eine breite Blutspur an ihrer Schläfe. Dunkelrot sickerte das Blut aus der Wunde. Jetzt lief es schon an Irmas Hals hinab. Angst erfasste ihn. Wenn sie nun … Schnell brachte er Irma in sein Zimmer und bettete sie vorsichtig auf die Couch. Dann lief er aufgeregt in die große Wohnhalle im Haupttrakt. »Mutter! Mutter, wo bist du?« Es war ihm in diesem Moment gleichgültig, ob er gesehen wurde oder nicht. Er dachte nur an das verletzte Mädchen. Friederike Göldner glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Das war doch Wolfgangs Stimme. Sie kam aus ihrem Zimmer. Tatsächlich! Da stand er mitten in der hellen Wohnhalle. »Bitte, komm mit«, bat er aufgeregt. »Was ist denn geschehen?« »Irma!« Er hastete schon wieder voraus in seine Räume. »Was ist mit Irma?«, rief die Mutter ihm angstvoll nach.
»Sie hat sich verletzt. An dem Schrank vor meiner Tür. Auf dem Weg zu mir muss sie an den Schrank gestoßen sein.« Er erklärte das ohne Groll. Friederike konnte ihr Staunen kaum verbergen. Irma war also heimlich zu Wolfgang gegangen. Und er war nicht einmal böse darüber. Dann standen sie vor dem bewusstlosen Mädchen. Friederike sah das Blut und erschrak. »Du musst sofort den Arzt anrufen, Wolfgang. Sie hat sich ja an der Schläfe verletzt. Bitte, beeil’ dich, Wolfgang. Mit einer Wunde an der Schläfe ist nicht zu spaßen.« »Ich finde die Nummer des Arztes nicht. Ah, hier ist sie ja!« Er wählte mit zitternden Fingern und erreichte den Arzt sofort. »Er kommt in fünf Minuten«, berichtete er. Tatsächlich erschien der Arzt einige Minuten später. Er untersuchte die Wunde und verband sie. »Ist … Ist die Verletzung ernst, Herr Doktor?« Wolfgangs Stimme zitterte. »Nein, Frau Winter hat noch einmal Glück gehabt. Ein paar Millimeter weiter nach links …« Der Arzt vollendete den Satz nicht, denn Irma schlug in diesem Moment die Augen auf. Erschrocken tastete sie um sich. »Wo bin ich?« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Friederike ergriff Irmas Hände und redete beruhigend auf sie ein. »Du bist in Wolfgangs Zimmer, mein Kind. Auf dem Weg hierher hast du dich am Kopf verletzt. Der Arzt hat dich verbunden. Bleib' noch ein paar Minuten ruhig liegen.« Jetzt konnte Irma sich wieder erinnern. Der Gang und der Schrank … Sie tastete nach der pochenden Schläfe. Ihre Finger fanden den Verband. »Oh! Ich … Ich bitte um Entschuldigung«, stotterte sie. »Aber wofür denn?«, fragte Friederike tröstend. Noch immer fürchtete sie, ihr Sohn könnte ungehalten werden. Beinahe beschützend saß sie neben dem Mädchen.
Auch Irma hatte Angst vor Wolfgangs Zorn. »Ich habe mich sehr ungehörig benommen«, sagte sie in die Richtung, in der sie Wolfgang vermutete. »Es … Es wird nie wieder vorkommen.« »Das hoffe ich«, entgegnete er. Doch seine Stimme klang fast heiter. »Wenn du in Zukunft durch Gänge gehst, die du nicht mehr kennst, dann lass dich von Mama oder von mir begleiten.« Erstaunt, ja beinahe erschrocken schaute Friederike zu ihrem Sohn auf. War das noch der Menschenfeind? Der ablehnende Ausdruck war aus seinen Augen verschwunden. »Soll ich Irma mitnehmen?«, fragte sie zaghaft. »Ich muss zurück in die Küche. Hanna ist nicht da.« »Der Arzt meint, sie soll mindestens eine Stunde liegen, bevor sie wieder aufsteht«, erinnerte Wolfgang seine Mutter. »Aber ich kann doch nicht hier liegenbleiben und Sie bei Ihrer Arbeit stören.« Irma wollte sich erheben, doch Wolfgang drückte sie sanft auf die Couch zurück. »Du bleibst liegen«, befahl er. »Und außerdem … Seit wann sagen wir Sie zueinander? Haben wir uns nicht von klein auf geduzt? Und sogar im Sandkasten miteinander gespielt?« Zum erstenmal huschte ein Lächeln über Irmas Gesicht. »Miteinander gespielt haben wir nicht. Aber du hast mich immer beschützt, wenn mich jemand verprügeln wollte.« Erstaunt hatte Friederike diese Unterhaltung verfolgt. Jetzt erhob sie sich rasch. »Ich muss gehen.« Sie wußte, hier war sie überflüssig. Die beiden verstanden sich ausgezeichnet. Kopfschüttelnd und noch immer verwundert kehrte sie zurück in die Küche. In seinem Zimmer zog Wolfgang einen Stuhl neben die Couch und leistete Irma Gesellschaft. »Weißt du noch, dass ich dich einmal aus dem See zog, als du hineingefallen warst?«, fragte er. Jetzt musste sie wirklich lachen. Es war das erste Lachen seit ihrem Unfall. Aber auch Wolfgang amüsierte sich bei der Erinnerung an den Vorfall, der damals eine kleine Katastrophe gewesen war. »Du sahst aus wie ein nasser junger Hund«, meinte er lachend. »Und du hattest furchtbare Angst, nach Hause zu gehen.«
Irma stimmte in sein Lachen ein. Friederike Göldner, die sich noch nicht allzu weit entfernt hatte, verhielt erstaunt den Schritt und lauschte. Tatsächlich! Die beiden lachten aus vollem Hals. »Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich Wolfgang nach einer Weile besorgt. »Schon ein wenig besser?« »O ja. Aber ich halte dich von deiner Arbeit ab.« Er lachte trocken auf. »Meine Arbeit läuft mir nicht davon. Sie ist ja das einzige, womit ich mich beschäftige.« Bei seinem bitteren Ton zuckte Irma zusammen. »Wenn … Wenn ich dir nicht zur Last falle, würde ich dich gern öfter besuchen«, meinte sie zaghaft. »Du fällst mir nicht zur Last. Im Gegenteil. Außerdem scheint es nur gut zu sein, wenn sich jemand um dich kümmert.« Sie hörte am Klang seiner Stimme, dass ihm die Rolle des Beschützers, in die er gedrängt worden war, Spaß machte. Und das stimmte auch. Verwundert horchte er in sich hinein. Aber da war kein Groll mehr gegen Irma. Er fühlte sich wie ein großer Bruder, der für seine kleine Schwester verantwortlich war. »Schon als kleines Mädchen musste man dauernd auf dich achtgeben«, erinnerte er sich schmunzelnd. »Immer bestand die Gefahr, dass dir etwas iert.« »Wirklich? Ich erinnere mich gar nicht mehr so genau.« »O doch! Entweder wurdest du von älteren Jungen verprügelt …« »Dann hast du mich beschützt«, unterbrach sie ihn. Er nickte lachend. »Ja, oder du bist in den See gefallen oder in einen Nagel getreten.« »Oder ich habe mich geschnitten oder gestoßen«, fuhr sie fort. Wieder mussten sie beide lachen. »Du warst tatsächlich ein kleiner Wildfang, Irma!« Er schaute sie nachdenklich
an. »Und jetzt bist du so schön geworden.« Er biss sich auf die Zunge. Diese Bemerkung war ihm entschlüpft, ohne dass er es eigentlich gewollt hatte. Irma errötete. »Findest du?«, fragte sie. »Ja, hat dir das noch niemand gesagt?« »Nein, noch niemand.« Ihre Züge verschlossen sich, und er ließ das Thema fallen. Es war ihm ohnehin ein wenig peinlich. Er hatte es verlernt, einer Frau Artigkeiten zu sagen. Doch schön war Irma wirklich. Das war nun mal eine Tatsache. Es wunderte ihn, dass sie nicht einen ganzen Schwarm von Verehrern um sich hatte, wie es bei Herta der Fall gewesen war, als er sie kennengelernt hatte. Aber zwischen den beiden Frauen bestand eben ein himmelweiter Unterschied. Irma war viel zu zurückhaltend, um eine Schar von Verehrern hinter sich her zu ziehen. Sie war ein stilles und bescheidenes Mädchen. Aber ihre Art gefiel ihm sehr. »Gehst du nie hinaus, ich meine spazieren?«, fragte sie leise. »Doch. Nachts.« Nun wandte sie den Kopf, obwohl sie ihn nicht sehen konnte. »Nachts«, murmelte sie. »Ich würde auch gern spazieren gehen. Aber ohne Begleitung kann ich das nicht. Und Tante Hanna hat so selten Zeit.« »Wenn es dich nicht stört, dass ich erst so spät hinausgehe, dann nehme ich dich gern mit.« »Es würde mich überhaupt nicht stören. Ich kann ohnehin nicht schlafen.« »Ja, das kenne ich. Ich habe dich neulich nachts am Fenster stehen sehen. Oder war es heute Nacht?« »Es war heute Nacht. Ich bin erst sehr spät eingeschlafen.« Mitfühlend tastete er nach ihrer Hand. Doch kurz bevor er sie erreichte, hielt er inne und zog seine Finger zurück. Irma hatte die Bewegung gespürt. »Ich glaube, jetzt kann ich wieder gehen.« Sie
stand vorsichtig auf. »Geht es wirklich?« Sie schwankte einen Moment. Schnell stützte er sie. »Ich begleite dich bis zur Wohnhalle.« Irma wollte ablehnen. Doch dann war sie dankbar, seinen stützenden Arm zu spüren. Er begleitete sie bis zur Wohnzimmertür. »Von hier ab musst du allein gehen.« »Natürlich, hier finde ich mich ja zurecht.« »Wann besuchst du mich wieder?«, fragte er, bevor sie die Tür öffnete. Erfreut hob sie den Kopf. »Sobald du willst, Wolfgang.« »Morgen? Vielleicht am Nachmittag?« »Gut, also morgen Nachmittag. Tschüs!« »Mach's gut, Irma.« Er wählte automatisch die gleichen Worte, die sie früher immer gebraucht hatten. Beschwingt kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück. An diesem Nachmittag verzichtete er sogar darauf, sein Zimmer zu verdunkeln. Er arbeitete bei hellem Tageslicht.
*
Der nächste Tag brachte ein dichtes Schneetreiben. Ein feuchter Wind klatschte die Flocken gegen die Fensterscheiben. Es war so düster im Haus, dass man schon am Nachmittag Licht brennen musste. Nachdenklich stand Wolfgang Göldner am Fenster, als es klopfte. Ein wenig zu schnell drehte er sich um. »Herein!« Er kam zur Tür und öffnete sie. »Irma!
Komm, tritt ein. Was bringst du denn da?« »Bratäpfel! Ganz frisch aus dem Ofen.« »Hm, die duften ja ganz verführerisch. Aber da brauchen wir etwas dazu. Kaffee oder … vielleicht Punsch?« »Erraten«, sagte in diesem Moment Friederike an der Tür. »Hier ist der Punsch.« Sie brachte ein Tablett mit dem dampfenden, aromatischen Getränk. Wolfgang sog den Duft ein und verdrehte die Augen. »Wunderbar. Das ist mein erster Punsch in diesem Jahr.« Friederike hatte ihm schon öfter angeboten, Punsch zu bringen. Doch bisher hatte er jedes Mal abgelehnt. Aber daran erinnerte sie ihn jetzt nicht. Sie stellte die Gläser und Teller schnell auf den Tisch. »Kommt ihr zurecht?« Länger als unbedingt notwendig wollte sie die jungen Leute nicht stören. »Aber ja, Mutter. Danke.« Wolfgang nahm Irma bei der Hand. »Komm, setz' dich hierher.« Dann bediente er sie. Er schenkte ihr Punsch ein und schob ihr den Teller mit einem Bratapfel in die Hand. Es störte Irma, dass sie sich so bedienen lassen musste. Doch als sie ihm das sagte, zerstreute er ihre Bedenken schnell. »Ich tue es gern«, sagte er fröhlich. Und sie hörte am Klang seiner Stimme, dass er die Wahrheit sprach. Während es draußen stürmte und schneite und immer düsterer wurde, saßen die beiden im warmen Zimmer. Genüsslich verspeisten sie die duftenden Bratäpfel. »Ist es finster im Zimmer?«, fragte Irma und versuchte, sich die Stimmung im Zimmer vorzustellen. »Ja, es wird allmählich dunkel. Weißt du was? Ich zünde eine Kerze an und lese dir etwas vor. Einverstanden?« Ihre Augen begannen zu strahlen. »Das wäre schön.« Es quälte sie nämlich besonders, dass sie nicht lesen konnte. Doch sie hatte es bisher nicht gewagt, jemanden zu bitten, ihr etwas vorzulesen. Wolfgang Göldner versank in den Blick der schönen Augen, die ihn nicht
wahrnahmen. Ist das Schicksal mit Irma nicht grausamer verfahren als mit mir?, fragte er sich in diesem Augenblick. Sie ist so jung und schön, aber blind. Ich selbst habe einen Teil meines Lebens schon hinter mir. Ich habe die Liebe kennengelernt, die Ehe und – ja, auch die Enttäuschung einer Liebe. Doch mir bleibt immer noch der Trost, die Schönheiten dieser Welt wenigstens sehen zu können. Aber was bleibt ihr? Wolfgang empfand in diesem Moment so starkes Mitleid mit Irma, dass er sie am liebsten in die Arme geschlossen und wie ein ganz kleines Mädchen getröstet hätte. Doch das wagte er nicht. Dafür schob er ihr nur ein Kissen in den Rücken, damit sie bequemer saß. »Gut, so?« Sie lächelte strahlend in die Richtung seiner Stimme. »Ja, danke. Du verwöhnst mich, Wolfgang.« »Du bist die einzige Person, die ich verwöhnen kann.« Das war doppelsinnig gemeint. Einerseits war Irma der einzige Mensch, der in seiner Nähe weilte und Hilfe brauchte. Zum anderen aber konnte sie ihn nicht sehen und durfte nur deshalb in seine Nähe kommen. »Ich lese dir zuerst ein Gedicht von Eichendorff vor. Er hat so schöne Gedichte geschrieben. Voller Romantik und Poesie.« Mit seiner vollen, wohltönenden Stimme begann er zu lesen. Irma lauschte hingegeben. Sie versank ganz und gar in der Romantik, die die einfachen Worte hervorzauberten. »Wie wunderschön«, hauchte sie, als er geendet hatte. »Könntest du … Würdest du es noch einmal lesen?« Sie errötete leicht. Erfreut nahm er das Buch noch einmal zur Hand. Auch er liebte dieses Gedicht ganz besonders. Die zarten Worte rührten an sein empfindsames Gemüt, das er unter einer rauhen Schale zu verbergen suchte. Als es zu dunkel wurde und der Schein der Kerze nicht mehr ausreichte, legte Wolfgang das Buch beiseite. Er wollte kein Licht anzünden, um den Zauber dieser Stunde nicht zu entweihen. So saßen die beiden schweigend da und lauschten dem leisen Geräusch, mit dem die Schneeflocken gegen die Fensterscheiben taumelten.
»Denkst du manchmal an Katja und Kai?«, erklang plötzlich Irmas Frage in die Stille hinein. Er zuckte leicht zusammen. Erst nach einer Weile bekannte er: »Meine Gedanken wandern oft zu ihnen. Aber ich schiebe die Erinnerung jedes Mal gewaltsam wieder beiseite.« »Das ist nicht richtig!«, rief Irma aus. »Die beiden waren immer so anhänglich und drollig.« Ja, und manchmal waren sie auch bockig wie ihre Mutter, dachte er. Doch er zwang sich, gerecht zu denken. Schließlich konnten die Kinder nichts dafür, dass sie so eine Mutter hatten. Er selbst hatte Herta ja geheiratet. »Du weißt, wo Katja und Kai sind?«, fragte er. Irma nickte. »Tante Hanna hat es mir erzählt.« »Ich hoffe, sie fühlen sich wohl in diesem Heim.« »Ein Heim ist ein Heim, Wolfgang. Es kann niemals das Zuhause ersetzen.« »Was wäre das hier schon für ein Zuhause für sie? Ein entstellter, verbitterter Vater, der seine Umwelt meidet?« Irma schwieg, Was sollte sie dazu sagen? Es bedurfte mehr als nur Worte, um Wolfgang zu überzeugen, um einen normalen Menschen aus ihm zu machen. »Ich weiß ja nicht, wie du aussiehst, Wolfgang. Aber warum gehst du nicht zu einem Gesichtschirurgen?« Ganz, ganz zaghaft und leise hat sie diese Frage gestellt. »Du meinst einen Schönheitschirurgen«, sagte er bitter. »Es ist doch egal, wie er sich nennt. Hauptsache, er kann dir helfen.« »Und wenn er es nicht kann?« »Er kann es bestimmt. Ich bin überzeugt davon«, erklärte sie fest. »Woher nimmst du diese Sicherheit, Irma?«
»Manche Dinge weiß man einfach. Man spürt sie, fühlt sie. Es ist, als sei man mit diesem Wissen geboren.« Man sollte nicht glauben, dass eine Fünfundzwanzigjährige solche Worte sagt, dachte er. Doch er ließ dieses Thema fallen. Es war ihm zu unangenehm. Und Irma war viel zu klug und zu vorsichtig, um in diesem Augenblick noch tiefer in ihn zu dringen. »Weißt du, dass ich jetzt schon den ganzen Nachmittag bei dir sitze?«, fragte sie plötzlich mit einem entschuldigenden kleinen Lachen. »Es ist doch bestimmt schon Abend?« Er blickte auf die Uhr. »Tatsächlich! Wie doch die Zeit vergangen ist! Bestimmt wundert sich Mutter schon, worüber wir die ganze Zeit sprechen. Ich werde dich zurückbringen.« Sie wehrte schnell ab, da sie wußte, wie ungern er den anderen Teil des Hauses betrat. »Nein, lass nur, Wolfgang. Ich muss ja lernen, mich allein zu bewegen. Wenn du mich immer begleitest, hilfst du mir nicht, Ich muss es allein schaffen.« »Kluges Mädchen«, meinte er. Dann trat er mit ihr auf den Korridor. »Gib acht auf den Schrank.« »Ja. Gute Nacht, Wolfgang.« »Wann kommst du wieder?« Er ahnte nicht, wie sehr sie sich über diese Frage freute. »Morgen?« »Ja, komm morgen Nachmittag wieder. Nein, halt, das geht nicht. Morgen Nachmittag muss ich den Direktor meiner Fabrik empfangen. Wie wär's mit morgen Abend? Ich könnte dir wieder vorlesen.« »O ja, gern. Dann bis morgen Abend. Tschüs!« »Mach's gut.« Vorsichtig, Schritt für Schritt, tastete sie sich in die Wohnhalle im Haupttrakt zurück. Hanna trug gerade das Abendessen auf. »Komme ich zu spät, Tante?«
»Keineswegs«, antwortete Friederike. Sie saß mit einer Häkelarbeit am Fenster. Irmas rosige Wangen sagten ihr, dass der Nachmittag mit Wolfgang angenehm gewesen war. Also musste auch ihr Sohn ein paar schöne Stunden verbracht haben. Friederike Göldner war zufrieden. »Willst du dich ein wenig zu mir setzen, Irma? Es dauert noch ein paar Minuten, bis wir essen können.« »Gern.« Irma ging dem Klang der Stimme nach, bis sie vor Friederike stand. Ihre Hände tasteten nach dem Stuhl, auf dem Friederike saß, und fanden dann den zweiten Sitzplatz. »Gut«, lobte Friederike. »Man sieht geradezu, wie du von Tag zu Tag sicherer wirst.« »Schneit es immer noch?«, wollte Irma wissen. »Ja. Wir leben zur Zeit hier so abgeschieden wie auf einem Einödhof.« »Mir gefällt es«, sagte Irma leise. Friederike schaute das junge Mädchen nachdenklich an. »Komisch, dir gefällt es. Meine Schwiegertochter Herta hat unter anderem diese Einsamkeit zum Anlass genommen, um Wolfgang zu verlassen. Spricht er eigentlich noch von ihr?« »Wir haben sie mit keinem Wort erwähnt«, antwortete Irma bereitwillig. »Das ist gut so. Er soll sie vergessen.« Vielleicht hat er das schon, dachte Irma. Doch das war eigentlich in der kurzen Zeit und nach allem, was sie ihm angetan hatte, nicht möglich. »Ich begreife nicht, wie eine Mutter ihre Kinder im Stich lassen kann«, meinte sie plötzlich. Ihre Überlegungen hatten sie zu dieser Äußerung veranlasst. Doch gleich danach entschuldigte sie sich bei Friederike. »Wozu denn die Entschuldigung, Irma?« »Das sind schließlich Familienangelegenheiten, die mich nichts angehen.« Sie senkte den Kopf. »Irgendwie gehörst du doch auch mit zur Familie«, sagte Friederike warm.
»Außerdem hast du recht. Auch ich begreife meine Schwiegertochter nicht. Keine gute Mutter tut so etwas. Die armen Kleinen! Du hättest nur sehen sollen, wie verstört sie waren. Sie hatten buchstäblich das Lachen verlernt.« Irmas schöne blinde Augen füllten sich mit Tränen. »Manch' andere Frau wäre froh, wenn sie eine Familie und Kinder hätte. Und Ihre Schwiegertochter wirft dieses Geschenk so leichtsinnig weg.« Nachdenklich ruhten Friederikes Augen auf dem blinden Mädchen. Irmas Bemerkung gab ihr zu denken. Sie sagte sehr viel über die geheimen Wünsche dieses Mädchens aus. Würde sich jemals ein Mann finden, der Irma diese Wünsche erfüllen würde? Der bereit sein würde, das Leben mit einer Blinden zu teilen? Wohl kaum. Und genausowenig würde es eine Frau geben, die bereit sein würde, an der Seite eines entstellten Mannes zu leben.
*
Am nächsten Abend las Wolfgang Irma wieder vor. Ganz still saß sie da und lauschte. Schließlich war das eine Kapitel beendet. »Morgen lesen wir das nächste Kapitel.« Er klappte das Buch zu und legte es beiseite. Ein glückliches Strahlen schlich sich in Irmas Züge. Er hatte ›morgen‹ gesagt. Also durfte sie ihn auch am nächsten Tag wieder besuchen. Schon diese kleinen Besuche bedeuteten ein Geschenk für sie. Den ganzen Tag hatte sie sich auf diese gemeinsame Stunde gefreut. Immer wieder hatte sie dem Schlag der großen Wohnzimmeruhr gelauscht. Wolfgang begann leise ein Volkslied zu summen. Als Kind hatte er es zusammen mit Irma oft gesungen. Irma lauschte mit angehaltenem Atem. »Weißt du, dass du eine sehr schöne Stimme hast, Wolfgang? Früher ist mir das nie aufgefallen.« Er lächelte matt. »Es gibt so vieles, was wir erst jetzt erkennen, nicht wahr?« »Da hast du recht. Nun, da es zu spät ist. Aber für dich ist es nicht zu spät«,
fügte sie hinzu. »Irma«, unterbrach er sie. Doch sie ließ sich nicht beirren. »Nein, Wolfgang, ich muss es dir einfach sagen. Du hast eine berechtigte Chance, dein normales Aussehen wiederzuerlangen. Und du solltest sie nützen.« »Wozu?« »Wozu? Du fragst wozu, Wolfgang?« Sie hob verständnislos die Hände. »Ich wäre dankbar, wenn es einen solchen Ausweg für mich gäbe. Und du fragst wozu?« »Den Ausweg gibt es auch für dich, Irma. Du kannst deine Augen operieren lassen.« Nun war er es, der sich an dem Thema erwärmte. »Mir hilft keine Operation mehr. Die Ärzte haben es Tante Hanna ja gesagt.« »Man soll sich niemals auf das Urteil eines einzigen Arztes verlassen. Du könntest eine Kapazität auf diesem Gebiet konsultieren.« Ein dünnes, resigniertes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Du gibst mir gute Ratschläge, aber du selbst hältst dich nicht daran.« Sie beugte sich vor. Ihre erblindeten Augen bohrten sich in die Richtung, in der er saß. »Lass dich operieren, Wolfgang. Für dich, für deine Kinder. Bitte!« Nachdenklich blickte er seine schöne Jugendfreundin an. Doch er schwieg. Irma spürte, dass sie trotzdem einen ganz, ganz winzigen Schritt weitergekommen war. Er hatte wenigstens nicht sofort mit einem entrüsteten Nein geantwortet. Er dachte darüber nach. »Man darf nicht resignieren im Leben. Niemals!« »Dann resignierst du also auch nicht, Irma?« »Nicht mehr«, antwortete sie fest. »Ich sollte mir wirklich ein Beispiel an dir nehmen«, entgegnete er leise. Aber damit war das Thema für ihn abgeschlossen.
Doch Irma fasste an diesem Abend einen Plan und sprach am nächsten Morgen beim Frühstück mit Friederike darüber. Die ältere Frau war so gepackt, dass sie ihr Brötchen beiseitelegte und nicht mehr weiteraß. »Du hast dir also vorgenommen, Wolfgang zu einer Operation zu überreden?« »Ja, Frau Göldner. Und ich glaube, es könnte mir auch gelingen, ihn dazu zu bringen. Er steht dem Gedanken nicht mehr ganz so ablehnend gegenüber wie anfangs.« Friederike war aufgesprungen. Nun kam sie um den Tisch herum. »Irma! Lass dich umarmen!« Sie drückte das Mädchen wie eine Tochter an ihr Herz. »Du gibst mir meinen Lebensmut zurück. Wenn dir das gelänge … Ich selbst würde es nicht schaffen. Vergeblich habe ich versucht, mit ihm über seine Verletzungen zu sprechen. Aber du, Irma, du befindest dich in einer ähnlichen Situation wie er. Auf dich könnte er hören. Und wer weiß … Vielleicht solltest auch du an eine Operation denken?« »Das hat Wolfgang auch gesagt. Doch Sie wissen ja, wie sich die Ärzte in Nürnberg zu Tante Hanna geäußert haben.« »Sie könnten sich immerhin geirrt haben.« Es gab Irma zu denken, dass Wolfgangs Mutter den gleichen Gedanken äußerte wie ihr Sohn. Schließlich war ein Irrtum nicht ganz ausgeschlossen. Doch sie schob den Gedanken wieder beiseite. Jetzt ging es um Wolfgang, denn mit seinem Schicksal war das Schicksal seiner Kinder verknüpft. Wolfgang Göldner wußte nicht, dass seine entstellten Züge viel weniger hässlich waren, wenn er lächelte. Oder wenn er wenigstens froh dreinschaute. Aber seine Mutter stellte das am nächsten Morgen fest. »Warum stellst du das Tablett nicht ab, Mutter?« »Ja, natürlich. Auf deinen Schreibtisch?« »Heute will ich ausnahmsweise einmal nicht während des Frühstücks arbeiten«, beschloss er heiter. »Stell doch das Tablett bitte auf den Tisch beim Fenster. Heute ist so schönes Wetter, da lohnt sich das Hinaussehen.«
»Ja, einen so blauen Himmel hatten wir schon seit Tagen nicht mehr.« »Willst du dich nicht einen Moment zu mir setzen?«, fragte Wolfgang. Vor Überraschung wäre ihr beinahe der Kaffeelöffel aus der Hand gefallen. Der mürrische Wolfgang, der sonst immer froh gewesen war, wenn er allein gelassen wurde, lud sie zu einem Plausch ein. Das war ungewohnt, sehr ungewohnt. »Gern, wenn ich dich nicht störe.« Er setzte sich ihr gegenüber und schaute zu, wie sie den dampfenden Kaffee in die Tasse goss. »Ach, weißt du, wenn man immer nur an seine Arbeit und an nichts anderes mehr denkt, ist man auch kein richtiger Mensch mehr.« »Da bin ich allerdings deiner Meinung.« Sie ließ vorsichtig zwei Stück Zucker in den Kaffee fallen. Es tat ihr sichtlich gut, ihren Sohn nach langer Zeit wieder einmal bedienen zu dürfen. »Hast du in letzter Zeit etwas aus Sophienlust gehört, Mutter?« Friederike hielt in der Bewegung inne. Doch sie schaute nicht auf. Die freudige Überraschung in ihren Augen wäre zu deutlich gewesen und hätte ihn vielleicht in seine mürrische Reserve zurückgerissen. »Ich telefoniere regelmäßig mit Frau von Schoenecker.« »Und … Wie geht es Kai und Katja?«, fragte er fast atemlos. »An und für sich geht es ihnen gut«, berichtete Friederike wahrheitsgemäß. »Doch sie fragen fast täglich nach ihren Eltern und sehnen sich nach Hause.« Wolfgang biß sich auf die Lippen. Sein heiterer Blick verdüsterte sich. »Ich gebe nur das weiter, was Frau von Schoenecker am Telefon zu mir sagte«, entschuldigte sich Friederike. »Natürlich, Mutter. Es ist ja auch nicht deine Schuld, dass die Kinder in einem Heim sind.« »Sophienlust ist sehr schön und gar kein Heim im üblichen Sinn«, erklärte sie. »Aber offensichtlich kann es den Kindern das Zuhause doch nicht ersetzen«,
erwiderte er fast grob. Doch Friederike spürte, dass diese Grobheit nicht ihr galt. Sie blieb bei ihm, bis er mit dem Frühstück fertig war. Dann nahm sie das Geschirr wieder mit. Sobald Wolfgang allein war, ging er zu seinem Schreibtisch und öffnete ein verschlossenes Fach. Bevor er die Schublade herauszog, zögerte er noch einen Moment. Dann tat er es mit einem Ruck. Gleich darauf hielt er verschiedene Fotos in den Händen. Eines zerriss er sofort und warf die Fetzen in den Papierkorb. Es war ein Bild seiner Frau. Dann betrachtete er lange und eingehend sein Hochzeitsbild. Schließlich legte er es in die Schublade zurück und sperrte sie wieder ab. Ein Bild blieb jedoch draußen. Es zeigte seine Kinder Kai und Katja. Das Bild steckte noch in dem silbernen Rahmen, den Herta ihm einst geschenkt hatte. Deshalb wollte er den Rahmen zunächst entfernen. Doch dann schalt er sich einen Narren und stellte das Bild auf seinen Schreibtisch. Irma besuchte ihn am Spätnachmittag. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre ziellos umherhuschenden Augen zeigten einen dunklen Glanz. »Ich war heute Nachmittag draußen«, berichtete sie. »Allein?« »Tante Hanna war in der Nähe und auch der Hausmeister. Er hat Schnee geschaufelt. Ich hielt mich nur im Garten auf«, fügte sie hinzu. Wie hätte sie auch allein weggehen können? »Es hat dir bestimmt gutgetan«, meinte Wolfgang herzlich. »Komm, setz' dich.« Er nahm ihre Hand und führte sie zu einem Sessel. »Ich konnte die Sonne auf meinem Gesicht spüren. Und die frische, klare Luft. Kannst du dir vorstellen, dass mich dieses Gefühl allein schon froh gemacht hat, Wolfgang?« Sie hob wieder ihr Gesicht empor, wie sie es am Nachmittag im Garten getan hatte. Und noch einmal glaubte sie, die klare herbe Schneeluft und die mild wärmende Sonne zu fühlen. »Du bist eine Lebenskünstlerin, Irma.« Er beugte sich zu ihr vor und ergriff impulsiv ihre Hände. »Sei meine Lehrerin, kleine Irma. Lehre mich, das Leben wieder zu lieben. Du bist der einzige Mensch, der dies fertigbringen könnte. Das fühle ich.« Er presste ihre Hände, und sie erwiderte den Druck. »Keine schönere Aufgabe könnte ich mir wünschen, Wolf gang. Es gäbe auch
meinem Leben wieder einen Sinn.« Sie lächelte schelmisch. »Eine Bedingung stelle ich allerdings.« »Und die wäre?« »Dass du meine Anordnungen ausführst.« Einen Augenblick sah es so aus, als hätten ihre Augen seinen Blick gefangen. Es ging ihm durch und durch. »Gut, ich bin einverstanden, Irma. Doch ich werde später mit Gegenforderungen kommen.« Er dachte daran, ihre Augen von einer Kapazität untersuchen zu lassen. Und wenn eine Aussicht auf Erfolg bestehen sollte, wollte er die Operation bezahlen. Doch das erwähnte er noch nicht. »Wie lautet deine erste Forderung?«, wollte er wissen. Irma zögerte einen Moment. Noch immer lagen ihre Finger in seiner Hand. »Du wirst auch bestimmt nicht böse werden?« »Du hast mein Wort.« »Gut.« Sie holte tief Luft. »Bitte, hole Kai und Katja für ein Wochenende nach Hause.« Schweigen folgte ihren Worten. Die Sekunden wurden zu Minuten und dehnten sich aus. Irma wurde unruhig. Warum sagte er nichts? Wolfgang hatte sich zurückgelehnt. Er hatte Irmas Finger losgelassen und dachte nach. »Siehst du, nun bist du doch böse«, flüsterte sie mit ganz kleiner Stimme. Dieser Ton rührte an sein Herz. Diese Irma war ein Mädchen, das nur für andere bat. Niemals für sich selbst. Durfte man ihr einen solchen Wunsch abschlagen? Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen, die Kinder nur deswegen heimzuholen, weil Irma ihn darum bat. Er wollte es aus Überzeugung tun und eine andere Einstellung zu Katja und Kai gewinnen. »Natürlich werde ich deinen Wunsch erfüllen, Irma.« »Nicht so«, bat sie ängstlich. »Du sollst es nicht nur tun, um mir eine Bitte zu erfüllen. Du sollst dich darüber freuen, deine Kinder für einige Tage bei dir zu haben.« Nun begann er zu lächeln. Und obwohl sie es nicht sehen konnte, spürte sie es. Das war seltsam.
»Du lächelst?« »Wie feinfühlig du bist«, stellte er erstaunt fest. »Ich schmunzle, weil du genau das aussprichst, was ich eben gedacht habe. Es ist nicht richtig, wenn ich Katja und Kai nur deshalb hole, weil du mich darum bittest.« »Kannst du dich denn nicht ein bisschen darüber freuen, sie wiederzusehen?« »Ich versuche es. Ich versuche es wirklich.« Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. Was bin ich nur für ein Vater? fragte er sich. Und genau das hatte Irma erreichen wollen. Er sollte sich einmal mit der Frage auseinandersetzen, was er für seine Kinder empfand. »Du magst doch deine Kinder, Wolfgang?« fragte Irma beinahe ängstlich. »Natürlich liebe ich sie«, sagte er sehr warm und sehr ernst. Irma stieß einen tiefen Seufzer aus und lehnte sich zurück. »Dann musst du es ihnen auch zeigen. Du musst«, forderte sie eindringlich. »Denn schließlich sind die Kinder nicht schuld …« Sie sprach nicht weiter. ›An deiner gescheiterten Ehe‹, hatte sie sagen wollen. Doch plötzlich kam ihr das zu frech vor. Ich kann mich doch nicht so tief in seine Angelegenheiten einmischen, sagte sie sich. »Warum sprichst du nicht weiter? Es ist nur allzu wahr. Für meine gescheiterte Ehe können meine Kinder wirklich nichts. Aber wir Erwachsenen machen immer den Fehler, die Schuld für unser Versagen bei anderen zu suchen.« Irma atmete befreit auf. »So ist es richtig, Wolfgang. Ich freue mich für dich.« Impulsiv tastete sie nach seinen Händen. Er nahm ihre Hände und zog sie an seine Lippen. »Dass erst ein so junges Dingelchen wie du kommen musste, um mich zur Vernunft zu bringen«, wunderte er sich. Blutübergossen saß sie da, als sie seine Lippen auf ihren Fingern spürte. »So jung bin ich nun auch wieder nicht«, murmelte sie, nur um etwas zu sagen. »Komm, setz' dich neben mich«, bat er. Sie erhob sich, und er zog sie an seine Seite auf die Couch. Er spürte die Wärme
ihres jungen Körpers. Sie strömte auf ihn über und gab ihm ein Gefühl des Friedens und des Glücks. Verwundert horchte er in sich hinein. Zu solchen Gefühlen bin ich also auch noch fähig, dachte er erstaunt. Eine große Zärtlichkeit für das selbstlose und so schwer geprüfte Mädchen an seiner Seite erfasste ihn. Er legte seinen Arm um Irmas Schulter und hauchte einen Kuß auf ihre Schläfe. Irma saß ganz still und rührte sich nicht. Nur als sie seinen Atem auf ihrer Wange spürte, rann ein kaum merkliches Zittern durch ihren Körper. Lange saßen die beiden so da. Schweigend und eng aneinandergeschmiegt. Das Ticken der großen Standuhr tropfte als einziges Geräusch in die Stille. Später sprachen sie dann noch einmal über seine Verletzungen. Wieder riet Irma ihm zu einer Operation. »Das war nämlich meine zweite Bedingung«, fügte sie hinzu. Er schaute sie erstaunt an. »Du bist gefährlich, kleine Irma. Schmeichelst dich erst in mein Herz ein und verlangst dann Dinge, zu denen ich mich allein nie und nimmer durchringen würde.« Irma spürte eine seltsame Erregung, die ihr Blut schneller pulsieren ließ. Schmeichelst dich in mein Herz ein, hatte er gesagt. O Wolfgang, dachte sie und ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken. Er hielt ganz still. Nur seine linke Hand streichelte sanft ihre blonden Locken. »Wenn du es willst, werde ich mich operieren lassen«, versicherte er plötzlich in die Stille hinein. »Wolfgang!«, rief sie aus. Und dann leise und ernst: »Ja, ja, ich will es. Bitte, lass dich operieren.« »Aber ich stelle auch eine Bedingung«, schränkte er ein. Sie horchte auf. »Wenn ich meine Operation hinter mir habe, musst du dir von mir helfen lassen. Einverstanden?« »Was meinst du damit, Wolfgang?« »Ich möchte deine Augen von einem berühmten Augenarzt untersuchen lassen.«
»Aber …« »Kein Aber. Wenn nur eine winzige Aussicht auf Erfolg besteht, dann wirst du dich ebenfalls operieren lassen.« »Dazu fehlen mir die finanziellen Mittel.« »Das lass nur meine Sorge sein.« Irma sagte nichts mehr, und er wertete ihr Schweigen als Zustimmung. Als Irma in dieser Nacht in ihrem Bett lag, dachte sie noch immer an seine Worte. Wieder sehen zu können! Allein der Gedanke machte sie schon ein wenig froh und hoffnungsvoll. Wie schön, wie unglaublich schön müsste es sein, die Blüte einer Blume betrachten zu können. Oder die Eiskristalle am Fenster. Die Sonne auf dem Schnee. Sie schluchzte leise auf und biss sich in den Handrücken. Nicht, dachte sie. Das darf ich nicht. Diese Gedanken sind Gift für meine Seele. Wenn sich herausstellt, dass keine Hoffnung besteht, dann bin ich nur umso unglücklicher. Mit tränenbenetzten Wimpern schlief sie schließlich ein. Als Friederike Göldner ihrem Sohn am nächsten Morgen das Frühstück brachte, sagte er: »Ich möchte Katja und Kai gern für ein paar Tage nach Hause holen. Glaubst du, sie würden sich freuen?« Friederike spürte ihre Knie weich werden. Sie musste sich setzen. »Da fragst du noch? Und ob sie sich freuen würden. Sie warten doch nur darauf.« »Gut, dann werde ich die wichtigsten Besprechungen mit dem Direktor meiner Fabrik in den nächsten Tagen hinter mich bringen. Ich möchte Kai und Katja meine ganze Zeit widmen, wenn sie hier sind.« Mit zitternden Fingern stellte Friederike das Frühstücksgeschirr auf den Tisch. Freude und Überraschung hatten ihr fast die Fassung geraubt. »Sag' mir nur Bescheid, damit ich Frau von Schoenecker rechtzeitig anrufen kann«, bat sie und verließ ihn wieder. Fast atemlos betrat sie das Esszimmer, in dem Hanna gerade das Frühstück servierte. Irma saß schon am Tisch. Sie frühstückte jetzt jeden Morgen gemeinsam mit Friederike Göldner.
»Das ist dein Verdienst, Irma. Oh, ich bin dir ja so dankbar.« Friederike trat zu Irma und schloss sie impulsiv in die Arme. Irma vermutete, dass es sich um die Kinder handelte. »Hat Wolfgang mit Ihnen gesprochen? Über Katja und Kai?« »Ja«, bestätigte Friederike strahlend. Ihr Gesicht glühte vor Freude. »Er will sie für ein paar Tage nach Hause holen. Damit ist das Eis gebrochen. Es ist der erste Schritt zurück in ein vernünftiges Leben. Und das verdanken wir dir, Irma.« Doch das Mädchen wehrte bescheiden ab. »Wenn die Liebe zu seinen Kindern nicht in ihrem Sohn gesteckt hätte, hätte ich sie auch nicht wecken können.« »Sei nicht zu bescheiden«, mischte sich nun auch Tante Hanna ein. Friederike nickte. »Du weißt gar nicht, wie sehr du meinem Sohn hilfst.« Ihr Blick ruhte warm und herzlich auf dem Mädchen. Doch das konnte Irma nicht sehen. Sie dachte an Wolfgang. An seine Worte, die sie sich wieder und wieder ins Gedächtnis rief. Und an die zärtlichen Minuten in seinen Armen. »Es macht mich glücklich, dass ich ihm helfen kann«, erklärte sie leise. Dann errötete sie, als hätte sie bereits zuviel gesagt.
*
Im Hof von Sophienlust war wieder einmal eine Schneeballschlacht im Gange. Zwei Parteien hatten sich gebildet, die nun übermütige Bälle hinüber und herüber schossen. Katja und Kai kämpften auf Nicks Seite. »Aua«, schrie Kai, als ein Schneeball seine Nase traf. »Die machen vielleicht harte Bälle da drüben.« »Mach' sie genauso fest«, riet Nick. Und schon landete ein Schneeball von ihm auf Henriks Zipfelmütze. »Getroffen«, jubelte Kai und sandte einen Ball hinterdrein, der sich jedoch schon
in der Luft auflöste. »Ich weiß nicht, warum meine Bälle alle kaputt gehen«, schimpfte er. Bei solchen Spielen vergaßen Katja und Kai das Haus am Starnberger See und den Vater, der nichts mehr von ihnen wissen wollte. Fröhlich und unbeschwert tollten sie mit den anderen Kindern herum. Anders war es dagegen an trüben oder verschneiten Nachmittagen. Da saßen die Kinder im Musikpavillon und bastelten oder zeichneten. Das waren ruhige Stunden, die Katja und Kai sehr an das Haus am See erinnerten. Es wurde früh dunkel. Und noch bevor die Kinder ihre Schneeballschlacht beendet hatten, rief Frau Rennert sie herein. »Och, schon«, maulte Henrik. »Wir hätten gerade gewonnen.« »Gar nicht wahr«, widersprach Pünktchen. »Ihr wart am Verlieren. Frag' doch deinen Bruder.« »Streitet euch nicht«, vermittelte Nick. »Morgen kämpfen wir weiter.« »Und was kriegt der Sieger?«, wollte die kleine Heidi wissen. Sie hatte dunkelrote Bäckchen und eine blau-rote Nasenspitze. »Du meinst die Siegergemeinschaft?« Nick überlegte, doch es wollte ihm nichts einfallen. »Wir denken beim Abendessen darüber nach«, schlug er schließlich vor. »Dann bleiben wir also zum Essen noch in Sophienlust«, freute sich Henrik. Er konnte sich jeden Abend nur schweren Herzens von den Kindern in Sophienlust trennen. Bei seinen Eltern auf Gut Schoeneich war es ihm zu ruhig. Außer seinem Bruder Nick war dort ja niemand, mit dem er hätte spielen können. Denise zeigte viel Verständnis für die Schwäche ihres Jüngsten. Wenn Nick und Henrik wieder einmal zum Abendessen nicht nach Hause kamen, dann wußte sie, dass Henrik dahintersteckte. So war es auch an diesem Spätnachmittag. »Wir haben Mutti versprochen, noch vor dem Abendessen mit dem Schlitten nach Hause zu kommen«, erinnerte Nick seinen kleinen Bruder.
»Zu Fuß? Mann, da bin ich ja tot, wenn ich in Schoeneich ankomme«, jammerte Henrik. Nick unterdrückte ein Lachen. »Komisch, bei der Schneeballschlacht warst du überhaupt nicht müde.« »Ist ja auch etwas anderes«, nuschelte Henrik. Lauter fügte er hinzu: »Mutti holt uns nach dem Essen bestimmt mit dem Auto ab. Warum müssen wir überhaupt nach Hause?« In diesem Augenblick trat Kai zu Nick und Henrik. »Das verstehe ich nicht«, platzte er heraus. »Was denn, Kai?«, wollte Nick wissen. »Dass ihr nicht gern nach Hause geht.« Der vierjährige blonde Junge schüttelte bekümmert den Kopf. »Katja und ich würden so gern nach Hause gehen, wenn wir könnten.« Nickend trat Katja zu der kleinen Gruppe. Eisklümpchen hingen in ihrem rostroten Haar. Das sah sehr lustig aus. »Komm mal her«, bat Nick und zupfte ihr die Eisklümpchen aus den Ponyfransen. Dann begegnete er Pünktchens eifersüchtigem Blick und ließ es sein. »Ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte er zu Kai. »Aber es ist immer so, dass man sich gerade nach dem am meisten sehnt, was man nicht haben kann. Wenn ihr jeden Tag bei euren Eltern sein könntet, würdet ihr euch bestimmt nicht mehr so sehr danach sehnen.« »Aber wir können überhaupt nie mehr bei unseren Eltern sein«, widersprach Katja. »Weil unsere Mutti nämlich fortgegangen ist und nichts mehr von uns wissen will. Stimmt's, Kai?« Der Bub nickte. »Ist die aber eklig«, platzte die kleine Heidi heraus. Sie stand zufällig neben Katja. Doch dann dachte sie einen Moment nach und richtete ihren großen Blick schließlich wieder auf Katja. »Aber schau, Katja, wir haben doch fast alle keine Mutti mehr. Und wir sind auch nicht traurig.«
»Na ja«, machte Katja. Bekümmert trottete sie hinter den anderen Kindern zum Haus. Auch der Gedanke, dass die meisten Kinder von Sophienlust elternlos waren, tröstete sie nicht. Die Enttäuschung fraß und fraß in ihr. Warum hatte die Mutter sie alle verlassen? Warum wollte der Vater nichts mehr von ihnen wissen? »Zieht eure nassen Sachen aus«, ordnete Frau Rennert an, als die Kinder ins Haus kamen. Doch niemand gehorchte, denn im gleichen Moment fuhr draußen ein Wagen vor. Er kam von Schoeneich. Mit geröteten Wangen betrat Denise das Haus. »Au weia«, stöhnte Henrik und verdrückte sich in die hinterste Ecke, wo Nick stand. »Heute wird nichts aus dem Abendessen in Sophienlust. Mutti ist gekommen. Bestimmt will sie uns abholen, damit wir in Schoeneich essen.« »Genau das will sie«, sagte Denise. »Wie ich sehe, hattet ihr wieder einmal keine Lust, zu Fuß nach Hause zu kommen.« Nick machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Es ist so weit zu Fuß. Wenn wir mit dem Rad fahren dürften, würden wir uns bestimmt nicht dauernd verspäten.« »Du weißt, dass Vati das im Winter nicht erlaubt«, erinnerte Denise ihren Ältesten. »Es ist zu gefährlich. Stell' dir doch nur vor, wie leicht ihr auf der glatten Straße ausrutschen könntet. Und nun macht euch fertig. Wir fahren in einer Viertelstunde zurück.« Danach steuerte sie auf Katjas rostroten Schopf zu. »Nanu«, machte Nick neugierig. Prompt folgte er seiner Mutter. »Du sollst dich fertigmachen, kleiner Bruder«, sagte er zu Henrik, als dieser hinterdrein kam. »Hast du das nicht gehört?« »Und du?«, beschwerte sich Henrik. »Ich gehe auf Lauscherposten. Hinterher erzähle ich dir, was es Neues gibt. Jetzt geh schon und hol' unsere Mäntel.« Gehorsam trottete Henrik davon. Er wußte, dass Nick es ihm erzählen würde, wenn es etwas Neues geben sollte. Aber was konnte es schon Neues geben?
Die anderen Kinder zerstreuten sich. Vor dem Abendessen mussten sie sich die Hände waschen und trockene Sachen anziehen. »Beeilt euch«, mahnte Frau Rennert noch einmal aus Angst, die Kinder könnten sich erkälten. Außerdem bildeten sich unter manchen Stiefelpaaren schon dunkle Pfützen. Während die anderen Kinder auf ihre Zimmer huschten, nahm Denise Katja und Kai mit in ihr Büro. Kais großer Kinderblick wurde besorgt und ängstlich. »Ist … Ist mit unserem Vati etwas iert, Tante Isi?« »Aber nein.« Denise schloss ihn lachend in die Arme. Sie freute sich für die beiden, die doch offensichtlich so an ihrem Zuhause hingen. »Eure Großmutter hat angerufen. Ihr dürft für ein paar Tage nach Hause kommen.« »Oh! Ist das wahr?« Vor Freude traten Katja Tränen in die Augen. Doch dann verschleierte sich ihr heller Blick wieder. »Will unser Vati das auch? Oder dürfen wir nur zu Oma kommen?« »Euer Vati möchte euch für ein paar Tage bei sich haben.« Da fielen die Geschwister einander um den Hals. Sie lachten und weinten gleichzeitig. Bewegt betrachtete Denise das rührende Bild. Wie sehr mussten die Kinder unter der Ablehnung des Vaters gelitten haben, wenn sie sich jetzt so sehr freuten. »Vati will uns bei sich haben«, wiederholte Kai schon zum dritten Mal. »Er hat uns also immer noch lieb. Stimmt's, Tante Isi?« »Ganz sicher hat er euch lieb. Auch wenn er euch jetzt noch nicht wieder ganz zu sich nimmt«, dämpfte Denise die Freude der Kinder. Sie wollte sie darauf vorbereiten, dass sie nach einigen Tagen wieder nach Sophienlust zurückkehren mussten. Einen Augenblick lang wurde Katjas Blick groß und nachdenklich. Doch dann nickte sie. »Macht ja nichts. Wir kommen ja gern wieder hierher. Aber irgendwann dürfen wir doch bestimmt für immer bei unserem Vati bleiben. Glaubst du nicht auch, Tante Isi?«
»Wenn er uns doch noch liebhat?«, fragte auch Kai. »Ganz bestimmt«, antwortete Denise überzeugt. Für sie stand fest, dass Wolfgang Göldner die Krise überwunden hatte. Das hatte ihr ja auch seine Mutter angedeutet. »So, und nun lauft rasch auf eure Zimmer und zieht euch um. Sonst holt ihr euch noch eine Erkältung und müsst im Bett bleiben, wenn eure Großmutter kommt.« »Wann kommt sie denn?«, wollte Kai noch schnell wissen. »Übermorgen.« »Oh, schon übermorgen! Hast du gehört, Katja?« Glücklich lief der Junge mit seiner Schwester davon. Ein wenig enttäuscht lehnte Nick an der Wand im Korridor, als Katja und Kai aus dem Büro seiner Mutti kamen. Er hatte nicht herausfinden können, worum es ging. »Weißt du das Neueste schon?«, rief Katja ihm entgegen. Nick schnellte von der Mauer ab. »Leider nicht.« »Unser Vati holt uns für ein paar Tage nach Hause«, sprudelte Kai los, noch bevor Katja Gelegenheit fand, den Mund aufzumachen. »Ist das wahr?« Katja nickte stolz. »Übermorgen holt unsere Oma uns ab. Toll, nicht wahr?« »Na und ob!«, rief Henrik. Bei Katjas Bericht war er wie ein Blitz um die Ecke geschossen. »Hat meine Mutti euch das gesagt?« »Ja, vor ein paar Minuten.« Nun trat auch Denise aus dem Büro. Schnell huschten Katja und Kai davon, um sich trockene Sachen anzuziehen. »Seid ihr fertig?« Denise betrachtete ihre beiden Söhne prüfend. »Ihr wisst also die Neuigkeit schon«, stellte sie schmunzelnd fest. »Na, dann kommt. Vati
wartet mit dem Abendessen auf uns.«
*
Irma summte leise vor sich hin. Friederike Göldner war am Morgen mit dem Hausmeister abgereist, um Katja und Kai zu holen. Schon um sechs Uhr waren sie aufgebrochen. Trotzdem würde es später Nachmittag oder gar Abend werden, bevor sie zurückkommen würden. Doch schon nach dem Mittagessen begann Irma, unruhig zu werden. Immer wieder lauschte sie, ob nicht ein Wagen vorfahre. Wolfgang konnte sie an diesem Nachmittag nicht besuchen. Sein Direktor war bei ihm. Schon seit Stunden. Also wanderte Irma ziellos im Haus umher. Dabei versuchte sie sich jeden Gegenstand genau einzuprägen. Doch irgendwie irrten ihre Gedanken immer wieder ab. Und dann hörte sie plötzlich zwei Motorengeräusche gleichzeitig. Ein Wagen fuhr ab. Das konnte nur der von Wolfgangs Direktor sein. Zugleich fuhr ein anderes Auto vor dem Haus vor. Irma hastete zur Haustür. Da hörte sie auch schon die Kinderstimmen. Ob Katja und Kai sich an sie erinnerten? Wie mochten die beiden jetzt aussehen? »Oma, du hast die Tüte vergessen! Schau mal, wie viel Schnee hier liegt, Katja!«, so riefen die hellen Stimmen durcheinander. Dann kamen trippelnde Schritte näher, und die Stimmen brachen ab. »Das ist Irma Winter«, sagte Friederike Göldner zu ihren Enkelkindern. »Könnt ihr euch noch an sie erinnern?« Katja und Kai blickten ihre Großmutter an und dann Irma. »Ich kann mich schon erinnern«, sagte Katja.
Die Großmutter hatte ihr und Kai unterwegs erzählt, dass Irma nun blind sei. Das machte die beiden Kinder ein wenig befangen. Wie sollten sie sich einer Blinden gegenüber verhalten? Aber die Großmutter hatte ihnen auch geraten, nett und lieb zu Irma zu sein. Also trat Katja mutig zu der Blinden hin. »Guten Tag, Irma. Ich bin Katja.« Sie streckte ihre Hand aus und musste erleben, dass Irma nicht danach griff. Doch kurz darauf hatte Irma schon den Zwischenraum überwunden und kniete nun neben Katja. Ihre Finger fuhren über Katjas Mäntelchen und erreichten ihre Wangen. »Guten Tag, Katja«, sagte sie leise. »Ich freue mich, dass ihr gekommen seid.« Da handelte das kleine Mädchen spontan. Es streckte seine Arme aus und schlang sie um Irmas Hals. Gerührt preßte Irma das Kind an sich. Dann stand sie auf und nahm Katja auf den Arm. »Katja ist doch viel zu groß, um auf den Arm genommen zu werden«, beschwerte sich da Kai neben den beiden. Lachend ließ Irma das Mädchen herunter und beugte sich zu Kai hinab. »Guten Tag, Kai. Gibst du mir auch einen Willkommenskuss?« Darauf hatte der Bub nur gewartet. Er wollte doch nicht hinter seiner Schwester zurückstehen. Schnell hängte er sich an Irmas Hals und gab ihr einen schmatzenden Kuss auf beide Wangen. Damit war das Eis zwischen Irma und den Kindern gebrochen. Nun begannen sie aufgeregt durcheinanderzureden und wollten der neu gewonnenen Freundin alles auf einmal erzählen. Es gab ja so vieles von der langen Autofahrt und von Sophienlust zu berichten. Sie fassten Irmas Hände und traten rechts und links von Irma ins Haus. Im Seitenflügel hatte Wolfgang am Fenster gestanden und alles mitangehört. Es rührte ihn, dass die Kinder zu Irma so schnell Vertrauen gefasst hatten. Jetzt stand er in seinem Wohnzimmer und wartete. Alle Jalousien waren hochgezogen. Trotzdem war es nicht mehr hell in den Räumen. Es begann ja
bereits zu dämmern. Zusammen mit Irma und der Großmutter kamen die Kinder zum Vater. Friederike öffnete die Tür und begrüßte ihren Sohn zuerst. Irma schob Katja und Kai vor sich her ins Zimmer. Doch die beiden blieben befangen neben der Tür stehen. Noch immer litten sie ein wenig unter der Ungewissheit, ob der Vater sie nun mochte oder nicht. Freute er sich über ihren Besuch? Aber schließlich hatte er sie doch eingeladen! Wolfgang selbst plagten ganz andere Bedenken. Wie würden die Kinder auf sein entstelltes Aussehen reagieren? fragte er sich. Würden sie sich entsetzt abwenden? Zaghaft trat er ihnen entgegen und versuchte zu lächeln. »Ich freue mich, dass ihr gekommen seid.« Seine Stimme klang ein wenig verrostet. Doch darauf achteten die Kinder nicht. Auch nicht auf sein vernarbtes Gesicht. Er war ihr Vater, und sie hatten ihn lieb. Ganz gleich, wie er aussah. Und er schien sich tatsächlich darüber zu freuen, dass sie da waren. Kai trat als erster zu ihm. »Grüß Gott, Vati.« Er benutzte den bayerischen Gruß. »Wir … Wir haben dir etwas mitgebracht.« Er streckte dem Vater einen selbstgemachten Kranz aus Strohblumen entgegen. »Katja und ich haben den Kranz gebastelt. Stimmt's, Kati?« »Ja.« Nun trat auch Katja näher. Zögernd blickte sie zum Vater empor. Wolfgang Göldner sah weder Erschrecken noch Entsetzen in den Augen seiner Kinder. Nun die bange Frage: Magst du uns noch? Da beugte er sich zu ihnen hinab und nahm beide gleichzeitig in die Arme. Kai klammerte sich geradezu verzweifelt an seinen Hals. Und Katja konnte nur mit Mühe ein Aufschluchzen unterdrücken. »Nicht doch«, flüsterte der Vater gerührt. »Jetzt ist ja alles gut.« Als er wieder aufschaute, stellte er fest, dass er mit seinen Kindern allein war. Irma und seine Mutter hatten unbemerkt das Zimmer verlassen. Nun nahm Wolfgang seine beiden Kinder bei der Hand. »Und jetzt gehen wir ins Wohnzimmer und essen alle gemeinsam zu Abend«, schlug er vor. »Ihr seid doch sicher hungrig?«
»Und ob!«, rief Kai. Die drei Frauen staunten nicht wenig, als Wolfgang mit den Kindern die Wohnhalle betrat. Seit seinem Unfall war das nicht mehr vorgekommen. Wenn das kein neuer Anfang war … Wolfgang bemerkte die erstaunten Blicke sehr wohl. »Wir sind alle drei sehr hungrig«, sagte er schnell. Irma hörte seine Stimme und machte unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu. »Ich trage sofort das Essen auf«, kündigte Hanna an. Für die Kinder hatte sie extra Eierkuchen gebacken. Sie wußte, wie gern Katja und Kai diese Süßspeise aßen. Als Katja sah, wie unsicher Irma in der Mitte des Raumes stand, trat sie schnell zu ihr. »Soll ich dich zum Tisch bringen?«, fragte sie leise und tastete nach Irmas Hand. Irma ließ sich führen. Dabei tat sie ein wenig unsicherer, als sie in Wirklichkeit war. Doch sie gab damit dem kleinen Mädchen das Gefühl, gebraucht zu werden. Für Katja war das ein neues und schönes Erlebnis. »Wenn du magst, bleibe ich immer in deiner Nähe und führe dich, wenn du irgendwohin gehen willst«, flüsterte sie Irma ins Ohr. »Gern, Katja«, flüsterte Irma zurück. Zum Zeichen des Dankes drückte sie Katjas Hand. »Habt ihr ein Geheimnis?«, mischte sich Kai ein. Katja und Irma lächelten geheimnisvoll und nickten. Das ist das schönste Abendessen, das seit langem in diesem Haus stattfindet, dachte Friederike Göldner. Die Kinder sind da, und Wolfgang versteckt sich nicht mehr. Ich hoffe nur, es bleibt so. Doch da stellte Kai eine Frage, die den Frieden schon wieder in Gefahr brachte.
»Gehst du morgen mit uns zum Schlittenfahren, Vati? Du weißt doch, unten am See! Wo wir früher immer waren?« Erschrocken blickte Friederike ihren Sohn an. Seit seinem Unfall hatte er die Menschen gemieden. Und nun sollte er auf einen Schlittenberg unter eine Schar von Erwachsenen und Kindern gehen? »Ich glaube, das wird nicht gehen, Kai«, mischte sie sich ein. »Aber warum nicht?«, wollte der Junge wissen. »Vati hat sehr viel zu tun. Schließlich gehört ihm in München eine Fabrik. Vergesst das nicht.« »Schade«, meinten Katja und Kai gleichzeitig. Doch Katja, die schon ein wenig weiter dachte, fügte hinzu: »Am Schlittenberg sind immer so viele Menschen. Da hätte es Vati sowieso nicht gefallen. Und mir auch nicht.« Wie klug sie ist, dachte Irma bewegt. Nun griff Wolfgang zum ersten Mal selbst ein. »Ich mache euch einen anderen Vorschlag«, wandte er sich an Katja und Kai. Alle Anwesenden horchten neugierig auf. »Auf der anderen Seite der Straße ist ein schöner, langer Hügel. Dort kann man auch Schlitten fahren. Und es sind keine Menschen dort. Wir könnten Irma mitnehmen und vorher einen kleinen Spaziergang durch den winterlichen Wald machen. Was haltet ihr davon?« »O Vati!« Katja war aufgesprungen und zu ihm geeilt. Spontan fiel sie ihm um den Hals. »Das ist ganz toll! Freust du dich auch, Irmi?« »Und ob«, strahlte Irma. »Du bist richtig in Ordnung, Papi«, brachte Kai im Brustton der Überzeugung hervor und löffelte danach seine Suppe weiter. Wolfgang Göldner nahm dieses etwas komische Kompliment seines Sohnes besonders dankbar auf. Zeigte es ihm doch, dass seine Kinder ihn akzeptierten und liebten.
»Setzen wir uns doch vor den Kamin«, schlug Friederike nach dem Essen vor. Der Kamin war das Schmuckstück des Hauses, die getreue Nachbildung eines alten englischen Kamins. Der Hausmeister hatte Buchenscheite aufgelegt, die nun langsam abbrannten. Das strahlte Wärme und Behaglichkeit aus. Hanna servierte heißen Punsch. Die Kinder bekamen eine Extramischung ohne Alkohol. Dann erzählten sie von Sophienlust. Irma lauschte aufmerksam. Ihre Hände lagen still im Schoß. Da spürte sie ganz deutlich, wie sich eine kleine warme Hand unter ihre Finger schob. »Katja?«, fragte sie leise. »Hm«, machte das Mädchen. Und später, als Katja müde wurde, schmiegte sie einfach ihren Kopf in Irmas Schoß. Immer wieder betrachtete Wolfgang dieses reizende Bild. »Hübsch sieht das aus«, sagte er zu Irma, als Friederike und Hanna sich für einen Moment entfernten, um die Betten für die Kinder zu richten. Irma errötete sanft. »Die beiden sind müde. Wir sollten sie zu Bett bringen.« »Ich bin gar nicht müde«, beschwerte Kai sich aufgekratzt. Dabei waren seine Augen schon ganz klein. Aber das aufregende Erlebnis, wieder zu Hause zu sein, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. »Du wirst morgen nicht ausgeschlafen sein«, gab Irma ihm zu bedenken. »Und dann bist du zu schwach, um den Schlitten den Berg hinaufzuziehen.« »Ja, ich setze mich nämlich drauf«, neckte Katja ihn und rieb sich die schlaftrunkenen Augen. Dann schaute sie zu Irma auf. »Bringst du mich ins Bett? Bitte!« »Mich auch, Irma«, verlangte Kai mit einem kleinen, eifersüchtigen Unterton. Wolfgang schmunzelte in sich hinein. Die beiden waren ja ganz vernarrt in Irma. Nun, ihm konnte es nur recht sein. Das bedeutete, dass er auch jetzt nicht auf Irmas Gesellschaft verzichten musste. Er konnte mit ihr und den Kindern beisammen sein.
*
Der Himmel meinte es gut mit ihrem Plan. Er strahlte am nächsten Morgen in azurenem Blau. Kein Wölkchen war zu sehen. »Oh, ist das schön draußen«, staunte Katja, als sie erwachte. Dann lief sie schnell in Kais Zimmer und weckte ihn. »Schau doch nur. Wie der Schnee glitzert. Hast du vergessen, dass wir heute zum Schlittenfahren gehen?« Das wirkte. Mit einem Satz war Kai aus dem Bett und neben seiner Schwester am Fenster. »Toll! Sieh mal die Mauer an. Sie hat lauter Schneehüte auf. Sollen wir einen Schneemann bauen?« »O ja«, begeisterte sich Katja. »Einen richtigen großen. Vielleicht könnten wir schon vor dem Frühstück ein bisschen hinausgehen?« »Nö, ich habe Hunger. Außerdem erlaubt Oma das nicht.« »Da hast du recht. Wir hätten uns heimlich hinausschleichen müssen. Aber wir wollen ja Oma nicht ärgern. Wo sie uns doch nach Hause geholt hat.« »Vati hat uns geholt«, widersprach Kai eigensinnig. »Geholt hat uns Oma. Vati hat nur erlaubt, dass wir kommen. Wer ihn wohl soweit gebracht hat?« »Na, Oma doch!« »Glaub' ich nicht!« Katja schüttelte den Kopf. »Weißt du, wer es war?« »Sag's doch endlich!« »Irma!« »Irma?« Nachdenklich betrachtete Kai den glitzernden Schnee. »Die Arme. Sie kann das alles nicht sehen«, meinte er andächtig. »Wie ist das, wenn man blind ist, Katja? Sieht Irma gar nichts?« »Ich glaub' nicht.« Auch Katja war nachdenklich geworden.
»Wir können sie ja mal fragen«, schlug der Bruder vor. »Nein«, widersprach Katja entschieden. »Wir dürfen nicht darüber reden, hat Omi gesagt. Das macht Irma traurig.« »Ach so, das habe ich ganz vergessen.« Da öffnete sich die Tür, und Friederike trat ein. »Ihr seid ja schon auf. Guten Morgen.« »Morgen! Dürfen wir einen Schneemann im Garten bauen, Oma?«, fragte Kai. »Ja, aber nach dem Frühstück. Jetzt wascht euch erst einmal und putzt euch die Zähne. Du in deinem Zimmer, Katja.« Gehorsam ging Katja in ihr Zimmer zurück. Dabei dachte sie wieder an Irma. Als die Großmutter zu ihr kam, begann sie sofort ein Gespräch über Irma. »Wie lange bleibt sie bei uns?« »Irma? Vielleicht für immer. Wo sollte sie denn sonst hingehen? Sie hat ja niemand außer ihrer Tante Hanna.« »Die Arme.« »Ja, sie ist ein sehr bedauernswertes Geschöpf. Ihr dürft sie niemals ärgern, hört ihr?« Kai war ins Zimmer getreten. Bereits angezogen und gekämmt. »Tun wir ja nicht. Wir sind immer lieb zu ihr. Gelt, Katja?« »Klar. Ich führe sie doch immer.« Friederike streichelte die Wange ihrer kleinen Enkelin. »Du bist ein liebes Mädchen, Katja. Bleib so.« Wolfgang frühstückte allein. Er war es so gewohnt. Doch gleich nach dem Frühstück kam er ins Wohnzimmer. »Gehen wir jetzt Schlitten fahren?«, rief Kai ihm sofort entgegen. Wolfgang musste lachen. Wenn er lachte, übersah man fast die Narben. Er hatte
sehr schön gewachsene, blitzende Zähne, die dann sein ganzes Gesicht beherrschten. »Natürlich gehen wir. Irma?« Sie hatte am Fenster gestanden und aufmerksam seiner Stimme gelauscht. Sie kannte bereits jede Nuance dieses angenehmen Basses. »Ja?« »Du kommst doch mit?«, vergewisserte sich Wolfgang noch einmal. Ohne Irma hätte ihm der Ausflug nur halb so viel Spaß gemacht. Außerdem war er ein wenig bange, dass er jemandem begegnen könnte. Deshalb hatte er die Fellkappe genommen, die er sehr tief ins Gesicht ziehen konnte. »Wenn ihr mich mitnehmt?«, meinte Irma. Sofort war Katja an ihrer Seite. »Ich nehme dich mit, Irma«, rief sie und ergriff Irmas Hand. »Immer du«, maulte Kai. »Ich kann Irma genauso gut führen.« Wolfgang und seine Mutter schauten sich an. Sie dachten beide das gleiche. Doch sie sprachen es nicht aus. Es wurde ein wunderschöner Vormittag. Und sie begegneten keinem Menschen. Darüber war Wolfgang besonders erleichtert. »Oh, der ganze Berg gehört uns allein«, freute sich Kai, als er den leeren, weitgezogenen Hügel sah. »Gut, dass wir zwei Schlitten haben.« Er ließ Irmas Hand los und sauste den Hügel hinauf. »Nun lauf auch schon voraus«, riet Wolfgang seiner Tochter, als er ihren sehnsüchtigen Blick sah. »Ich kann Irma ja auch mal führen, nicht wahr?« Irma nickte und gab Katjas Hand frei. Das Mädchen lief los. Wolfgang schob seine Hand unter Irmas angewinkelten Arm. »Schön, auch einmal ein paar Minuten allein zu sein«, meinte er. »Freust du dich über diesen Spaziergang?« Seine Stimme klang weich. »Sehr, Wolfgang. Es ist so schön, die Sonne und den sachten Wind im Haar zu spüren.«
Er schaute sie an. Bewunderung lag in seinem Blick. Ihre Wangen waren von der klaren Winterluft rosig überhaucht. Und der Wind spielte mit ihren langen, blonden Locken. »Wie schön du aussiehst, wenn du das Haar so offen trägst.« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Ganz nah war ihm der verlockende Mund. »Wenn es dir gefällt, trage ich es immer so.« »Irma!« Er blieb stehen und zog sie an sich. Gleich darauf landete Kai mit seinem Schlitten direkt vor ihren Füßen. »Beinahe hätte ich euch umgefahren«, meinte er lachend. »Du Schlingel«, schalt sein Vater. Doch er konnte dem Jungen nicht böse sein. »Komm, Irma, setz' dich mit Kai auf den Schlitten. Ich ziehe euch beide den Hügel hinauf.« »Nein«, widersprach Irma. »Wir sind zu schwer.« »Ach was! Ein bisschen Anstrengung wird mir guttun!« Übermütig nahm er Irma auf den Arm, schwang sie durch die Luft und setzte sie auf den Schlitten. Kai jauchzte auf vor Vergnügen. »Mit mir auch, Vati!« So tobten sie den ganzen Vormittag übermütig im Schnee. Ihr Lachen klang bis zum Haus hinüber. »Auf so einen Tag habe ich gewartet«, sagte Friederike zu der Köchin Hanna. »Hören Sie doch nur! Das klingt wie Musik in meinen Ohren.« Am Nachmittag bauten Kai und Katja mit Irmas Hilfe einen großen Schneemann im Garten. »Wie ist er gelungen?«, wollte Irma wissen. »Großartig«, sagte da eine tiefe Stimme vom Fenster her. Wolfgang hatte das Treiben der Kinder vom Haus aus beobachtet. Irma wandte den Kopf und lauschte. »Du hast uns zugeschaut, Wolfgang?« »Ja. Und ich muss sagen, ihr habt mich geradezu an junge Künstler erinnert. Der Schneemann ist ein Prachtstück, Irma«, lobte er. Nach der Kaffeestunde ging Irma auf ihr Zimmer, um ein wenig zu ruhen.
»Seid ihr denn nicht müde?«, fragte Wolfgang seine Kinder. »Überhaupt nicht«, antworteten die beiden einstimmig. »Dürfen wir ein bisschen mit zu dir kommen, Vati?« Diese Bitte konnte Wolfgang nicht abschlagen. Er nahm die Kinder mit in sein Wohnzimmer, wo Kai sofort ein Puzzlespiel auf dem Boden ausbreitete. »Wir setzen es gemeinsam wieder zusammen, ja?« »Ich mag nicht«, wehrte Katja ab und kuschelte sich zu dem Vater auf die Couch. »Vielleicht später. Fang' schon mal an.« »Och, du Langweilige«, maulte Kai. Dann vertiefte er sich allein in das Puzzle. »Vati«, begann Katja leise. »Was denn, mein Kleines?« »Vati, magst du nicht, dass wir immer hierbleiben? Kai und ich?« Ihre Kinderaugen blickten ihn seltsam ernst an. Diese Frage hatte Wolfgang überrumpelt. Gerührt und ein wenig verlegen zog er Katja an sich. »Wenn es nur danach ginge, was ich möchte, dann würde ich euch sofort hierbehalten, Katja.« Nun war auch Kai hellhörig geworden. Er stand auf und kam zur Couch. »Aber irgendwann, Vati, irgendwann nimmst du uns doch ganz nach Hause, nicht wahr?« »Das verspreche ich euch«, sagte Wolfgang ernst. »Doch es ist besser, ihr bleibt zunächst noch ein wenig in Sophienlust. Aber ich verspreche euch, dass ihr regelmäßig zu Besuch kommen dürft, bis ich euch ganz hole. Einverstanden?« »Einverstanden. Aber wann holst du uns ganz?«, wollte Katja wissen. »Genau kann ich das noch nicht sagen, Katjalein. Vielleicht in drei Monaten, vielleicht in einem halben Jahr. Vielleicht aber auch erst in einem Jahr.« »Das ist aber lang«, beschwerte sich Kai mit schief geneigtem Kopf.
»Es wird schnell vergehen«, tröstete der Vater. Beruhigt wandte der Junge sich wieder seinem Puzzle zu. Katja aber lag noch etwas auf dem Herzen. »Bleibt Irma für immer bei uns, Vati?« Wolfgang schaute seine kleine Tochter überrascht an. Was sollte er auf diese Frage antworten? »Vorläufig bleibt sie auf jeden Fall hier.« »Das hat Oma auch gesagt. Ihr schickt sie doch nicht weg?« »Aber nein! Niemals! Sie kann bleiben, solange sie will«, sagte Wolfgang nachdenklich. Insgeheim überlegte er, wie lange Irma wohl in seinem Haus bleiben würde. »Ich mag sie«, gestand Katja leise. »Es macht überhaupt nichts, dass sie nicht sehen kann. Sie wäre bestimmt eine sehr liebe Mutti.« »Was … Was sagst du da?«, fragte Wolfgang heiser. Katja wandte verlegen den Kopf zur Seite. »Würdest du dir eine Mutti wie Irma wünschen?«, forschte der Vater. »Ja!«, rief Kai da spontan aus. Unbemerkt war er wieder zu Vater und Schwester getreten. Katja warf ihrem Bruder einen Blick zu, der eine Mischung aus Unwillen und Freude war. Einesteils nahm sie es Kai übel, dass er sich in ihr Gespräch mit dem Vater einmischte. Andererseits war sie froh, dass er genauso dachte wie sie. »Ich mag sie genauso gern wie du«, sagte Kai angriffslustig zu seiner Schwester. »Und sie mag mich auch.« »Freilich mag sie dich. Sie mag uns beide«, argumentierte Katja schon sehr vernünftig.
*
Über diese Unterhaltung mit seinen Kindern musste Wolfgang Göldner noch nachdenken, als Katja und Kai schon wieder in Sophienlust waren. Die beiden waren nur ungern in das Kinderheim zurückgekehrt. Nur das Versprechen, bald wiederkommen zu dürfen, hatte sie getröstet. Aber nun fühlten sie sich in Sophienlust schon wieder recht wohl. Das hatte Friederike telefonisch erfahren. Irma machte allein einen Spaziergang durch den Garten. Sie bewegte sich schon ziemlich sicher. Ein Fremder wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie nicht sehen konnte. Mit gesenktem Kopf spazierte sie langsam dahin. Nun ist es wieder ruhig im Haus, dachte Irma. Sie vermisste das Kinderlachen und hatte das Wolfgang auch schon gesagt. Doch er schien etwas zu planen, wobei er die Kinder nicht im Haus haben wollte. Er führte lange Telefongespräche und schickte den Hausmeister immer wieder zur Post. Als Irma Schritte auf dem Kiesweg knirschen hörte, blieb sie abwartend stehen. Dem Gang nach musste es Wolfgang sein. Da hörte sie auch schon seine Stimme. »Irma?« »Ja, Wolfgang?« Da war er bei ihr und nahm ihren Arm. »Es ist soweit«, sagte er mit vibrierender Stimme. »Morgen gehe ich in die Klinik.« »Wolfgang«, schrie Irma leise auf und blieb stehen. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. »Endlich«, sagte sie stattdessen nur. »Ich dachte schon, du wolltest dein Wort nicht halten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe es dir versprochen, und deshalb tue ich es jetzt. Doch ich verspreche mir nicht viel davon.« »Du darfst nicht pessimistisch sein.« »Aber auch du hast mir etwas versprochen«, erinnerte er sie. Irma blieb erschrocken stehen. »Aber Wolfgang, du sprichst doch nicht etwa von einer Operation?«
»Doch! Genau davon spreche ich. Warum, glaubst du, war ich in den letzten Tagen so beschäftigt?« Sie bekam plötzlich Angst. Doch sie wußte noch nicht genau, wovor. »Ich habe mit den Ärzten des Nürnberger Krankenhauses, in dem du warst, telefoniert. Um dir zu helfen, müsste eine sehr schwierige Operation durchgeführt werden. Es gibt nur eine Klinik, die so etwas macht. Sie liegt in der Schweiz. Auch mit dem Chefarzt dieser Klinik habe ich telefoniert.« Irma begann zu zittern. Sie konnte nicht sprechen. »Er müsste dich erst untersuchen«, fuhr Wolfgang fort. »Nach der Untersuchung könnte er sagen, ob eine Aussicht auf Erfolg besteht.« Irma suchte nach einer Ausrede, um ihn von diesem Gedanken abzubringen. »Ich habe Angst«, sagte sie schließlich. Und das entsprach genau der Wahrheit. »Ich kann mich nicht operieren lassen, Wolfgang. Außerdem solltest du jetzt erst einmal an dich denken. Nicht an mich.« »Ich lasse mich nur operieren, weil ich hoffe, dass du es dann auch wagst«, gestand er ihr. »O nein!«, rief sie aus. »Nicht so. Du musst es deinetwegen tun. Für deine Kinder.« Meine Kinder, dachte er und erinnerte sich wieder an das Gespräch mit Katja und Kai. Meine Kinder wünschen sich eine Mutti wie Irma. Er kam von diesem Gedanken nicht los. »Warum hast du Angst, Irma?« »Ich fürchte mich davor, mir Hoffnungen zu machen, die sich dann vielleicht nicht erfüllen.« Wolfgang stellte sich vor, dass wieder Leben in diese wunderschönen Augen zurückkommen könnte. »Ich habe mir vorgenommen, dir zu helfen«, sagte er eigensinnig, »und das werde ich auch tun.« Ein Schauer lief Irma den Rücken hinunter. Sie ahnte, dass sie ihrem Schicksal
nicht entrinnen konnte. Aber wie würde es aussehen? Diese bange Frage war es, die sie ängstigte. »Erst wirst du dich einmal operieren lassen«, sagte sie. Sie klammerte sich an diesen Gedanken, weil sie damit ihre eigenen Probleme vorerst vergessen konnte. »Ja, schon morgen«, bestätigte er. Und nun schwang auch in seiner Stimme so etwas wie Angst mit. Tröstend tastete Irma nach seiner Hand. Er klammerte sich an ihren Fingern fest und ließ sie bis zum Haus nicht mehr los. Als er am nächsten Morgen das Haus verließ, stand Irma am Fenster und winkte. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie hörte das Geräusch des abfahrenden Wagens. »Alles Gute, Wolfgang«, murmelte sie.
*
Herta Göldner kam die breite Hoteltreppe herab. Sie trug ein kostbares langes Abendkleid. Das lange rote Haar hatte sie zu einer Hochfrisur aufgesteckt. Sie sah raffiniert und verführerisch aus. Die winzigen Fältchen, die sie ihrem ausschweifendem Leben verdankte, hatte sie unter Schminke und Puder versteckt. Sie registrierte jeden einzelnen männlichen Blick, der ihr folgte. Nach dieser Bewunderung lechzte sie wie eine Blume nach Wasser. O ja, man konnte sehr angenehm leben, wenn man genügend Geld besaß, überlegte sie. Und das hatte sie. Wolfgang war bei der Scheidung sehr großzügig gewesen. Sie konnte sich alles leisten, wonach ihr Herz verlangte. Und sie gab das Geld mit vollen Händen aus. Suchend blickte sie sich nun in der Hotelhalle um. Wo war Don Juan, ihr spanischer Freund und Begleiter? Zur Bar hin war eine Wand in Kopfhöhe unterbrochen. Dort entdeckte sie Juans
edlen Rassekopf. Er entstammte einem uralten liberischen Adelsgeschlecht und war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Er besaß rassige Züge, feurige Augen und gewelltes dunkles Haar. Jetzt lachte er, sodass seine weißen Zähne in dem dunklen Gesicht aufblitzten. Hertas Blut begann schneller zu zirkulieren. So schnell das lange Kleid es erlaubte, ging sie zur Bar. Doch am Eingang blieb sie ruckartig stehen. Auf dem Barhocker neben Juan saß ein blutjunges Mädchen. Süß sah die Kleine aus. Doch was fiel diesem Casanova ein? Zorn stieg in Herta hoch. Ich bezahle alle seine Rechnungen, und er flirtet mit anderen Frauen, dachte sie erbost. Energisch raffte sie ihr Kleid hoch und marschierte auf Juan zu. Im Spiegel sah er sie kommen und wandte sich lächelnd um. »Ah, Herta, da bist du ja.« »Ja, da bin ich«, fauchte sie und warf der Blondine einen vernichtenden Blick zu. »Ich sehe, du bist in Gesellschaft.« »Ach so!« Er lachte. »Eine alte Freundin. Ich habe sie zufällig hier wieder getroffen.« »So? Zufällig! Ganz zufällig, wie?« Ihre Stimme wurde schrill. »Herta, ich bitte dich«, begann Juan. »Ach was, du bittest mich! Worum denn? Schon wieder um Geld?« »Das auch«, entgegnete er zynisch. »Bitte, begleiche hier die Rechnung. Dann können wir uns an einem ruhigeren Ort weiter unterhalten.« »Ich denke nicht daran, für dich und auch noch für deine alte Freundin zu bezahlen. Zahl' doch selbst«, höhnte sie. »Du weißt, dass ich momentan kein Geld bei mir habe«, zischte er leise. »Was heißt hier momentan? Du hast doch nie Geld. Weißt du, was ich allmählich glaube?« »Was denn?« Seine Stimme vibrierte. Der Barkeeper schaute schon neugierig herüber.
»Dass du es nur auf mein Geld abgesehen hast«, warf sie ihm vor. Er wurde blass. »Wenn du das glaubst und hier auch nicht bezahlen willst, dann verschwinde doch gleich«, fuhr er sie nun brutal an. »So also ist das.« Herta schluckte. Und um nicht vor Wut und Zorn in Tränen auszubrechen, wandte sie sich schnell um und verließ die Bar. »Meinen Zimmerschlüssel, bitte«, verlangte sie an der Rezeption. Dann taumelte sie zum Lift und fuhr in den zweiten Stock hinauf. Erst in ihrem Zimmer verlor sie die Beherrschung. Sie begann zu heulen, zu schreien und zu toben. »So ein gemeiner Schuft! Dieser widerliche Kerl! Was fällt ihm eigentlich ein? Er betrügt mich! Jawohl, er betrügt mich! Mit diesem jungen Ding da unten und vielleicht auch noch mit anderen! Ich werde Schluss mit ihm machen. Genau das werde ich tun!« Herta schminkte sich ab und ging zu Bett. Müde und resigniert. Dabei beschloss sie erneut, Juan zu verlassen. Was nützt mir ein Liebhaber, der es nur auf mein Geld abgesehen hat?, fragte sie sich. Dann überschlug sie im Geist, wie viel sie schon für ihn ausgegeben hatte. Es war eine beträchtliche Summe. Nein, so kann das nicht weitergehen, sagte sie sich. Dann nahm sie zwei Schlaftabletten und schlief fast augenblicklich ein. Der nächste Morgen brachte ihr eine böse Überraschung. Durch die Verbindungstür betrat sie Juans Zimmer und fand es leer. All seine Sachen waren verschwunden. Sie öffnete sämtliche Schubladen und Schränke. Leer! Ein Telefongespräch mit der Rezeption klärte sie schließlich darüber auf, dass ihr Begleiter bereits am frühen Morgen abgereist war. Herta begann zu lachen. »Er hat mich verlassen, noch bevor ich ihn verlassen konnte« Doch ihre Eitelkeit war verletzt. Sie ging ins Bad und zog sich dann an. Als sie ihren Schmuck anlegen wollte, fand sie ihn nirgends. Dabei wußte sie genau, dass sie ihn am vorherigen Abend auf die Kommode gelegt hatte. Ein fürchterlicher Verdacht stieg in ihr auf. Sollte Juan …? In fieberhafter Eile suchte sie nach der Kassette mit dem Bargeld. Sie stand noch auf dem alten
Platz. Doch sie war leer. »Nein«, stieß Herta entsetzt hervor. »Nein! Das kann nicht sein! Er hat mich bestohlen!« Sie sank auf den nächsten Stuhl. »Und ausgerechnet mir muss so etwas ieren!« Sie schlug mit der Hand auf die Stuhllehne. »Dabei hatte ich geglaubt, unwiderstehlich zu sein. Aber er hat mich ja nicht einmal geliebt! Plötzlich sprang Herta auf. Ich werde die Polizei benachrichtigen, überlegte sie. Oder den Hoteldetektiv. Soll doch der feine spanische Graf als Dieb entlarvt werden. Ihre Hand griff nach dem weißen Telefon, zuckte jedoch wieder zurück. Sie dachte an die Blamage. Das ganze Hotel würde erfahren, dass ihr Liebhaber mit ihrem Geld und ihrem Schmuck auf und davon gegangen war. »Nein, das ertrage ich nicht!« Herta sah plötzlich sehr alt aus. Die Fältchen in ihrem Gesicht waren zu Falten geworden. Und die Haut zeigte einen grauen, ungesunden Ton. Noch am gleichen Tag zog Herta Göldner aus dem eleganten und teuren Hotel aus. Auf der Bank hob sie den Rest ihres Bargeldes ab. Dann verließ sie die Stadt.
*
»Irma!« Aufgeregt lief Friederike Göldner durch das Haus. Irma kam die Treppe herunter. Schon ziemlich schnell und sicher. »Ja, Frau Göldner?« »Irma, stell’ dir vor, Wolfgang wird morgen aus dem Krankenhaus entlassen.« »Oh!« Irma tastete nach einem Stuhl. Sie musste sich setzen. »So bald schon? Das ging aber schnell.« »Ja, kaum drei Wochen sind seit der Operation vergangen. Die Narben sind
angeblich gut verheilt. Doch der Arzt meint, dass noch einige Operationen notwendig sein würden, um seine Züge völlig wiederherzustellen.« »Noch mehrere Operationen?« Irma erschrak. »Ja, so etwas kann nicht mit einem einzigen Eingriff in Ordnung gebracht werden.« Friederike gab das weiter, was sie von dem Arzt und auch von ihrem Sohn erfahren hatte. »Wird er sich auch diesen Operationen unterziehen?« »Ich hoffe, er wird es tun.« Friederike Göldner faltete unwillkürlich die Hände. »Aber du kennst ihn ja. Es war schon eine enorme Leistung von dir, ihn zu dieser ersten Operation zu bewegen.« Ja, Irma erinnerte sich daran. »Aber nun muss er weitermachen«, brach es aus ihr hervor. »Er kann doch nicht auf halbem Weg stehen bleiben.« Friederike legte ihre Hände auf Irmas Schultern. »Mach' es ihm klar. Du wirst es schaffen. Ich weiß es.« Irma nickte und überlegte, wie Wolfgang jetzt wohl aussehen mochte. »Werden Sie ihn morgen abholen?« »Ja. Herr Huber fährt mich zum Krankenhaus.«
*
Wolfgang Göldner hatte sich tatsächlich sehr zu seinem Vorteil verändert. Doch die Spuren der Verletzung sah man noch immer. Um sie ganz zu beseitigen, waren noch zwei bis drei Operationen notwendig. Zu Hause stand Wolfgang in seinem Bad vor dem Spiegel. Kritisch betrachtete er sein Gesicht. »Zum Fürchten sehe ich nicht mehr aus«, sagte er mit
grimmigem Humor zu seinem Spiegelbild. »Aber normal auch noch nicht.« Er wandte sich vom Spiegel ab. Noch zwei bis drei Operationen, dachte er. Noch dreimal drei Wochen oder länger im Krankenhaus liegen. Nein, vorläufig nicht. Zuerst habe ich wichtigere Dinge zu erledigen. Dabei dachte Wolfgang an Irma. Ihr musste jetzt geholfen werden. Gleich morgen wollte er die Verbindung mit der Schweizer Klinik wieder aufnehmen. Doch jetzt wollte er sie zunächst einmal wiedersehen. Er erwartete sie jeden Moment. Als Irma kam, brachte sie ein Sträußchen Schneeglöckchen mit. »Die sind für dich. Aus unserem Garten. Kannst du sie selbst in ein Väschen stellen?« Gerührt nahm er ihr die Blumen ab. Dabei hauchte er einen Kuss auf ihre Hand. »Danke, Irma.« Sie errötete. »Komm, setz dich.« Er nahm sie bei der Hand und führte sie zur Couch. »Drei Wochen lang habe ich mich auf diese Dämmerstunde mit dir gefreut. Weißt du, wie lang drei Wochen sein können?« »O ja«, antwortete sie sehr bestimmt und dachte daran, wie leer und verlassen ihr das Haus in den vergangenen zwanzig Tagen vorgekommen war. »Auch du hast mir gefehlt«, gestand sie leise. Er setzte sich zu ihr, und ihre Finger glitten ganz, ganz sacht über sein Gesicht. »Ich spüre keine Narben mehr.« »Sie sind noch da.« Er nahm ihre Finger und führte sie zu den winzigen Schnitten. »Spürst du es?« »Ja. Tut es noch sehr weh?« »Nein, gar nicht mehr.« Er hielt ihre tastenden Finger fest und schmiegte seine heiße Wange in ihre kühle Handfläche. Irma hielt ganz still und tastete nun auch mit der anderen Hand nach seinem Gesicht. Ihre Finger machten eine kleine, zärtliche Entdeckungsreise. Sie erkundeten den Bogen der Nase, den Haaransatz und berührten schließlich kaum spürbar die Lippen.
Jäh erwachte in ihm der Wunsch, sie in die Arme zu nehmen. »Irma«, flüsterte er heiser und zog sie an sich. Ihre Arme fanden den Weg zu seinem Hals. Ein paar unwirkliche, glückliche Sekunden lang presste er sie an sich. Ihr schwindelte. Sie glaubte vor Glück nicht atmen zu können. Dann gab er sie erschrocken frei. Wie kann ich nur so etwas wagen?, fragte er sich ernüchtert und stand auf. Im nächsten Moment klopfte es. Friederike brachte ein Tablett mit Tee und Gebäck. Irma strich sich verwirrt das Haar glatt. Zu schnell und zu ernüchternd war sie aus Wolfgangs Armen in die Wirklichkeit zurückgekehrt.
*
Ruhelos zog Herta Göldner von einem Hotel ins andere. Von Stadt zu Stadt. Nirgends hielt sie es länger als ein paar Tage aus. Und dann war auch der Rest des Geldes, das sie noch besessen hatte, verbraucht. Von ihrem Liebhaber verlassen, ohne Geld stand sie nun da. Was nun? In einem Café in München bestellte sie sich zu einer Tasse Kaffee bereits den zweiten Cognac. Die Zigarettenkippen in ihrem Aschenbecher häuften sich. Sie dachte nach. Wie sollte sie zu Geld kommen, um ihr bequemes, nutzloses Leben weiterführen zu können? Das Haus am Starnberger See fiel ihr ein. Wolfgang war zwar nicht mehr ihr Mann, aber er besaß genügend Geld. An seiner Seite ist mir ein angenehmes, luxuriöses Leben sicher, dachte sie und stürzte den Cognac in einem Zug hinunter. »Zahlen, bitte!« Herta stand auf und warf achtlos einen Zehneuroschein auf den Tisch. »Der Rest ist für Sie.« Sie hastete aus dem Café. Wo war der nächste Taxistandplatz? Ihr Entschluss stand fest. Sie würde Wolfgang, ihren geschiedenen Mann, aufsuchen. Doch sie
kam gar nicht auf den Gedanken, mit dem Zug nach Starnberg zu fahren. Ein Taxi war ja viel bequemer. Auch wenn es das letzte Geld kostete. Es war ein milder Föhntag. Die Sonne erinnerte an den kommenden Frühling. Doch vorerst war noch Winter. Herta fand ein Taxi. Sie musste eine Vorauszahlung leisten, bevor der erstaunte Mann bereit war, sie bis zum Starnberger See zu fahren. Unterwegs zog Herta den Taschenspiegel aus der Handtasche und erneuerte ihr Make-up. Was er wohl sagen wird, wenn er mich sieht? fragte sie sich. Keine Sekunde zog sie in Erwägung, dass Wolfgang sich nicht freuen könnte. Er hatte sie doch so geliebt. Und er war jetzt allein. Allein und hässlich und von der Welt abgeschieden. Er musste froh sein, wenn sie zu ihm zurückkam. Denn eine Frau würde er doch nicht mehr finden. Ein Gesichtsverletzter, dachte sie verächtlich. Und bei dem Gedanken an seine Narben verzog sich ihr Gesicht. Doch sie nahm sich vor, die reuige Sünderin zu spielen. Dann wird er mich mit offenen Armen aufnehmen, kalkulierte sie. Das Taxi verließ die Autobahn und fuhr nun am Seeufer entlang. Dann hielt es vor dem abgelegenen Haus in dem großen Garten. Herta zahlte und stieg aus. »Soll ich auf Sie warten?«, fragte der Mann. Herta lachte. »Aber nein. Ich bleibe hier.« Bereits beim Geräusch des vorfahrenden Autos war Friederike Göldner zum Fenster getreten. Aber erst, als sie Hertas Lachen hörte, wußte sie, wer die unerwartete Besucherin war. Bleich und erschrocken kam sie in die Wohnhalle. »Wer ist der Besuch?«, fragte Irma bange. Sie hatte das Frauenlachen ebenfalls gehört. Friederike suchte Halt an einer Stuhllehne. Mit allem hätte sie gerechnet, nur nicht damit, dass ihre Schwiegertochter zurückkommen könnte. »Es ist Herta.« »Nein!« Irma war aufgesprungen. Sie dachte an Wolfgang. Das kann sie ihm doch nicht antun, überlegte sie. Er ist gerade dabei, zu vergessen und wieder ein
fröhlicher Mensch zu werden. Warum kommt sie zurück? Will sie ihn wieder in die Trostlosigkeit zurückreißen, in der sie ihn verlassen hat? Da schellte es auch schon energisch und fordernd an der Tür. Hanna Winter schaute fragend auf ihre Herrin. »Öffnen Sie«, ordnete Friederike mit schwacher Stimme an. »Wird man denn in sein eigenes Haus nicht mehr eingelassen?«, beschwerte sich Herta lautstark, als sie die Wohnhalle betrat. »Darf ich dich daran erinnern, dass dies nicht mehr dein Haus ist«, erwiderte Friederike. Sie war aufgestanden und vor Herta getreten. Ihre bleichen Lippen zitterten. Sie musste all ihre Kräfte zusammennehmen, um sich Herta gegenüber behaupten zu können. Irma klammerte sich zitternd an ihrem Stuhl fest. Sie darf nicht zu Wolfgang, dachte sie immerzu. »Nicht mehr mein Haus? Du scherzst wohl, liebe Schwiegermama? Ich bin zwar von deinem Sohn geschieden, aber noch immer die Mutter seiner Kinder.« »Eine schöne Mutter, die ihre Kinder im Stich lässt«, brach es aus Friederike bitter hervor. »Du hast deinen Mann in der schlimmsten Not verlassen und auf einer Scheidung bestanden. Was willst du also noch?« Herta zuckte nachlässig und arrogant mit den Schultern. »Warum soll ich mich mit dir herumstreiten? Ich bin gekommen, um Wolfgang zu sehen. Und du wirst mich nicht daran hindern.« »Doch, das werde ich.« Friederike vertrat ihrer Schwiegertochter den Weg. »Ich erlaube nicht, dass du zu ihm gehst. Und er will dich auch gar nicht sehen.« »Das soll er mir doch selbst sagen«, höhnte Herta. Sie war sich ihres Erfolges sicher. Angriffslustig und überheblich warf sie mit einer Bewegung des Kopfes ihr langes rotes Haar in den Nacken. Dabei entdeckte sie Irma. »Nanu, wen haben wir denn da? Ist das nicht …« »Jawohl, das ist Irma Winter«, unterbrach Friederike sie.
Herta trat vor das Mädchen und betrachtete es von oben herab. Wie hübsch sie war, die Kleine. Und sie hielt sich dauernd in Wolfgangs Nähe auf. »Was ist? Erkennst du mich nicht mehr?«, fuhr sie Irma an. Die zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Krampfhaft kämpfte sie gegen die Tränen an. »Lass Irma in Ruhe«, mischte sich da Friederike energisch ein. »Sie hat Schweres durchgemacht.« »Ach, in diesem Haus scheint jeder Schweres durchgemacht zu haben?« »So ist es. Und deshalb bitte ich dich, uns nicht länger zu stören«, verlangte Friederike. Herta lachte wieder. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du mich so leicht wieder loswerden kannst? Ich gehe jetzt zu Wolfgang.« Zitternd hielt Irma die Luft an, während Friederike ihrer ehemaligen Schwiegertochter den Weg vertrat. Doch Herta schob die ältere Frau einfach beiseite. Sie öffnete die Tür, die von der Wohnhalle zu Wolfgangs Räumen führte. »Nein«, stöhnte Irma. Sie dachte in diesem Moment nicht an sich selbst, nicht an das, was sie für Wolfgang empfand. Sie bangte nur um ihn. Musste ein Wiedersehen mit Herta sein eben erst mühsam errungenes seelisches Gleichgewicht nicht wieder zerstören? Unwillkürlich faltete sie die Hände und wandte den Kopf in die Richtung, in der sie Friederike Göldner vermutete. Ein leises Aufschluchzen verriet ihr, dass Wolfgangs Mutter weinte. »Sie wird ihn wieder vernichten«, flüsterte Friederike verzweifelt. »Sie wird all das Leid und die Bitterkeit wieder heraufbeschwören, die er schon fast vergessen hatte. Warum musste sie wieder hier auftauchen?« »Vielleicht will er nichts mehr von ihr wissen. Vielleicht schickt er sie wieder fort«, entgegnete Irma leise. Doch sie glaubte selbst nicht an das, was sie sagte. Inzwischen hatte Herta Wolfgangs Zimmer erreicht. Ohne anzuklopfen trat sie
ein. Da das oberste Drittel der Jalousien heruntergelassen war, lag das Zimmer in einem gedämpften Licht. Ihre Augen mussten sich erst daran gewöhnen. Doch dann sah sie ihren geschiedenen Mann. Wolfgang war hinter seinem Schreibtisch aufgesprungen und starrte sie an wie einen Geist. »Herta«, brachte er schließlich hervor. Mit wiegenden Hüften ging sie auf ihn zu. Keine Sekunde vergaß sie die Rolle, die sie spielte. »Ja, ich bin es, Wolfgang.« Sogar ihre Stimme hatte jetzt einen sanften Klang. Den Klang, den er so liebte. Mit einer zurückhaltenden Geste, die sie vorher einstudiert hatte, streckte sie ihm ihre Hand entgegen. Verwirrt griff er danach. »Willst du mir keinen Platz anbieten?« Er deutete mit der Hand zur Couch. Noch immer hatte er sich von seiner Überraschung nicht erholt. Während sie sich setzte, kokett die Beine übereinanderschlug und sich eine Zigarette anzündete, fasste er sich. »Was führt dich zu mir, Herta?« Sie hörte den schneidenden Ton seiner Stimme und fuhr herum. »Was für eine Frage, Wolfgang?« »Eine ganz normale.« Er setzte sich ihr gegenüber. »Immerhin sind wir geschieden. Du wolltest nichts mehr von mir wissen. Und das Leben hier war dir zu langweilig.« »Ich habe einen großen Fehler gemacht«, sagte sie und senkte berechnenderweise den Blick. »So?« Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Darf man erfahren, was du dir vorwirfst?« Sein Ton irritierte sie etwas. Das war nicht mehr der Wolfgang, den sie verlassen hatte, der darunter gelitten hatte, dass sie ihn verlassen hatte. Trotzdem spielte sie ihre Rolle weiter. Sie blickte auf, sah ihm direkt in die Augen. »Ich hätte dich niemals verlassen dürfen«, erklärte sie. Herta hoffte, noch immer Macht über ihn zu besitzen. Doch seine Reaktion
entsetzte sie. »Dazu ist es zu spät, Herta. Das hättest du dir früher überlegen müssen.« Sie sprang auf. »Wolfgang, das kann doch nicht dein Ernst sein!« »Es ist mir genauso ernst damit, wie es dir seinerzeit mit der Scheidung ernst war.« Nun schwang doch Bitterkeit in seiner Stimme mit. Herta wertete das als ein gutes Zeichen. »Wir machen alle einmal einen Fehler. Man muss doch verzeihen können.« Er schaute sie an. »Wenn es dir nur darum geht, ich habe dir verziehen.« Zögernd trat sie zu ihm. »Dann … dann erlaubst du also, dass ich bleibe?« »Du willst bleiben?«, fragte er befremdet. Sie nickte. »Wir könnten doch noch einmal von vorn anfangen?« »Es tut mir leid, Herta. Aber das geht nicht.« »Warum nicht? Ich denke, du hast mir verziehen?« »Das habe ich auch. Aber zu einem neuen Beginn gehört mehr.« Sie hob verständnislos die Schultern. Dann kam sie schmeichelnd näher. »Aber du liebst mich doch noch, Wolfgang?« Er straffte seine Schultern und blickte ihr in die Augen. »Nein, Herta, das ist es ja gerade. Ich liebe dich nicht mehr.« Nun war es gesagt. Fast fühlte er sich erleichtert. Sie starrte ihn an wie vom Schlag gerührt. Mit allem hätte sie gerechnet. Dass er geschrien, getobt oder ihr Vorwürfe gemacht hätte. Doch diesem kühlen, sachlichen, fast interesselosem Ton war sie nicht gewachsen. »Du liebst mich nicht mehr?«, fragte sie, als habe sie nicht recht verstanden. »Meine Liebe zu dir ist gestorben«, wiederholte er. Es bereitete ihm nicht einmal Genugtuung, ihr das zu sagen. In all den einsamen Wochen, in denen er so sehr
gelitten hatte, hatte er sich einen solchen Moment gewünscht und wieder und wieder ausgemalt. Jetzt lag ihm nichts mehr daran, sie zu treffen. Er war darüber hinweg. Das stellte er fast erleichtert fest. Herta konnte nicht glauben, was sie hörte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihn zurückzugewinnen. Sie unternahm einen letzten Versuch. Mit all der Koketterie, deren sie fähig war, trat sie zu ihm. »Hast du all die schönen Stunden vergessen, die wir gemeinsam verbracht haben?« Ihre Koketterie prallte wirkungslos an ihm ab. »Das habe ich nicht. Ich denke gern an die schöne Zeit unserer Ehe zurück. Doch deshalb verspüre ich nicht den Wunsch, noch einmal von vorn zu beginnen. Es gab nämlich auch sehr viel schlechte Stunden.« Sein sachlicher Ton irritierte sie, nahm ihr allen Wind aus den Segeln. Das war nicht mehr der Wolfgang, den sie verlassen hatte. Wäre er noch so wie früher, dann wäre er Wachs in ihren Händen. Doch sie hatte die Macht über ihn verloren. Daran war bestimmt diese Irma schuld. Mit ihrem schönen Unschuldsgesicht. Auf so etwas fielen Männer ja nur allzugern herein. »Ich nehme an, du hast eine andere Frau«, sagte Herta brüsk. Er fuhr herum. »Wie kommst du auf diese Idee?« »Sie liegt ja auf der Hand. Ich bin vorhin in der Halle Irma Winter begegnet. Schön ist sie geworden.« Aus Hertas Mund klang das Kompliment eher wie eine Beleidigung. »Bist du jetzt schon so weit heruntergekommen, dass du auf die Verwandtschaft deiner Angestellten zurückgreifen musst?« »Halt den Mund!«, fuhr er sie an. »Du weißt nicht, wovon du sprichst. Irma ist vom Schicksal schwer getroffen worden.« »Sieh an«, höhnte Herta. »Per Du seid ihr also auch schon. Diese kleine Kokette hat dich ziemlich schnell um den Finger gewickelt. Das muss ich schon sagen.« Wolfgang war vor Herta hingetreten. Zorn färbte seine Augen dunkel. »Noch ein Wort, und ich werfe dich wahrhaftig hinaus.«
»Das würdest du nicht wagen.« »Ich würde es tun, verlass dich darauf.« Sie sah an seinen Augen, dass es ihm ernst war. Ohne einen Gruß, ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und rauschte zur Tür hinaus. Als sie die Wohnhalle betrat, war diese leer. Sie ziehen es vor, mir nicht mehr zu begegnen, dachte sie. Aber so leicht kommt ihr mir nicht davon. Mir wird schon etwas einfallen, um euch alle zu treffen. Jetzt betrat Friederike den Raum. »Wenn es dir recht ist, kann dich Herr Huber zum Bahnhof fahren. Du hast ja dein Taxi weggeschickt.« »Zum Bahnhof?«, fauchte Herta verächtlich. »Er soll mich nach München fahren.« »Also gut«, meinte Friederike. Ihr ging es nur darum, Herta weit weg zu wissen. Ganz offensichtlich hatte sie bei Wolfgang keinen Erfolg gehabt. Darüber war die Mutter so froh, dass sie noch ganz andere Zugeständnisse gemacht hätte. »Ich möchte wissen, wo meine Kinder sind«, verlangte Herta, während sie ihren Mantel zuknöpfte. »Hättest du doch Wolfgang danach gefragt. Ich mische mich nicht in eure Angelegenheiten ein.« »Ach? Aber du hast ihm dieses Mädchen ins Haus gebracht?« »Ich bitte dich«, stammelte Friederike, »Irma hatte einen Unfall. Sie ist blind und wußte nicht, wohin.« Einen Moment lang stutzte Herta. Doch sie zeigte sich nicht erschüttert. »So«, meinte sie nur oberflächlich. »Na, dann en die beiden ja gut zusammen.« »Wie gemein du sein kannst«, flüsterte Friederike erschüttert. Dann wandte sie sich ab und flüchtete aus dem Zimmer. Herta gab den Plan, ihre Kinder zu suchen, wieder auf. Es war ihr zu umständlich. Während sie zum Auto ging, begann sie bereits einen anderen Racheplan zu schmieden. Sie nannte dem Hausmeister eine Adresse in München
und bat ihn, sie dorthin zu fahren. Es war die Anschrift von Ralf Dornier, einem Cousin von Wolfgang. Mit ihm habe ich mich eigentlich immer gut verstanden, überlegte sie während der Fahrt. Er ist von der gleichen Art wie ich. Nicht zimperlich und für Geld zu allem zu gewinnen. Die winterliche Landschaft flog an ihr vorbei. Die weiße Schneefläche wurde von der Sonne bestrahlt und glitzerte und funkelte, als lägen Diamanten darauf. Doch Herta hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Sie dachte nur noch an ihren hinterhältigen Plan. Bald darauf klingelte sie an der Tür einer eleganten Dachterrassenwohnung am Rand von München. Ein etwa zweiundvierzigjähriger, gut aussehender Junggeselle öffnete. »Herta, du?«, staunte er. »Ralf, Gott sei dank, dass du zu Hause bist. Darf ich hereinkommen?« »Aber natürlich, bitte!« Er trat zur Seite. Auf seinem Gesicht spiegelte sich noch immer die Überraschung. Herta betrat eine kostspielig eingerichtete Wohnung. »Donnerwetter«, staunte sie. »Bist du plötzlich zu Geld gekommen?« »Leider nicht«, antwortete er. »Die Einrichtung dieser Wohnung hat meine letzten Barmittel verschlungen.« Das ist gut. dachte sie. »Einen Whisky, Herta?« »Ja, gern.« Einen Moment lang dachte sie daran, dass sie ja selbst kein Geld mehr besaß. Aber für das, was sie vorhatte, konnte sie Ralf nur mit einem großzügigen Geldangebot gewinnen. Immerhin besaß sie noch wertvollen Schmuck. Der ließ sich ja verkaufen. »Auf unser Wiedersehen!« Ralf hob sein Glas. Mit einem gierigen Zug kippte Herta das scharfe Getränk in sich hinein. »Wie ich sehe, hast du das Trinken inzwischen nicht verlernt«, meinte er grinsend.
»Nein. Im Gegenteil. Schenk' doch noch einmal ein.« »Mit Vergnügen.« Er füllte ihr Glas aufs Neue und gab Eis hinzu. »Bist du zufällig in München?« »Eigentlich ja. Aber zu dir bin ich mit einer bestimmten Absicht gekommen. Ich war gerade bei Wolfgang.« Er hob fragend die Augenbrauen. »Wärst du an einem Geschäft interessiert, Ralf?« »Es kommt immer darauf an, was dabei herausspringt«, parierte er prompt. »Geld!« Sie nannte ihm einen ansehnlichen Betrag. »Dafür könnte ich schon eine ganze Menge tun«, meinte er. »Nun, erzähl schon.« »Also, auf.« Sie schilderte ihm nun ihr Zusammentreffen mit Wolfgang und vergaß auch nicht, Irma zu erwähnen. »Weißt du nun, was ich glaube?«, fragte sie abschließend. »Dass dieses Mädchen deinem Mann über die Enttäuschung hinweggeholfen hat?« »Genau. Wahrscheinlich hat er sich in sie verliebt. Hübsch genug ist sie ja.« »So?« fragte Ralf. Diese Aussicht reizte ihn doppelt, auf Hertas Plan einzugehen. Sie hatte ihm nämlich vorgeschlagen, sich für einige Zeit in dem Haus am Starnberger See einzuquartieren. Das müsste ihm gelingen, da er von jeher ein gutes Verhältnis zu seinem Cousin Wolfgang gehabt hatte. »Du stellst dieser Irma also eine Falle«, wiederholte Herta noch einmal. »Tu so, als seist du in sie verliebt. Umarme sie, küsse sie oder unternimm sonst irgend etwas. Aber auf, dass Wolfgang euch dabei überrascht. Das ist wichtig. Er muss erkennen, wie treulos das kleine Biest ist.« »Verlass dich ganz auf mich. Mit dieser Irma werde ich schon fertig. Sprechen wir lieber über die Bezahlung. Die Hälfte sofort, den Rest, sobald ich deinen
Plan ausgeführt habe«, verlangte er. »Einverstanden. Du musst mir nur Zeit lassen, zur Bank zu gehen.« Sie meinte damit den Juwelier, bei dem sie einen Teil ihres Schmuckes verkaufen wollte. »Natürlich. Treffen wir uns doch zum Abendessen. Dann kannst du die erste Rate gleich mitbringen.« Sie hoben ihre Gläser. »Auf einen erfolgreichen Feldzug.«
*
Bald darauf hatte Wolfgang seinen Cousin tatsächlich eingeladen, für einige Zeit bei ihm zu wohnen. »Ich verstehe das nicht«, sagte Hanna zu Irma, als diese ihr beim Abtrocknen des Geschirrs half. »Was verstehst du nicht, Tante Hanna?« »Dass dieser Ralf Dornier bei uns wohnen will. Er hat doch eine neue Wohnung in München. Da steckt doch irgend etwas dahinter.« »Aber Tante Hanna, wer wird denn gleich so etwas vermuten?« »Ich kann mir nicht helfen, aber ich mag diesen Menschen nicht. Ich habe ich noch nie gemocht. Und ich glaube, Frau Göldner geht es genauso.« »Das bildest du dir nur ein. Wolfgang hatte immer ein gutes Verhältnis zu seinem Cousin. Das hat er mir selbst gesagt. Da ist es doch nur selbstverständlich, dass dieser Herr Dornier einmal ein paar Tage hier draußen in der frischen Luft entspannen möchte.« »Hoffen wir, dass es so harmlos ist, wie du sagst. Ich denke nur daran, wie gut sich Herta Göldner immer mit Ralf Dornier verstanden hat.« Nun war Irma doch ein ganz klein wenig nachdenklich geworden. Sie dachte an
die Komplimente, die Ralf Dornier ihr schon am ersten Tag gemacht hatte. An diesem Nachmittag überraschte der Gast Irma auf einer windgeschützten Bank im Garten. »Ein schönes Plätzchen haben Sie sich da ausgesucht, Frau Winter.« Er stand zwei Meter vor der Bank. Erschrocken fuhr Irmas Kopf in die Höhe. »Ich hörte Sie gar nicht kommen, Herr Dornier.« Dabei dachte sie: Seltsam, sonst höre ich es doch immer, wenn sich jemand nähert. »Wahrscheinlich waren Sie in Gedanken versunken«, lenkte er ab. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« »Bitte sehr.« Sie rückte zur Seite. Trotzdem setzte er sich so nah zu ihr, wie es nur ging. Sie rückte noch ein wenig ab und merkte, dass sie schon am Ende der Sitzfläche war. Mit gesenktem Kopf, die Hände im Schoß gefaltet, saß sie da. Da spürte sie plötzlich eine warme Handfläche auf ihren Fingern. Erschrocken zuckte sie zurück. »Bitte nicht, Herr Dornier.« »Aber wer wird denn so ängstlich sein?«, schmeichelte er. »Ich hatte den Verdacht, dass es für Sie trotz der Sonne viel zu kalt hier draußen ist«, log er. »Sehen Sie, ich habe recht. Wie kalt Ihre Hände sind.« Mit einer selbstverständlichen Geste umschloss er ihre Finger mit beiden Händen und tat so, als wollte er sie wärmen. Dabei überlegte er, ob Wolfgang sie vom Haus aus wohl sehen konnte. Wolfgang Golden konnte die beiden sehen. Und er beobachtete sie auch. Natürlich sah er nicht, dass Ralf Irmas Hände wärmte. Dazu waren die beiden zu weit von ihm entfernt. Aber er fragte sich, wie lange Irma wohl an der Seite seines Cousins dort sitzen bleiben würde. Er hatte gesehen, wie Ralf zu ihr gegangen war. Offensichtlich gefiel sie ihm. Kein Wunder, sie war ja auch ein bildschönes Mädchen. Ein bisschen Wehmut stieg in Wolfgang hoch. Auch wenn Irma blind war, konnte sie ganz offensichtlich noch andere Männer haben. Warum sollte sie sich dann ausgerechnet für einen Krüppel wie ihn entscheiden? Doch plötzlich flog ein heller Schein über sein Gesicht. Irma war aufgestanden und kam zum Haus zurück. Ralf lief hinter ihr her. Ganz offensichtlich versuchte er sie zu überreden, doch noch zu bleiben. Wolfgang schloss das aus den Gesten
seines Cousins. Tatsächlich war Ralf enttäuscht, dass Irma sich so schnell zurückzog. »Habe ich Sie vertrieben?« Er versuchte seiner Stimme einen schuldbewussten Klang zu geben, was ihm auch gelang. »Aber nein, Herr Dornier.« »Nennen Sie mich doch Ralf. Das klingt nicht so steif.« Dann wird er mich Irma nennen, überlegte sie. Und was wird Wolfgang dann denken? »Ich glaube, es ist besser, wir bleiben bei der üblichen Anrede«, murmelte sie. Ralf machte eine unwillige Geste. Er hatte sich ein leichteres Spiel mit diesem Mädchen vorgestellt. Er hatte in ihr ein dummes kleines Gänschen gesehen und geglaubt, sie schon in den ersten Tagen überrumpeln zu können. Doch nun befand er sich schon über eine Woche am Starnberger See und wußte die meiste Zeit nicht, was er vor Langeweile beginnen sollte. Also suchte er immer öfter Irmas Gesellschaft. Auch an den Abenden. »Seien Sie doch nicht so grausam«, sagte er an diesem Abend zu ihr, als sie sich weigerte, noch einen späten Spaziergang mit ihm zu machen. Es war erst sechs Uhr, doch schon fast völlig dunkel. »Ich habe keine Lust, so spät noch hinauszugehen.« »Das stimmt nicht. Ich weiß zum Beispiel, dass Sie mit Wolfgang öfters nächtliche Spaziergänge unternehmen.« Irma lauschte seiner Stimme nach. Erstaunen prägte sich auf ihrem Gesicht. »Das ist doch wohl etwas anderes«, sagte sie abweisend. Dann hörte sie das leise Geräusch einer sich schließenden Tür. Doch ihr fein ausgeprägtes Gehör konnte diesmal nicht ausmachen, ob es die Tür von Wolfgangs Räumen war. Dann hörte sie Wolfgangs Stimme. »Guten Abend.« Er hatte die letzten Sätze von Irmas Unterhaltung mit Ralf mit angehört. Ihre Reaktion freute ihn ungemein und besänftigte seine Eifersucht. Eigentlich hatte er tatsächlich vorgehabt, Irma zu einem späten Spaziergang einzuladen. Doch er wollte Ralf seine Niederlage nicht zu deutlich spüren lassen. Aber Ralf wußte auch so, wo er stand. Ich muss etwas unternehmen, nahm er
sich vor, oder ich sitze noch wochenlang in dieser Einsamkeit, ohne zum Ziel zu kommen. Ich will zurück nach München. Der Fasching läuft gerade jetzt auf vollen Touren. Und außerdem brauche ich das Geld von Herta. Immerhin hat sie mir einen ganz ansehnlichen Betrag versprochen. An diesem Abend schmiedete Ralf einen gemeinen, hinterlistigen Plan. Er wollte Irma überrumpeln. Da sie nicht sehen konnte, würde ihm das nicht schwerfallen. In den folgenden zwei Tagen hielt Ralf sich fast unentwegt in Irmas Nähe auf. Er wollte sich ihren Tagesablauf ganz genau einprägen. Nur auf diese Weise konnte er eine Gelegenheit aben, in der Wolfgang in der Nähe sein würde. Da Ralf jetzt nicht mehr aufdringlich war, ging Irma bereitwillig auf seine Unterhaltung ein. So kam es, dass Wolfgang seinen Cousin und Irma in diesen Tagen öfter als sonst in ein Gespräch vertieft fand. Ab und zu hörte er sie sogar miteinander lachen. Seine Eifersucht vertiefte sich wieder. Also doch, dachte er. Trotzdem musste er sich ehrlicherweise eingestehen, dass Irma sich Ralf gegenüber noch genauso reserviert verhielt wie zuvor. Und dann kam jener Tag, der sich allen im Haus unauslöschlich ins Gedächtnis einprägen sollte. Es war ein sehr sonniger und warmer Wintertag. Da Irma es liebte, die wärmenden Strahlen auf ihrem Gesicht zu spüren, hatte sie sich ein windgeschütztes Plätzchen hinter dem Haus ausgesucht. Hier machte sie es sich auf einer verwitterten kleinen Holzbank bequem. Die Bank stand genau unter dem Fenster von Wolfgangs Schlafzimmer. Aber daran dachte Irma nicht. Sie konnte ja nicht annehmen, dass er sich am Vormittag in seinem Schlafzimmer aufhalten würde. Im Gegenteil. Sie wartete darauf, dass er aus dem Haus treten und ihr Gesellschaft leisten würde. Doch es war nicht Wolfgang, der zu ihr kam. Es war Ralf. Aber er imitierte Wolfgangs Schritt. Und es gelang ihm tatsächlich, Irma zu täuschen. Als er vor ihr stand, hob sie den Kopf. »Wolfgang?« Er antwortete nicht, sondern trat zu ihr. Und gerade in dem Moment, da er seine Arme um sie schlang, schaute Wolfgang oben aus dem Fenster. Einen Augenblick lang verharrte Irma in Ralfs Armen. Dann erst erkannte sie,
dass es nicht Wolfgang war, der sie umarmte. Doch dieser Augenblick hatte genügt, um Wolfgang zu täuschen. Er zuckte zurück. Mit einem Knall schloss er das Fenster. Das brachte Irma zu sich. »Sie sind es, Herr Dornier, und nicht Wolfgang«, keuchte sie empört und befreite sich aus Ralfs Armen. Grinsend gab er sie frei. Auch er hatte das Schließen des Fensters gehört. Er wußte, dass es nur Wolfgang gewesen sein konnte. Damit war sein Auftrag gelungen und erledigt. »Was fällt Ihnen ein!« fuhr Irma auf. »Ich wollte nur einmal sehen, wie leicht Sie zu haben sind«, höhnte er. Dann ließ er sie einfach stehen und ging ins Haus. Irma schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Sie wußte, Wolfgang hatte sie gesehen. Was das zu bedeuten hatte, war ihr nur zu gut bewusst. Er musste sich hintergangen fühlen. Jetzt würde sie sein Vertrauen, das sie sich so mühsam errungen hatte, wieder verlieren. Deshalb war sie verzweifelt. Als Ralf die Halle betrat, kam Wolfgang gerade aus seinen Räumen. Die beiden Männer maßen sich mit einem herausfordernden Blick. »Es dürfte dir ja nicht entgangen sein, dass ich euer heimliches Rendezvous im Garten beobachtet habe«, sagte Wolfgang eisig. »Was erwartest du also von mir?«, fragte Ralf mit dem Gehabe des Siegers. »Dass du abreist. Und zwar sofort!«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Das hatte ich ohnehin vor, dachte Ralf Dornier. Er nickte. »Dieser Aufforderung muss ich wohl nachkommen«, meinte er arrogant. »Betrachten wir dieses Gespräch also als Abschied, lieber Cousin.« Er verhöhnt mich auch noch, dachte Wolfgang. Zorn und verletzte Eitelkeit trieben ihm die Röte ins Gesicht. Mit einem mokanten Lächeln wandte sich Ralf ab. Er ging auf sein Zimmer und packte. Das wäre erledigt, dachte er erleichtert. Dass er zwei Menschen
unglücklich gemacht hatte, störte ihn nicht im geringsten. Er verließ das Haus am Starnberger See und dachte nur an das Geld, das Herta ihm noch schuldete. In Gedanken hatte er es bereits ausgegeben.
*
Irma taumelte ins Haus, die Augen voller Tränen. Wo war Wolfgang? Sie musste mit ihm sprechen, ihm alles erklären. Doch Wolfgang hatte sich in seine Räume zurückgezogen. Dem Personal hatte er die strikte Anweisung erteilt, dass er nicht gestört werden wolle. Auch nicht von Irma. Hanna Winter sagte es ihrer Nichte selbst. »Es tut mir ja so leid, Kind. Was ist denn nur geschehen?« »Ralf«, schluchzte Irma. Dann verlor sie vollends die Beherrschung. Sie sank der Tante in die Arme. Ihr Schluchzen war herzerweichend. Hanna Winter ließ ihre Nichte zunächst weinen. Doch dann führte sie sie zur Bank in der Küche und tupfte ihr die Tränen aus den blinden Augen. »So, nun erzählst du mir einmal der Reihe nach, was geschehen ist.« Friederike Göldner hatte die Küche lautlos betreten. Sie hörte Irmas Schilderung mit an. »Also hatten wir doch recht«, sagte sie, als Irma geendet hatte. Dabei schaute sie ihre Köchin vielsagend an. »Wovon sprecht ihr?« Irma war tastend aufgestanden. »Davon, dass wir Herrn Dornier von Anfang an nicht getraut haben«, antwortete Hanna für ihre Herrin. »Meines Erachtens steckt Herta dahinter«, sprach Friederike ihre Vermutung aus. »Sie meinen …« Irma konnte plötzlich nicht weitersprechen. Zu ungeheuerlich
war der Verdacht. Konnten Menschen überhaupt so gemein sein? Doch wenn sie an Hertas arrogantes Auftreten dachte, war sie fast geneigt, Friederikes Vermutung zu glauben. »Sie meinen, dass Ihre Schwiegertochter Herrn Dornier veranlasst hat, mich … mich zu …« »Dich in Wolfgangs Augen schlechtzumachen.« Friederike ballte erzürnt dieHände zu Fäusten. »Dieses hinterlistige Frauenzimmer!« »Ich kann das einfach nicht glauben«, sagte Irma leise. »Du musst mit Wolfgang sprechen, Irma«, drängte Friederike. »Je früher, desto besser.« »Er will niemanden sehen«, antwortete Hanna für ihre Nichte. »Er hat strikt verboten, dass irgendjemand seine Räume betritt.«
*
Währenddessen grübelte Wolfgang in seinem Zimmer verbissen vor sich hin. Er hatte die Jalousien heruntergelassen und die Tür versperrt. Sie sind alle gleich, dachte er. Bittere Enttäuschung trieb ihm ein trockenes Schluchzen in die Kehle. Doch weinen konnte er nicht. Er fraß den Schmerz in sich hinein und beschloss, in seinem ganzen Leben keinem Menschen mehr zu vertrauen. Zwei Tage lang ließ er niemanden zu sich. Er aß nichts und trank nichts und zog auch die Jalousien nicht hoch. »Wenn er heute nicht öffnet, dringe ich mit Gewalt bei ihm ein«, behauptete seine Mutter am dritten Tag resolut. Doch an diesem Tag gestattete Wolfgang ihr, ihm das Frühstück zu bringen. Aber als sie mit ihm sprechen wollte, wurde er grob und warf sie fast hinaus. »Ein einziges Wort über diese Sache, Mutter, und ich werde dir nicht mehr gestatten, zu mir zu kommen.«
Was sollte die verzweifelte Frau tun? Hilflos ließ sie ihren verzweifelten Sohn allein. Irma erwartete Friederike Göldner in der Küche. Ihre Augen brannten von den vielen ungeweinten Tränen. Sie erkannte die Antwort bereits an Friederikes schleppendem Gang. »Er will mich also nicht sehen?«, fragte sie zaghaft. Friederike schilderte ihre Unterhaltung mit ihrem Sohn. Da stand Irma auf und verließ die Küche. Sie litt unsagbar. Die beiden Frauen sahen es und konnten ihr doch nicht helfen. Allein saß das Mädchen stundenlang im Garten. Irma erkannte jetzt, dass sie Wolfgang liebte. Aber es war eine Liebe, die wehtat. Sehr, sehr weh. »Hör' auf, dich mit Selbstvorwürfen zu quälen, Irma«, riet Friederike ihr beim Mittagessen. Sie konnte kaum mitansehen, wie Irma da saß, in ihrem Essen nur herumstocherte und kaum einen Bissen hinunterbrachte. Wenn man ihr nur helfen könnte, dachte die erfahrene Frau verzweifelt. Doch sie wußte nicht wie. Kein Weg führte momentan zu dem verstockten und verschlossenen Herzen ihres Sohnes. Am Nachmittag ging Irma heimlich in den Teil des Hauses, den Wolfgang bewohnte. So, wie sie es schon einmal getan hatte. Vielleicht würde ein Wunder geschehen. Wie damals. Vielleicht würde er mit sich reden lassen. Zaghaft klopfte sie an seine Tür. »Wolfgang?« Keine Antwort. Er saß in seinem Zimmer und hörte sie. Doch er rührte sich nicht. »Ich bin es, Irma. Bitte, Wolfgang, ich muss dich sprechen.« Ihre Stimme schwankte bedenklich. Doch auch das rührte ihn nicht. Fast fünf Minuten lang ließ er sie betteln und klopfen. Aber er öffnete nicht. Da ging Irma wieder. Die Stunde, die auf diesen Besuch folgte, zählte zu den schlimmsten ihres Lebens. Sie litt genauso wie in dem Moment, da man ihr gesagt hatte, sie werde
nie mehr sehen können. »Wir müssen etwas unternehmen«, sagte Friederike Göldner zu ihrer Köchin. »Ich kann es nicht mehr mitansehen, wie Irma sich quält.« »Ich auch nicht«, flüsterte Hanna. »Es ist einfach zu grausam. Aber was können wir tun?« Mit einem fast kindlichen Vertrauen blickte sie zu ihrer Herrin auf. »Ich weiß, was wir tun. Wir bringen Irma in die Schweiz. Sie soll sich operieren lassen.« Banges Schweigen folgte. »Die Operation ist zu teuer. Wir können sie nicht bezahlen, Irma und ich«, gestand die Köchin dann beschämt und leise. »Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Hanna. Wozu habe ich denn das viele Geld? Ich werde die Operation bezahlen. Viel mehr Sorgen bereitet mir die Frage, ob Irma bereit sein wird, sich operieren zu lassen.« Doch Irma befand sich in einem Zustand, in dem ihr alles gleichgültig geworden war. Sie nickte nur resigniert, als Friederike Göldner und Hanna Winter ihr den Vorschlag unterbreiteten. »Du bist also einverstanden?«, vergewisserte sich Friederike Göldner noch einmal. Wieder nickte Irma. Gleichgültig, wie es schien. »Gut, dann werde ich mit der Klinik telefonieren und alles für unsere Abreise vorbereiten.« Friederike war erleichtert, dass sie etwas tun konnte. Es gab für sie nichts Schlimmeres, als tatenlos das Unglück mitansehen zu müssen. Der Professor der Schweizer Klinik war bereit, Irma bereits in den nächsten Tagen aufzunehmen. Doch da äußerte die Blinde eine überraschende Bitte. Sie bat, zuvor einen Abstecher nach Sophienlust machen zu dürfen. »Ich möchte noch einmal mit Katja und Kai sprechen«, erklärte sie. »Das ließe sich arrangieren«, meinte Friederike. »Statt von München fliegst du dann eben von Frankfurt aus in die Schweiz. Ich werde dich zusammen mit Herrn Huber selbst nach Sophienlust bringen.«
Am nächsten Morgen fuhren die drei ab. Irmas Augen schwammen in Tränen, als sie in das Auto stieg, ohne sich von Wolfgang verabschiedet zu haben. Warum war er nur so hart? Aber in gewisser Hinsicht konnte sie seine Enttäuschung verstehen. Auch wenn sie auf einem Missverständnis beruhte. Er wußte ja nicht, dass Ralf Dornier einen schmutzigen Trick angewandt hatte, um sie zu kompromittieren. Wenn ich es ihm nur hätte erklären können, wünschte sie noch in dieser Minute des Abschieds sehnlichst. Dann startete der Hausmeister den schweren Wagen, und sie verließen das Grundstück. Irma wandte den Kopf, obwohl sie nichts sehen konnte. Ihre Lippen formten Wolfgangs Namen. Sie erreichten Sophienlust am späten Nachmittag. Friederike hatte ihr Eintreffen telefonisch angekündigt. »Irma! Irma!« Katja und Kai kamen ihr aufgeregt entgegengesprungen. Mit einem schwachen Lächeln bereitete Irma die Arme aus, als sie die Stimmen der Kinder vernahm. Kai und Katja fielen ihr gleichzeitig um den Hals und warfen sie fast um. Denise von Schoenecker war nach Sophienlust gekommen und grüßte Friederike und deren Hausmeister. »Es kommt gar nicht in Frage, Frau Göldner, dass Sie heute noch zurückfahren«, wehrte sie ab. »Ich habe bereits für Sie und Herrn Huber Zimmer herrichten lassen. Bleiben Sie wenigstens die eine Nacht. Morgen, bei Tageslicht, ist die lange Autofahrt viel weniger anstrengend.« Irma schlief allein in einem Zimmer. Noch lange saßen Kai und Katja bei ihr und erzählten ihr alle Neuigkeiten. Irma lauschte aufmerksam den kindlichen Stimmen. Sie war dankbar für die Ablenkung. Am nächsten Morgen fuhr Friederike nach Hause zurück. Der Abschied von Irma fiel ihr schwer. Sie begriff, dass sie an dem Mädchen hing wie an einer eigenen Tochter. »Ich werde regelmäßig anrufen, um mich nach deinem Befinden zu erkundigen«, versprach sie. »Kopf hoch, mein Kind. Es geht bestimmt alles gut.« Komischerweise war es Irma auf einmal gleichgültig geworden, ob die Operation gelang oder nicht. Als zwischen ihr und Wolfgang noch alles in Ordnung gewesen war, hatte sie sich sehnlichst gewünscht, einmal seine Augen
sehen zu können. Die Narben hätten sie nicht gestört. Doch jetzt erwartete sie nichts mehr vom Leben. Wie eine kleine Verschwörerbande hockten einige Kinder nach dem Frühstück beisammen. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. »Wir müssen Irma ein wenig aufheitern«, sagte Katja. »Sie ist so traurig.« Kai und Henrik schlugen sofort verschiedene ausgelassene Spiele im Park vor. »Das geht doch nicht«, meinte Pünktchen daraufhin. »Wieso nicht?« »Wie soll sie denn mit uns spielen, wenn sie uns gar nicht sehen kann?«, antwortete Katja für Pünktchen. »Ich weiß etwas.« Pünktchen legte ihren Zeigefinger an die Nase. Das tat sie in letzter Zeit öfters, wenn sie überlegte. »Das Wetter ist sowieso nicht so schön. Wir setzen uns in den Musikpavillon und machen eine richtige gemütliche Erzähl- und Märchenstunde. So wie neulich an dem verregneten Nachmittag. Das war doch schön, oder?« Alle stimmten ihr zu. Sogar die Kinder, die sonst nur für ausgelassene Räuberspiele zu haben waren. Es wurde ein wirklich schöner und gemütlich-froher Sonntagvormittag. Auch Irma empfand das und bedankte sich dafür bei den Kindern. In den nächsten Tagen erholten sich Irmas Nerven im Umgang mit den Kindern. Irma wurde ruhiger. Katja und Kai wichen nicht von ihrer Seite. »Hoffentlich dürfen wir zu Hause sein, wenn du aus der Schweiz zurückkommst«, sagte Katja am letzten Tag von Irmas Besuch. »Ich hoffe es auch«, entgegnete Irma leise. Sie wünschte es sich wirklich, auch wenn sie nicht so recht daran glauben konnte. Wie würde Wolfgang sich künftig seinen Kindern gegenüber verhalten? Denise selbst brachte Irma zum Flughafen. Katja und Kai durften sie begleiten. Denise sprach mit einer Stewardess, die versprach, Irma während des Fluges zu betreuen. In Zürich wurde die Blinde von einem Wagen der Klinik erwartet. Das
war von Friederike Göldner so arrangiert worden. Dann kam der Abschied. Denise drückte Irmas Hand herzlich und schloss sie dann für einen Augenblick in die Arme. »Wir halten Ihnen die Daumen und wünschen Ihnen alles, alles Gute.« Danach lagen Katja und Kai in Irmas Armen. »Ich wünsche mir, dass du meine Mutti wirst«, flüsterte Katja ihrer geliebten Irma ins Ohr. Kai hatte es gehört. »Ich auch«, sagte er schnell. »Bitte, heirate unseren Vati, Irma.« Irma schluckte und schluckte und bemühte sich, ihre Rührung zu bewältigen. »Gebt eurem Vati einen Kuss von mir«, entgegnete sie leise. Dann zog sie die beiden Kinder ein letztes Mal an sich. Sie spürte ihre schmeichelnden Arme, die tränenfeuchten Gesichter und hatte einen Moment lang keinen anderen Wunsch, als diese Zuneigung für immer zu behalten.
*
Ralf versuchte sich mit Herta in Verbindung zu setzen, um den Rest der Bestechungssumme zu kassieren. Doch er wußte nicht, wo sie sich zur Zeit aufhielt. Fluchend ging er jeden Morgen die Post durch, doch nie war eine Nachricht von ihr dabei. »Sie kann mich doch anrufen, zum Kuckuck noch mal«, schimpfte er. »Ich möchte nur wissen, wo sie steckt.« Herta Göldner wohnte in einer billigen Pension in München. Sie fürchtete sich vor dem Moment, da Ralf sie finden würde. Denn der Erlös ihres Schmuckes hatte ihr nicht so viel Geld gebracht, dass sie ihm den Rest des vereinbarten Betrages aushändigen konnte. Ein gemeinsamer Bekannter nannte Ralf schließlich die Pension, in der Herta
wohnte. Sofort suchte er sie dort auf. Sie begrüßten einander frostig. »Warum lässt du nichts von dir hören?«, knurrte Ralf drohend. »Ich konnte doch nicht wissen, dass du schon zurück bist«, verteidigte sie sich. »Hat es geklappt?« »Natürlich hat es geklappt«, antwortete er gereizt. »Was hast du denn gedacht?« Er schilderte ihr nun seinen Aufenthalt in dem Haus am Starnberger See. Als er ihr die Szene mit Irma schilderte, klatschte Herta vergnügt in die Hände. »Herrlich!«, rief sie schadenfroh aus. »Ich kann mir direkt Wolfgangs Gesicht vorstellen. Und er hat dich aus dem Haus gewiesen, sagst du? Das ist der beste Beweis dafür, wie hart es ihn getroffen hat.« Sie rieb sich die Hände. Ralf betrachtete sie abwägend. »Jetzt bin ich an der Reihe«, erinnerte er sie. Herta blickte irritiert auf. »Bitte?« »Ich bin gekommen, um zu kassieren«, erklärte er brutal. »Oder, was dachtest du?« »Ich hätte nicht vermutet, dass du ausschließlich ans Geld denkst …«, versuchte sie abzulenken. »Na, an was denn sonst?«, fragte er verständnislos. »Ist dir unsere alte Freundschaft denn gar nichts wert?« Er packte sie hart am Arm. »Jetzt hör' mir einmal gut zu. Ich habe mit dir eine Vereinbarung getroffen. Meinen Teil habe ich eingehalten. Jetzt bist du an der Reihe. Zahlst du nun, oder zahlst du nicht?« Sein Blick fixierte sie gnadenlos. Unter seinen Augen schrumpfte sie zusammen. »Ich kann nicht.« »Was?«, fuhr er sie an. »Bist du verrückt geworden? Du versprichst mir einen Betrag, den du gar nicht besitzst?« »Ich hatte Schmuck. Den wollte ich verkaufen.«
»Na und? Hast du ihn verkauft?« »Ja, aber ich habe nicht so viel dafür bekommen, wie ich erwartet hatte.« »Na, das ist ja großartig!« Seine geballte Hand donnerte auf den Tisch. »Mit anderen Worten, du kannst dein Versprechen nicht einhalten? Du kannst mich nicht bezahlen?« Sie schüttelte nur den Kopf. »Und dafür habe ich Idiot das gute Einvernehmen mit meinem Cousin aufs Spiel gesetzt und zerstört.« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Wenn ich das geahnt hätte … Aber man soll eben mit Frauen, wie du eine bist, keine Geschäfte machen.« Ein verächtlicher Blick traf sie. »Lass mir ein wenig Zeit«, bat sie. »Ich komme schon wieder zu Geld.« Doch er lachte sie nur aus. »Du? Wie denn?« Und plötzlich überkam ihn das Bedürfnis, sie zu verletzen. »So jung und so schön bist du nicht mehr, Herta. Früher fiel es dir leicht, reiche Freunde zu finden und sogar einen wohlhabenden Ehemann, der deine kostspieligen Launen befriedigte. Doch jetzt wirst du alt. Da ist das nicht mehr so einfach.« Er sah, wie sie unter seinen Worten zusammenzuckte. Es tröstete ihn etwas über den Verlust des erwarteten Geldes hinweg. »Heißt das, dass du dich nicht mehr als mein Komplice betrachtest? Dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst?« »Du hast es erfasst. Ich halte mich lieber wieder an meinen Cousin. Wolfgang hat mir noch jedes Mal aus meinen Geldverlegenheiten geholfen.« »Mit ihm hast du es dir ja nun verdorben«, erinnerte sie ihn schadenfroh. »Freue dich nicht zu früh. Das lässt sich wieder einrenken. Ich brauche deinem geschiedenen Mann ja nur die Wahrheit zu gestehen, ihm sagen, dass das Ganze ein abgekartetes Spiel war.« »Das willst du tun?«
»Natürlich, liebe Herta«, versicherte er zynisch. »Es lässt mich völlig kalt, in welches Licht du dabei gerätst.« Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. Nicht so sehr wegen des schlechten Lichtes, das nun auf sie fallen würde. Wolfgang hatte ohnehin keine gute Meinung von ihr. Das wußte sie. Aber wenn Ralf ihm die Wahrheit gestand, würde er einsehen, dass er dieser Irma Unrecht getan hatte. Doch sie ertrug den Gedanken nicht, dass die beiden sich versöhnen und glücklich werden könnten. Ralf beobachtete sie genau. Er erriet ihre Gedanken. »Kannst du anderen nicht auch einmal ein kleines bisschen Glück gönnen?« »Ach, auf einmal entdeckst du dein gutes Herz?«, höhnte sie. »Als du dieses Mädchen kompromittiertest, war dir das doch auch egal. Da ging es dir nur ums Geld.« »Genau. Mir geht es immer nur ums Geld. Und deswegen werde ich meinem Cousin die Wahrheit sagen.« Er stand auf und ging. In ohnmächtigem Zorn schaute Herta ihm nach.
*
»Wirf ihn hinaus!«, schrie Wolfgang. Sein Gesicht färbte sich purpurrot. Erschrocken wich Friederike eilig zurück. Doch da drängte sich Ralf Dornier schon ins Zimmer. In Wolfgangs Zimmer. Der Hausherr schnappte nach Luft. »Was fällt dir ein?« »Bitte, beruhige dich. Du wirst sofort anders urteilen, wenn du mich angehört hast.« Ralf bemühte sich krampfhaft, seine Verlegenheit zu verbergen. »Ich werde dich überhaupt nicht anhören«, fuhr Wolfgang auf. »Doch, du wirst mich anhören. Denn es ist zu deinem Besten.« Ralf setzte sich,
ohne dazu aufgefordert zu sein. Unhörbar verließ Friederike das Zimmer ihres Sohnes. Sie fühlte sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Aber sie verspürte auch nicht den Wunsch, sich in den Streit der beiden Männer einzumischen. »Also gut, ich gebe dir genau drei Minuten«, sagte Wolfgang mit vor Zorn bebender Stimme. »Eine Minute genügt. Ich möchte mich bei Frau Winter entschuldigen. Ich habe sie mit meiner Umarmung überrumpelt, um sie in deinen Augen schlechtzumachen.« »Was hast du?« Nun schrie Wolfgang erst recht. Ralf hob beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, ich habe mich benommen wie ein Schwein. Sprich es ruhig aus. Es war im Auftrag deiner geschiedenen Frau. Sie hat mir Geld dafür versprochen.« »Du … du hast …« Wolfgang kam ins Stottern und begann noch einmal von vorn. »Dann hat Irma dich also gar nicht umarmt?« Er fixierte seinen Cousin wie ein Geier seine Beute. »Nein. Ich habe sie in einem Moment überrumpelt, in dem sie mich nicht in der Nähe vermutete. Nenn' es ruhig einen Überfall.« »Ich sollte dir dafür eine runterhauen«, empörte sich Wolfgang. »Ja, das wäre wohl das Richtige«, gab Ralf kleinlaut zu. »Aber du musst wissen, wie sich die Sache tatsächlich verhielt. Auch, dass Frau Winter immer sehr abweisend zu mir war.« »Ist das wahr?«, fragte Wolfgang leise. Ein glückliches Leuchten schlich sich in seine Augen. Doch dann wurde seine Stimme plötzlich wieder hart. »Wie seid ihr nur auf diese absurde Idee verfallen? Du und Herta? Und warum?« »Es war ausschließlich ihre Idee. Warum sie darauf gekommen ist, kannst du dir ja wohl denken. Sie ahnte, wieviel dir an Irma liegt. Und davon, dass auch du Frau Winter nicht gleichgültig ist, davon konnte ich mich ja persönlich
überzeugen.« »Meinst du das wirklich?« »Ich bin überzeugt davon.« »Aber warum hast du dann so etwas Schäbiges getan?« Das konnte Wolfgang noch immer nicht fassen. »Ich brauchte Geld. Und Herta hat mir eine hohe Summe dafür versprochen.« »Immer dieses Geld. Wärst du doch zu mir gekommen. Ich hätte dir geholfen, ohne so eine schmutzige Gegenleistung dafür zu verlangen.« Ralf senkte den Blick. »Es tut mir jetzt leid, dass ich es getan habe. Wirklich, Wolfgang.« Er schaute seinem Cousin offen in die Augen. »Ist Frau Winter da? Kann ich mich bei ihr entschuldigen? In deiner Gegenwart?« Diese Bitte überzeugte Wolfgang endgültig davon, dass sein Cousin die Wahrheit sprach. Irma! Irma, jubilierte sein Herz. Zugleich gestand er: »Sie ist nicht da!« »Nicht da?«, fragte Ralf erschrocken. »Doch nicht etwa …« Er sprach nicht weiter. Doch Wolfgang wußte auch so, was er meinte. »Doch! Diese Szene mit dir war der Anlass dafür, dass sie in die Schweiz gegangen ist.« »In die Schweiz? Für immer?« »Sie lässt sich operieren«, antwortete Wolf gang leise. »Gebe Gott, dass die Operation gelingt.« Nun verstand Ralf. »Ihre Augen also«, sagte er leise. Der Hausherr nickte nur. Noch lange, nachdem Ralf gegangen war, saß er unbeweglich in seinem Zimmer und dachte nach. Sie ist also unschuldig, überlegte er. Wie schön! Sein Blick verklärte sich. Doch mit der Erkenntnis, dass Irma ihn nicht verraten hatte, erwachte auch seine Sehnsucht nach ihr.
Ich werde sie besuchen, beschloss er. Bestimmt freut sie sich darüber am meisten. Doch dann erinnerte er sich plötzlich an die entstellenden Narben in seinem Gesicht. Die eine Operation hatte ja nicht genügt, um sie zu entfernen. Und zu der zweiten hatte er sich nicht mehr entschließen können. Wenn Irma nun wieder sehen konnte, würde sie auch seine Hässlichkeit sehen. Wolfgang entschloss sich zu einem Ferngespräch in die Schweiz. Er hatte Glück und konnte mit dem Chefarzt der Klinik selbst sprechen. Von ihm erfuhr er, dass man Irma für diese erste Operation erst vorbereiten müsse. Das werde noch zwei bis drei Wochen dauern. »Kann ich mit ihr sprechen, Herr Doktor?«, fragte Wolfgang. »Im Moment leider nicht. Sie befindet sich im Labor. Aber wir können der Patientin natürlich Grüße von Ihnen ausrichten.« »Ja, bitte tun Sie das.« Wolfgang legte auf. Plötzlich begannen seine Gedanken fieberhaft zu arbeiten. In zwei bis drei Wochen könnte ich meine eigene Operation bereits hinter mir haben, kalkulierte er. Dann könnte ich Irma besuchen und müsste mich meines Gesichtes nicht mehr schämen. Und vielleicht könnte ich sogar Kai und Katja in die Schweiz mitnehmen. Ungeahnter Auftrieb überkam ihn und gab ihm neuen Lebensmut. »Mutter!«, rief er und stürmte ins Wohnzimmer. Friederike stellte zitternd ihre Teetasse zurück. Doch als sie sein Gesicht sah, verflüchtigte sich ihre Angst. Er lachte ja, obwohl sie Tränen in seinen Augen zu sehen glaubte. Aber das konnte auch eine Täuschung sein. »Ich werde mich ein zweites Mal operieren lassen, Mutter.« Sie sprang auf. »O Wolfgang, wie schön!« Plötzlich lagen die beiden sich in den Armen. Friederike weinte vor Glück. Einen so innigen Moment hatte es zwischen ihnen schon lange nicht mehr gegeben. »Komm, setzen wir uns, Mutter«, bat Wolfgang. Dann erzählte er, was er von Ralf erfahren hatte und was er für Pläne hatte. »Ich war von Anfang an überzeugt, dass Irma unschuldig war«, erwiderte Friederike. »Welch' ein Glück für euch beide, dass Ralf seine Schuld eingestanden hat.«
»Glaubst du auch, dass es in Irmas Sinn ist, wenn ich mich ein zweites Mal operieren lasse?«, vergewisserte er sich noch einmal. »Ich bin überzeugt davon.« »Dann werde ich es tun. Sofort rufe ich meinen Arzt an. In zwei bis drei Wochen kann ich schon wieder in Ordnung sein und in die Schweiz fliegen. Ich möchte die Kinder auf diese Reise mitnehmen. Ich denke, sie würden sich darüber freuen. Was meinst du?« »Ganz bestimmt, Wolfgang. Nimm sie mit.«
*
Mit Irmas Bild im Herzen schlief Wolfgang vor seiner Operation ein. Dieser zweite Eingriff war weder schwierig noch gefährlich. Es war ja auch nur eine Schönheitsoperation. »In vierzehn Tagen sind Sie ein neuer Mensch«, versprach ihm der Arzt. »Äußerlich und demzufolge auch innerlich.« Zehn Tage lang blieben die Verbände auf Wolfgangs Gesicht. Friederike war bei ihrem Sohn, als ihm die Verbände abgenommen wurden. »Vielleicht wird noch eine dritte Operation notwendig sein, um Ihrem Gesicht wieder die alte Glätte und Schönheit zu geben«, hatte der Arzt ihm schmunzelnd angekündigt. »Ich möchte nicht schön sein, Herr Doktor«, hatte Wolfgang geantwortet. »Aber die Knochenstruktur ihres Gesichtes bietet alle Voraussetzungen dafür, Herr Göldner. Nun, warten wir ab.« Jetzt war es also soweit. Wolfgang zitterte ein wenig, denn er dachte an Irma und seine Kinder. Ihnen
wollte er gefallen, zumindest von ihnen akzeptiert werden. Sie sollten sich nicht für ihren Vater schämen müssen. Und dann hatte der Arzt die Verbände entfernt. Sein prüfendes Auge und seine tastenden Finger glitten über Wolfgangs Züge. »Natürlich ist noch alles gerötet«, murmelte er. »Aber das geht zurück. In acht Tagen sieht man es schon nicht mehr.« »Und die Narben?«, wollte Wolfgang wissen. Sein Mund war plötzlich trocken. Da begann der Arzt zu lächeln. Er nahm einen Handspiegel und reichte ihn dem Patienten. »Sehen Sie selbst!« Mit einigem Kraftaufwand führte Wolfgang den Spiegel vor sein Gesicht. Es war ein denkwürdiger Augenblick, der vielleicht über sein künftiges Glück entschied. Komischerweise fielen ihm gerade jetzt Irmas Worte ein: ›Es macht mir nichts aus, ob du Narben im Gesicht hast oder nicht.‹ Und dann sah er sein Spiegelbild. Verwunderte Augen und keine einzige Narbe mehr. »Sie sind alle weg!«, rief er überrascht aus. »Natürlich«, meinte der Arzt schmunzelnd. »Warum glauben Sie, haben wir Sie operiert?« Er ließ den Patienten allein. Immer wieder hielt Wolfgang den kleinen Handspiegel vor sein neues Gesicht. »Ich habe keine Narben mehr«, sagte er immer wieder. Die Schwester musste lächeln, als sie ihm das Essen brachte. »Sie sind jetzt ein gut aussehender Mann, Herr Göldner.« »Wollen Sie mir schmeicheln, Schwester?« Sie schaute ihn verwundert an. »Ich meine es im Ernst. Sehen Sie doch in den Spiegel!« »Das tue ich ja schon den ganzen Nachmittag.« »Dann wissen Sie es doch selbst.«
»Sie glauben also, ich könnte einer Frau gefallen?« Wolfgang schämte sich selbst für seine Eitelkeit. Doch er musste es wissen. »Mir scheint, Sie wollen einer ganz bestimmten Frau gefallen?« Die Schwester drohte ihm schelmisch mit dem Zeigefinger. Doch dann wurde sie ernst. »Sie haben keinen Grund mehr, irgendwelche Komplexe über Ihr Aussehen zu haben, Herr Göldner. Es ist auch keine weitere Operation mehr erforderlich.« Da seufzte er erleichtert auf und begann zu essen. Zum ersten Mal seit langer Zeit mit Heißhunger und Appetit.
*
Ganz Sophienlust freute sich mit Katja und Kai, als sie die Neuigkeit erfuhren. »Und unser Papi kommt wirklich selbst und holt uns ab?«, fragte Kai Denise zum soundsovielten Male. Er konnte es immer noch nicht glauben. »Er hat es mir selbst am Telefon gesagt«, bestätigte Denise wieder lächelnd. »Mann, habt ihr das gehört?« Kai schaute in die Runde. »Warum ist es so etwas Besonderes, wenn euer Vati euch selbst abholt?«, wollte Heidi wissen. Katja antwortete für ihren Bruder. »Weil unser Vati nach seinem Unfall lauter Narben im Gesicht hatte. Er wollte nie mehr von anderen Menschen gesehen werden.« »Und jetzt hat er keine Angst mehr, dass man ihn sieht?«, fragte Henrik. »Jetzt hat er sich operieren lassen.« Katjas Augen leuchteten stolz. »Kommt er wirklich morgen schon, Tante Isi?« »Ja, Katja. Mit dem Flugzeug bis Frankfurt. Von da aus nimmt er den Zug. Er wird schon sehr früh da sein.«
Dass er von Frankfurt aus mit seinen Kindern direkt in die Schweiz zu Irma fliegen wollte, hatte Wolfgang vorerst noch nicht verraten. Es sollte eine Überraschung werden. Als unbeschwerter Mann stieg er in Frankfurt aus dem Flugzeug. Ich hatte schon völlig vergessen, wie es ist, wenn man sich nicht mehr vor den Blicken der Leute zu fürchten braucht, dachte er dabei. Aufrecht, mit erhobenem Kopf und leuchtenden Augen, schritt er durch das weitläufige Flughafengebäude. Manch bewundernder Frauenblick folgte ihm. Doch das bemerkte er nicht. Er hielt sich nicht für einen gut aussehenden Mann, obwohl er es nun wirklich wieder geworden war. Denise hatte den Chauffeur mit dem Wagen zum Bahnhof gesandt, während in der Halle von Sophienlust Katja und Kai bereits neben ihren gepackten Köfferchen warteten. Die noch nicht schulfähigen Kinder leisteten ihnen Gesellschaft. Von den anderen hatten sich die Geschwister bereits verabschiedet. Natürlich nicht ohne das Versprechen, bald einmal zu Besuch zu kommen. »Gelt, ihr seid schon ein bisschen traurig, dass ihr jetzt von hier fortgeht?«, fragte die kleine Heidi treuherzig. »Wenn ich ganz ehrlich bin, ja«, antwortete Katja wahrheitsgetreu. Kai wollte keine sentimentale Stimmung aufkommen lassen. »Fang' jetzt bloß nicht zu heulen an«, drohte er seiner Schwester. Doch als er dann seinen Vater vor dem Herrenhaus aus dem Auto steigen sah, war er derjenige, der die Tränen nicht zurückhalten konnte. Wolfgang hatte sein zweites Bein noch nicht ganz auf den Boden gestellt, da lagen Katja und Kai schon in seinen Armen. Katja merkte die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, zuerst. »Wie schön du geworden bist, Vati.« Sie streichelte geradezu andächtig sein Gesicht. Gerührt musste Wolfgang schlucken. Nun entdeckte auch Kai die Veränderung. »Vati«, rief er spontan aus, »du hast ja ein richtig neues Gesicht gekriegt!« Lachend nahm Wolfgang seinen Sohn auf den Arm.
Denise war von Schoeneich herübergekommen, um sich von den Kindern zu verabschieden. Überrascht betrachtete sie Wolfgangs glattes, ebenmäßiges Gesicht. Mit den Narben hatte sie ihn ja nicht gesehen. Jetzt konnte sie kaum glauben, dass dieser Mann sich einmal vor seiner Mitwelt versteckt haben sollte. Trotz der geringen Zeit, die ihnen blieb, bestand Wolfgang auf einer kurzen Besichtigung von Sophienlust. »Dass es so schön hier ist und so ideal für Kinder, hätte ich nicht gedacht«, gab er danach zu. »Katja und Kai und auch meine Mutter haben sehr von Sophienlust geschwärmt. Trotzdem konnte ich ihnen nicht so recht glauben.« Er schaute Denise bewundernd an. »Sie haben hier ein kleines Paradies geschaffen, gnädige Frau.« Denise wehrte bescheiden ab. Dann lud sie ihn ein, sie gemeinsam mit Irma wieder zu besuchen. Gern versprach er es. Und dann saßen die drei im Auto. Der Chauffeur von Sophienlust brachte sie zum Frankfurter Flughafen. Katja und Kai winkten eifrig bei der Abfahrt. Und plötzlich standen beiden Tränen in den Augen. Sie sahen die kleine Heidi und Henrik, die Hand in Hand dem Auto ein Stück nachliefen und winkten. »Siehst du die zwei?«, schnüffelte Kai. »So gern haben sie uns.« , Katja gab ihrem Bruder einen sanften Rippenstoß. »Du hast gesagt, ich soll nicht heulen. Und jetzt heulst du selbst.« »Gar nicht wahr!« Schnell fuhr Kai sich über die Augen. Den Kindern blieb nicht viel Zeit, dem Abschied von Sophienlust nachzutrauern. Denn schon nahte ein neues aufregendes Erlebnis. Der Flug nach Zürich. Als sie hoch über den Wolken schwebten, hatten Katja und Kai den Abschiedsschmerz bereits überwunden. »Ist Irma schon operiert worden, oder wird sie erst operiert?«, fragte Katja den Vater. Wolfgang vernahm die Frage seiner kleinen Tochter mit bang klopfendem Herzen. Er wußte momentan selbst nicht genau, wie es stand. Bei seinem letzten Telefonat hatte der Arzt gesagt, man könne noch nicht operieren, weil die Patientin seelisch so niedergeschlagen sei. Das könne sich negativ auf den Erfolg
des Eingriffes auswirken. Aber sobald ihr Zustand sich ein wenig bessere, wolle er die Operation wagen. Jetzt saß Wolfgang mit seinen Kindern im Flugzeug und wußte nicht, in welcher Verfassung er das geliebte Mädchen antreffen würde. Bereits operiert oder noch vor dem Eingriff? »Ich weiß es selbst nicht«, antwortete er schließlich. »Vielleicht hat man sie schon operiert. Vielleicht aber auch noch nicht.« Unwillkürlich schlang Katja die Mittelfinger beider Hände um die Zeigefinger. »Ich kann ja schon mal anfangen, ihr die Daumen zu halten.« »Du hältst ja nicht die Daumen! Du kreuzt ja die Finger!« Kai starrte auf die Hände seiner Schwester. »Mach' das weg, das bringt Pech!« Erschrocken löste Katja ihre verschlungenen Finger wieder auf. »Jetzt habe ich es durcheinandergebracht.« Sie steckte nun die Daumen in die geballten Fäuste. »Jetzt ist's richtig«, erklärte Kai beruhigt. Nach der Landung in Zürich fuhren sie sofort zu der Klinik. Katja und Kai mussten im Wartezimmer ausharren, während der Vater mit dem Arzt sprach. »Wir haben bereits operiert, Herr Göldner«, antwortete der Arzt auf Wolfgangs erste Frage. Wolfgang war froh, dass er saß. Denn seine Beine begannen plötzlich auf ganz seltsame Weise zu zittern. »Wir mussten mitansehen, wie der Zustand der Patientin sich von Tag zu Tag verschlechterte«, fuhr der Arzt fort. Er wollte erklären, was ihn nun doch zu der Operation veranlasst hatte. »Ich spreche nicht von der körperlichen Verfassung, sondern von dem Seelenzustand der Patientin. Wenn wir noch länger gewartet hätten, hätten wir den Eingriff überhaupt nicht mehr durchführen können.« Wolfgangs Kehle war plötzlich so trocken, dass er keinen Ton mehr hervorbrachte. »Wann taten Sie es?« Er schluckte. »Gestern«, antwortete der Arzt. »Gestern haben wir operiert.« Seine Stimme
wurde nun ernst und eindringlich. »Es war keine einfache Operation. Und durch die geringe Widerstandskraft der Patientin ergaben sich während des Eingriffes Komplikationen.« Wolfgang spürte, wie eine eiskalte Faust nach seinem Herz griff. »Sie meinen …?« Er konnte die so immens wichtige Frage einfach nicht stellen. »Wir können noch gar nichts sagen«, antwortete der Arzt schnell. »Sie wissen nicht, ob die Operation gelungen ist?« »Vom medizinischen Standpunkt aus müsste sie gelungen sein. Aber wir haben die Verbände noch nicht abgenommen. Dazu wäre es noch zu früh gewesen.« »Wann wird das geschehen?«, wollte Wolfgang wissen. »Morgen! Morgen wissen wir endgültig Bescheid.« Der Arzt überlegte einen Augenblick. »Sie stehen Frau Winter sehr nahe?«, fragte er dann. Wolfgang konnte nur nicken. »Dann bin ich dafür, dass Sie beim Abnehmen der Verbände zugegen sind. Es dürfte die Patientin beruhigen und ihr helfen.« »Heißt das, ich darf sie heute nicht sehen?« Der Arzt sah die Enttäuschung auf Wolfgangs Zügen. »Sie sind mit Ihren Kindern gekommen, nicht wahr?« »Ja.« Der Arzt sprang auf. »Kommen Sie! Wir werden einen Versuch wagen. Holen Sie die Kinder! Ich bringe Sie dann zu der Patientin!« In fieberhafter Eile verließ Wolfgang das Zimmer des Arztes. Er holte Katja und Kai und stellte sie gleich darauf im Korridor dem Arzt vor. »Warten Sie bitte einen Moment hier auf dem Gang«, bat der Arzt. »Ich möchte die Patientin nur auf Ihren Besuch vorbereiten.« Er verschwand hinter einer weißlackierten Tür. »Ist Irma da drin, Vati?«
»Ja. Ihr müsst jetzt sehr schön brav und ruhig sein. Versprecht ihr das?« »Wir versprechen es«, flüsterten beide gleichzeitig. Dann trat der Arzt wieder aus dem Zimmer und hielt ihnen die Tür auf. Auf Zehenspitzen trat Wolfgang mit seinen Kindern ein. Mit einem dicken Verband um den oberen Teil des Kopfes lag Irma in ihrem Bett. Das Zimmer war halb abgedunkelt. Als Irma die Schritte der Eintretenden hörte, hob sie tastend beide Hände. »Wolfgang?« Er ging vor ihrem Bett in die Knie. »Ich bin es.« Behutsam ergriff er ihre Hände und presste sein Gesicht hinein. Seine Tränen netzten ihre Finger. Doch er schämte sich nicht. Dies war der glücklichste Moment seines Lebens. »Vergib mir«, flüsterte er. »Bitte!« Ihr Mund, der nicht mit Mull überdeckt war, begann zu lächeln. »Liebster!«, hauchte sie, nur für seine Ohren vernehmbar. »Ich war dir doch nie böse.« »Ich habe mich wie ein Trottel benommen«, stöhnte er. »Dabei bist du das Kostbarste, das es für mich gibt.« Überwältigt von stummem Glück presste sie die Lippen aufeinander, denn der Arzt hatte ihr lautes Weinen verboten. Inzwischen waren auch Katja und Kai an Irmas Bett getreten. Staunend hatten sie die Begrüßung des Vaters mit angesehen. »Wir haben dich genauso lieb, Irma«, flüsterte Katja scheu. »Oh!« Irma befreite eine Hand und tastete nach Katja und Kai. Sie streichelte die Gesichter der Kinder. Dabei fiel ihr plötzlich die Veränderung in Wolfgangs Gesicht auf. Ihre linke Hand lag noch immer an seiner Wange. »Du hast keine Narben mehr«, flüsterte sie erstaunt. »Vati hat sich noch einmal operieren lassen«, antwortete Kai für den Vater. »Wolfgang!« Es war ein kleiner glücklicher Schrei, der von ihren Lippen flog. »Unser Vati ist jetzt richtig schön, Irma«, berichtete Katja.
Mit allen zehn Fingern tastete die Kranke nun über Wolfgangs Gesicht. Die Narben waren alle verschwunden. »Deine Züge sind wirklich sehr ebenmäßig«, stellte sie fest. »Ja, Irma. Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu schämen. Deshalb möchte ich dich etwas fragen. Willst du mich heiraten?« Atemlose Stille folgte dieser Frage. Ein kleiner gequälter Laut drang aus Irmas Kehle. Sie führte Wolfgangs Hand an ihre Lippen. »Frag' mich morgen noch einmal, Wolfgang.« Dabei dachte sie, morgen werde ich wissen, ob ich sehen kann oder nicht. Katja in ihrer Naivität sprach diese Überlegung laut aus. »Weil du morgen weißt, ob du sehen kannst?« »Ja, Katja.« Da machte Kai seinem Herzen in empörter Treuherzigkeit Luft. »Aber wir haben dich doch genauso lieb, wenn du nicht sehen kannst. Nicht wahr, Vati?« »Ja, Liebste.« Es war das erste Mal, dass er sie so nannte. Und Irma hätte weinen mögen vor Glück. Aber sie durfte es nicht. Katja setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und hauchte Irma einen ganz zarten Kuss auf den Mund. »Bitte, werde unsere Mutti«, flehte sie. Überwältigt vom Glück presste Irma die Lippen aufeinander. Nichts anderes wünsche ich mir ja, dachte sie. »Wir haben dich alle sehr lieb«, sprach Katja ernst weiter. »Ohne dich können wir doch nicht sein.« »Du sprichst genau das aus, was ich empfinde«, sagte Wolfgang zu seiner Tochter. Doch er schaute dabei Irma an. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Der Arzt schaute herein. »Ich muss Sie leider bitten, jetzt zu gehen. Es wird sonst zu viel.« »Bis morgen, Irma.« Die Kranke bekam drei liebevolle und zärtliche Küsse auf den Mund. Einer davon schmeckte besonders süß und entführte sie einen
Moment lang ins Paradies. Wolfgang, dachte sie, wie sehr liebe ich dich. Ich wünsche mir nichts anderes, als deine Frau zu werden und für deine Kinder sorgen zu können. Doch vorher wünsche ich mir, dass ich sehen kann.
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Die Verbände wurden am nächsten Morgen abgenommen. Irma wußte nicht, dass Wolfgang mit Katja und Kai vor dem Zimmer wartete. Der Professor selbst entfernte den Mull. Im Zimmer herrschte nur gedämpfte Beleuchtung. Die Wintersonne war zu grell, um in das Zimmer einer Frischoperierten eingelassen zu werden. »Öffnen Sie jetzt bitte die Lider«, ordnete der Arzt sachlich an. Er bemühte sich, jedes Gefühl aus seiner Stimme zu verbannen. Doch das gelang ihm nicht ganz. Irma schlug die Augen auf. Sie sah milchigen Nebel, sonst nichts. »Sehen Sie etwas?«, drang die Stimme des Arztes an ihr Ohr. »Nein!« Irma schluchzte und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie wußte, dass sie nicht weinen sollte. Doch die Enttäuschung ließ ihr die Tränen wie Bäche über die Wangen strömen. Der Arzt sagte nichts. Er hatte eine Vermutung und wartete. Und plötzlich erstarrte seine Patientin. Als schwemme der Tränenstrom den Nebel hinweg, wurde es plötzlich leicht um sie. Irma blinzelte ein paarmal und stieß dann einen kleinen Schrei aus. Konturen begannen sich aus dem nebligen Nichts vor ihren Augen herauszuschälen. Sie tastete danach. Da wurden die Umrisse zu einem Gesicht. »Wolfgang!« Der Arzt hatte unbemerkt das Zimmer verlassen und die Kinder hinter Wolfgang hineingeschoben. Mit einem Schrei des Glücks und der Freude streckte Irma die Arme nach ihm aus. Er setzte sich aufs Bett und zog sie an sich. Ganz fest hielt er sie.
»Ich kann sehen«, stammelte sie. »Ich sehe dich.« Das unfassbare Glück ließ ihren Körper erzittern. Wolfgang und die Kinder weinten vor Freude mit. »Liebste!« Wolfgang nahm Irma noch fester in seine Arme. »Wir möchten unsere neue Mutti auch einmal umarmen«, kam da eine leise Stimme von der anderen Seite des Bettes. Sofort lösten sich die Liebenden voneinander. Irma wandte sich Katja und Kai zu. »Wolfgang, du hast mir gestern eine Frage gestellt. Heute will ich sie beantworten.« »Du heiratest uns also?«, platzte Kai heraus. Irma zog die beiden Kinder an ihre Brust. Über ihre Köpfe hinweg suchte ihr Blick Wolfgang. »Ja, ich möchte gern eure Mutti werden«, flüsterte sie. Da beugte Wolfgang sich vor und küsste ihre schönen Augen, die ihn jetzt sehen konnten und voller Tränen des Glücks waren.
– ENDE –
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ISBN: 978-3-74098-384-0