PENELOPE WALLACE
Das Geheimnis des schlafwandelnden Affen
Roman
Apex Crime, Band 242
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS GEHEIMNIS DES SCHLAFWANDELNDEN AFFEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Das Buch
In einem halbverfallenen Herzogsschloss in Cornwall werden geheimnisvolle wissenschaftliche Forschungen betrieben. Der Reporter David Knight bekommt Wind davon und freundet sich mit Elizabeth Masefield an, die in dem Institut arbeitet. David kommt dahinter, dass dort ein neues Nervengas entwickelt wurde, mit dem eine Verbrecherbande unmöglich erscheinende Raubzüge unternimmt...
Penelope Wallace (* 30. Mai 1923; † 13. Januar 1997 in Oxford) war eine britische Kriminal-Schriftstellerin und die Tochter von Edgar Wallace, dem Meister der Spannung. Der Roman Das Geheimnis des schlafwandelnden Affen erschien erstmals im Jahr 1979.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
DAS GEHEIMNIS DES SCHLAFWANDELNDEN AFFEN
Für George!
Erstes Kapitel
Alles fing damit an: »...du und deine ganze Sippschaft...«, sagte die Herzogin. Und in den folgenden zehn Minuten musste der fünfzehnte Herzog von Darwynt eine wenig schmeichelhafte Charakterisierung seiner Person, seiner Vorfahren und seines Schlosses über sich ergehen lassen. Der Herzog reagierte zuerst überrascht. Er hatte nie auch nur im Traum daran gedacht, dass seine vierte Frau, immerhin die Witwe eines Bankdirektors aus Putney, derartige Kraftausdrücke überhaupt kannte. Dann rauschten Ihre Gnaden aus dem Salon und schlugen die Tür heftig hinter sich zu. Der Herzog, der nie ein besonders schneller Denker gewesen war, starrte besorgt zur Decke, von der bei der geringsten Erschütterung bereits der Putz zu rieseln pflegte. Schließlich goss er sich ein Glas Whisky ein, ging zum Fenster und sah auf den verwilderten Garten und die halb eingefallene Parkmauer hinunter, hinter der die Straße von Helston nach Falmouth vorbeiführte und den herzoglichen Park von den Tannack Downs trennte. »Das habe ich jetzt davon«, murmelte er vor sich hin. »Vier Frauen und keinen Erben. Und ich bin zu alt, um noch mal zu heiraten.« Plötzlich kam dem Herzog zum ersten Mal in seinem fünfundsechzigjährigen Leben eine Erleuchtung: Wenn seine Frau ihn verließ, dann war er gleichzeitig ihren unangenehmen Sohn Stephen los; und da die Herzogin sich von ihm trennte und nicht umgekehrt er sich von ihr, war er zu keinen Unterhaltszahlungen verpflichtet. In der Vergangenheit war nämlich meistens er auf Grund seiner Vorliebe für jüngere Frauen der schuldige Teil gewesen. Jetzt war er froh, dass die Herzogin ging. Und dabei kam ihm gleich noch ein Gedanke: Er hatte dieses Leben satt... Es hatte ihm nie besonders viel Spaß gemacht, ein Herzog zu sein. Das Schloss war zum Glück kein unveräußerliches Familiengut. Er nahm sich spontan vor, es
zu verkaufen, seinen Titel abzulegen und ein ganz normales Leben zu führen. Der fünfzehnte Herzog von Darwynt lächelte glücklich. Nur wenige Wochen später zog der Herzog in ein kleines Haus in Worthing und lebte dort als zufriedener Junggeselle unter dem schlichten Namen Long. Die Leute aus dem Dorf hielten den Herzog für vollkommen übergeschnappt, weil er Cornwall verlassen hatte. Aber da sie die Aristokraten sowieso nicht zu den normalen Menschen rechneten, erstaunte sie diese Handlungsweise nicht besonders. Außerdem sollte Worthing angeblich auch in der Nähe der Küste liegen. Makler aus London und Truro hatten die ziemlich schwierige Aufgabe übernommen, einen Käufer für das herzogliche Anwesen zu finden. Schlösser lassen sich nun einmal nicht gut verkaufen... schon gar nicht, wenn sie im einsamen Cornwall liegen. Die meisten Interessenten waren von der romantischen, spätherbstlichen Szenerie wenig beeindruckt und registrierten lediglich, dass Garten und Gebäude reichlich vernachlässigt wirkten. Die Leute im Dorf beobachteten die Vorgänge um das Schloss aufmerksam und überlegten bereits, ob die Ruine als Attraktion für die Sommertouristen verwendbar sei. Die Bewohner Cornwalls sind nämlich außerordentlich praktisch denkende Menschen. Ende Januar wurde dann plötzlich das große Schild, das das Anwesen zum Kauf anpries, entfernt. Das Schloss hatte einen neuen Besitzer gefunden. Obwohl sie um ein Geisterschloss betrogen worden waren, nahmen die Dorfbewohner die Handwerkerkolonnen, die die Reparaturarbeiten am Haus und an der Parkmauer durchführten, mit offenen Armen auf, denn sie bedeuteten außerhalb der Touristensaison eine willkommene Einnahmequelle. Die Parkmauer wurde allerdings so gründlich ausgebessert, dass die Leute aus dem Dorf bald von dem, was sich dahinter abspielte, nichts mehr sehen konnten. Nur ein Schild am Haupttor wies darauf hin, dass dort das Fairfax Foundation Institute eingezogen war. Zu diesem Zeitpunkt waren sie jedoch über die neuen Besitzer schon informiert. Die Handwerker hatten den Dorfbewohnern einiges erzählt, und den Rest erfuhren diese aus einem Artikel in ihrem Lokalblatt, den ein ehemaliger Reporter der London Daily Post namens Martin Bristow geschrieben hatte. Bristow wohnte seit einiger Zeit im Dorf und war dort
allgemein als der Fremde bekannt. Und durch ihn wussten die Leute, dass Mr. Douglas Fairfax ein reicher Exzentriker gewesen war, der sein großes Vermögen einer Stiftung zu Verhaltensstudien bei Tieren vermacht hatte. Bristow hatte seinen Artikel auch an die Daily Post geschickt, doch Macintosh, der Nachrichtenredakteur tat die Meldung als langweilig ab und war von Bristows Idee, den Direktor der Stiftung zu interviewen, nicht sehr begeistert. Drei Wochen später bekam Macintosh die Grippe. Sein Stellvertreter war verreist, doch Macintoshs Frau erinnerte ihren Mann daran, dass Sauregurkenzeit war, verbot ihm aufzustehen und rief den Arzt an. Obwohl Macintosh sich in diesen Dingen normalerweise nicht von seiner Frau bevormunden ließ, fühlte er sich diesmal viel zu elend, um ihr zu widersprechen. Er griff mit zitternder Hand nach dem Telefon, gab dem diensthabenden Redakteur kurz die routinemäßigen Anweisungen durch und sagte dann: »Da ist noch ein ziemlich langatmiger Artikel von Martin Bristow über die Fairfax...« Macintosh stöhnte und fühlte, wie sein Fieber stieg. »Geben Sie ihn David...«, seufzte er. Auf diese Weise kam David Knight an die Reportage, die sein Leben verändern sollte. David nahm den Bericht, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann zu lesen. Der Artikel beinhaltete eine kurze Übersicht über die Geschichte des Schlosses, eine ausführliche Beschreibung der Restaurierung des Gebäudes und einen Bericht über ein Gespräch mit dem Direktor der Stiftung, einem gewissen Dr. Philip Winter. Er schloss mit einem Zitat der attraktiven vierundzwanzigjährigen Pressesprecherin, Miss Elizabeth Masefield: »Wir konzentrieren uns bei unseren Forschungsarbeiten hauptsächlich auf Verhaltensstörungen bei Haustieren und werden die Tiere daher in dieser Umgebung beobachten. Mr. Fairfax hat sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen Haustier und Mensch beschäftigt und war der Meinung, dass darüber noch viel zu wenig bekannt ist.« Es folgte eine kurze Beschreibung der Tierunterkünfte, deren zukünftige Bewohner allerdings noch nicht eingetroffen zu sein schienen. David legte den Bericht beiseite. Sein erster Gedanke war der, dass der verstorbene Douglas Fairfax sein Geld hätte sinnvoller anlegen können und dass
auch Martin Bristow seine Zeit nützlicher hätte verbringen können. Bristow war dreißig Jahre lang Journalist in der Fleet Street und davon fünfzehn Jahre bei der Daily Post gewesen, bis er aus Gesundheitsgründen gezwungen war, sich zur Ruhe zu setzen. Und jetzt war offenbar seine Phantasie mit ihm durchgegangen. Der vorliegende Artikel war eigentlich nichts weiter als eine ausführlichere und längere Wiederholung seiner ersten Reportage über die Fairfax-Stiftung. Die Story war für ein Provinzblatt abel, aber in der überregionalen Daily Post hatte sie nichts zu suchen. Martin war ein guter Freund von David, deshalb hatte David das Gefühl, es ihm persönlich sagen zu müssen, dass Mac daran nicht interessiert war. Armer, alter Martin... Vermutlich hatte sein journalistischer Spürsinn unter der guten Luft in Cornwall gelitten. David nahm den Telefonhörer ab. »Verbinden Sie mich mit Martin Bristow... Sie müssen die Nummer in der Liste haben... Er wohnt in irgendeinem unaussprechlichen Ort in Cornwall.« Martin Bristow meldete sich sofort und unterbrach Davids höfliche Fragen nach seinem Befinden ungeduldig: »Hast du meinen Artikel gelesen?« »Ja... ja das habe ich«, erwiderte David zögernd. »Was meint der Chef dazu?« »Mac ist im Augenblick krank. Was soll das eigentlich, Martin? Die Story ist kaum ein paar Zeilen wert, und du hast drei DIN-A4-Seiten draus gemacht. Du weißt doch so gut wie ich, dass der Artikel ein brauchbarer Füller ist, falls wir mal was über eine Katzen- oder Hundeausstellung bringen, und das ist eigentlich nicht dein Fach.« »Ich hab’ dich offensichtlich gut gezogen. Ich bin noch nicht verkalkt, keine Angst, aber im Schloss dieser Fairfax Foundation stimmt etwas nicht. Genaueres weiß ich nicht, aber ich habe so ein ungutes Gefühl... Warum kommst du nicht einfach nach Cornwall?« »Das ist unmöglich.« »Natürlich ist mir klar, dass Er dich nicht schicken würde, aber du hast doch auch mal Ferien, oder? Mach ein paar Tage bei mir Urlaub. Ich biete Villa mit Seeblick, Bade- und Segelgelegenheit. Es wird dir gefallen. Die Leute hier sind
prima. Außerdem ist es eine Ewigkeit her, seitdem ich dich... oder andere Kollegen von der Daily Post gesehen habe.« »Tja, das klingt nicht schlecht«, gab David zu. »Eigentlich hatte ich meiner Schwester so gut wie versprochen, den Urlaub mit ihr und ihrem Mann zu verbringen. Die beiden haben ein Haus in Spanien gemietet...« »Du meinst Molly?« David war über Martins gutes Gedächtnis erstaunt. »Die wird doch nur versuchen, dich zu verkuppeln. Bei einem eingefleischten Junggesellen wie mir bist du wesentlich sicherer.« Zwei Tage später kehrte Macintosh, der Nachrichtenredakteur, an seinen Schreibtisch zurück, las den Artikel, schnaubte verächtlich und verlor kein Wort mehr darüber. David behielt daraufhin sein Urlaubsziel für sich. Zwei Wochen danach fuhr David in seinem kleinen Sportwagen im warmen Julisonnenschein in Richtung Westen. Martin Bristow wohnte in Church Cove, Landewednack, auf der Lizard Peninsula. Hinter Truro hielt David an und studierte die Karte. Schließlich entschied er sich für die größer eingezeichnete Straße über Helston und Darwynt. Er bog kurz vor Penryn ab. Falls Darwynt tatsächlich noch eine Story ergeben sollte, wollte er sich die Gegend wenigstens genauer ansehen. Er fuhr an dem Wegweiser nach Burnthouse und unzähligen Hinweisschildern mit der Aufschrift Bed and Breakfast und Cornish Teas, an Kühen, Schweinen, weißgetünchten alten Landhän und grauen Bauernhän vorbei und kam schließlich nach Darwynt. Es bestand aus nur wenigen, ander Hauptstraße liegenden Hän und einem Gasthof, dem Red Lion. Gleich hinter dem Dorf begann der Schlosspark. Die Straße führte ungefähr einen halben Kilometer weit dicht an einer hohen Mauer entlang, und David erkannte in der Ferne ein mittelalterliches Schloss mit vier Türmen. Das hohe schmiedeeiserne Tor lag etwas zurückgesetzt, so dass der Besucher gezwungen war, sich zuerst am Pförtnerhaus an der Straße zu melden. Aus den Augenwinkeln sah David, dass am Tor eine große, dicht beschriebene Tafel hing, die vermutlich Vorsichtsmaßregeln für den Besucher oder eine Warnung vor
unbefugtem Betreten des Grundstücks enthielt. David fuhr weiter nach Helston. Die Straße führte durch Weizenfelder und mit niederem Buschwerk bewachsene Täler und Hänge. Schließlich gab es rechts und links der Straße nur noch Gestrüpp-Landschaft, und das Licht hatte die für weite Ebenen charakteristische Brillanz und erinnerte David an Teile Spaniens und der Mittelmeerküste. Dann tauchte auf der linken Seite ein Wegweiser nach Church Cove auf. Dahinter lagen moderne, hübsche Bungalows, und danach wurde es wieder typisch englisch: strohgedeckte Landhä, die alte Kirche, eine schmale, kurvenreiche Straße, mehr altenglische Villen, eine immer schlechter werdende Straße und schließlich The Pothole, Martin Bristows Landhaus. David parkte seinen Wagen am Rand der Steilküste und entdeckte erstaunt, dass die Straße über den Felshang weiter hinunterführte. Beim Abendessen - kalter Hummer, den Martins Zugehfrau zubereitet hatte sprachen sie dann von alten Zeiten und den Leuten, die das Geschehen in der Fleet Street einst bestimmt hatten und teilweise noch bestimmten. Sie sagten: »Erinnerst du dich noch, als...« und fragten: »Was ist eigentlich aus dem und dem geworden?«, bis es schließlich dunkel wurde und Martin das Licht anmachte. »Weißt du, es ist herrlich, mit jemandem über die guten alten Zeiten reden zu können.« »Kommst du gar nicht mehr nach London?« »Nein. Der Arzt hat mir die Fleet Street verboten, und ich gehorche ihm. Außerdem wäre es sowieso nicht mehr dasselbe. Ich wäre nur noch ein Besucher... ein alter Besucher, der die anderen mit seinen Erinnerungen langweilt.« »Bereust du es?«, wollte David wissen. »Nein, eigentlich nicht. Das Leben hier und die Fleet Street, das sind zwei Seiten derselben Münze... der schönsten Münze der Welt.« »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Natürlich ist hier alles anders als in der lauten, hektischen Welt der Fleet Street. Nimm zum Beispiel das Wetter. In London sind die Sommer zu heiß, und die Winter sind zu kalt... und in der Fleet Street weht oft ein schrecklicher Ostwind. Hier kann es auch verdammt stürmisch werden, aber irgendwie ist es anders... selbst im Winter... es kommt mir eher so vor, als sei es wie der Sommer an einer anderen Küste.« »Zwei verschiedene Welten?« »Oberflächlich betrachtet, ja. Die Fleet Street ist eigentlich ein Dorf... natürlich ein größeres als dieses hier, und ohne ländliche Umgebung... aber sie ist ein Dorf. Du hast dein Stammlokal, dein Stammgeschäft, gehörst zum Presseclub und kennst jeden. Wenn du dir ein Bein brichst, nehmen alle daran Anteil... genau wie hier. Vielleicht denken auch einige, du hättest es verdient, und hier mag das ebenfalls so sein. Das Wichtigste ist allerdings, dass es sie überhaupt in irgendeiner Form berührt. Verstehst du, was ich meine?« »Ich glaube schon.« »In Städten ist das nicht so. Da kümmert sich keiner um den anderen. Das Leben spielt sich dort nicht in den Gasthöfen ab, in denen man sich trifft, sondern in den durch hohe Hecken streng vom Nachbarn getrennten Vorstadthän.« »Du scheinst darüber ziemlich oft nachgedacht zu haben«, bemerkte David. »Zum Nachdenken habe ich hier viel Zeit«, erwiderte Martin. »Aber davon abgesehen gibt’s hier ’ne Menge Abwechslung. Ich gehe zum Fischen und zum Segeln, bin Mitglied in einigen Gemeindeausschüssen und der Old Cornwall Society, besuche das Minack Theater und das Kino in Helston und andere Veranstaltungen.« »Und dorthin gehst du immer allein?« Martin lächelte. »Ich bin überzeugter Junggeselle, also was soll die Frage?« entgegnete er. »Aber weil wir gerade von Frauen reden... Dieses Mädchen in Darwynt... ich meine Dr. Elizabeth Masefield, das ist eine tolle Frau. Genau dein Typ, es sei denn, dein Geschmack hätte sich inzwischen geändert. Sehr attraktiv, weiblich und charmant und dazu noch intelligent. Sie hat schon ihren eigenen Kopf und
außerdem so etwas Geheimnisvolles...« »Bitte, fang nicht schon wieder mit Geheimnissen an, Martin.« »Aber ich bin überzeugt, dass es in Darwynt nicht mit rechten Dingen zugeht. Und da ich annehme, dass du das Mädchen gern kennenlernen möchtest, habe ich für morgen um elf Uhr ein Treffen arrangiert. Wir werden dabei beide auf unsere Kosten kommen.« Am folgenden Vormittag fuhren sie in Martins Ford nach Darwynt. Die Fahrt dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Sie hielten vor dem großen Tor an, und während Martin dem Wachposten seinen Namen nannte und der Posten die Liste und Autonummer des Ford prüfte, las David den Text der Tafel, die ihm schon am Vorabend beim Vorbeifahren aufgefallen war. Betreten für Unbefugte verboten lautete die Überschrift und darunter stand die Warnung, dass nachts scharfe Hunde das Grundstück bewachten. David überlegte, ob diese dressierten Hunde einen negativen Einfluss auf das Verhalten der Versuchstiere haben könnten. Dann wurde das Tor geöffnet, und der Ford rollte eine breite, von hohen Rhododendronbüschen gesäumte Auffahrt entlang, die an ein Prominentenhotel erinnerte. Durch eine Lücke in der Hecke erkannte David gepflegten grünen Parkrasen und erwartete jeden Augenblick, auf den Bänken ältere Damen, die strickten, oder Sherry trinkende Herren und einen uniformierten Hotelboy zu sehen. Der Mann, der ihnen dann auf den Eingangsstufen entgegenkam, trug zwar eine Uniform, hatte jedoch eher die Figur eines Preisboxers als die eines Hotelboys und war außerdem geradezu unheimlich groß. Miene und Stimme des Riesen waren jedoch erstaunlich ruhig und gepflegt. »Mr. Bristow und Mr. Knight? Bitte, wenn Sie mir folgen möchten. Miss Masefield erwartet Sie bereits«, sagte er mit dem leichten Akzent der Leute aus Cornwall. Martin und David betraten hinter ihm die perfekt - vielleicht zu perfekt - mit schweren Eichenmöbeln ausgestattete und einem großen Rosenstrauß geschmückte Eingangshalle. Der Riese führte sie zu einer Tür auf der rechten Seite, klopfte, öffnete sie und ließ den Besuchern den Vortritt. Der Raum war als Arbeitszimmer eingerichtet. Eine breite Terrassentür führte
ins Freie, und die Wände waren holzgetäfelt. David betrachtete absichtlich zuerst die Einrichtung, bevor sein Blick zu dem Mädchen hinter dem Schreibtisch schweifte. Elizabeth Masefield war eine Frau, die auf Männer sofort wirkte. Sie war nicht nur schön und hatte nicht nur eine gute Figur, sondern strahlte auch das gewisse Etwas aus, das David sofort für sie einnahm. Ein Mädchen brachte Kaffee, und Dr. Masefield bot ihnen Zigaretten an. »Sie sind die ersten Reporter... oder sagen wir Journalisten, die nach dem Eintreffen der Versuchstiere zu uns ins Schloss kommen. Die Tiere sind erst seit wenigen Tagen bei uns. Sie werden anfangs draußen in den Stallungen ruhig gehalten, bis sie sich ein wenig eingelebt haben werden. Danach werden sie tagsüber im Schloss sein. Wir möchten die Tiere in normaler häuslicher Umgebung beobachten. Ich glaube, ich habe mit Ihnen bereits darüber gesprochen, Mr. Bristow.« »Ja, richtig, Miss Masefield. Allerdings begreife ich nicht recht, warum Sie dieses teure Institut eingerichtet haben, wenn die Leute ihre Tiere ganz gut zu Hause beobachten könnten.« »Der normale Tierhalter ist dafür nicht ausgebildet, Mr. Bristow.« »Werden Sie hier auch sogenannte Problemfälle behandeln?«, erkundigte sich David. »Ich denke da zum Beispiel an Hunde, die Schafe reißen und so weiter.« »Nein, das gehört nicht zu unserem Aufgabenbereich«, entgegnete Elizabeth Masefield. »Wir versuchen eigentlich nur Tierhaltern mit leicht verhaltensgestörten Haustieren zu helfen. Ja, Mr. Bristow?« »Bei unserer letzten Unterhaltung haben Sie mir leider noch nichts über die Mitglieder des hier beschäftigten Forscherteams sagen können. Sind inzwischen alle offenen Stellen besetzt worden?« »Ja, weitgehend. Es fehlen zwar noch einige wissenschaftliche Assistenten, aber vermutlich interessiert Sie eher das leitende Personal.« Martin Bristow nickte und zog aus seiner Tasche einen alten Briefumschlag und einen Bleistift. Das Mädchen fuhr fort: »Unseren Direktor kennen Sie ja bereits.« Sie wandte sich an David: »Es tut mir leid, aber heute ist er außer Haus. Von Philip Winter haben Sie sicher schon gehört. Er ist eigentlich Psychologe,
hat sich jedoch eingehend mit dem Verhalten von Tieren beschäftigt, und heute ist das praktisch sein Spezialgebiet.« »Weil Sie gerade von Dr. Winter sprechen«, fiel Martin ihr ins Wort. »Ich habe gehört, dass er seine Professur in Oxford aus Gesundheitsgründen aufgegeben hat. Er soll angeblich kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden haben.« Miss Masefield lächelte. »Man hört so vieles«, erwiderte sie, und David fiel ihr kühler Ton auf. Dann fuhr sie wieder freundlicher fort: »Ich will offen sein. Dr. Winter ist in Oxford nicht sehr glücklich gewesen. Die rein theoretische Arbeit hat ihn nicht befriedigt. Hier findet er ideale Bedingungen. Er hat endlich Gelegenheit, seine Theorien praktisch zu erproben. Dann ist noch Dr. Weissman bei uns...« »Meinen Sie Dr. Karl Weissman?« unterbrach diesmal David sie. »Ja. Und, Mr. Knight, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie seinen Namen in Ihrem Artikel nicht erwähnen würden. Die Presse hat ihm schon hart zugesetzt und...« »Soviel ich weiß, war die Presse immer auf seiner Seite.« »Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Dr. Weissman ist der Meinung, dass die Zeitungen alles nur noch schlimmer gemacht haben, indem sie einige Dinge an die Öffentlichkeit gezerrt haben. Er möchte jede weitere Publicity gern vermeiden.« »Ich finde, Dr. Weissman ist ein bisschen unfair, Miss Masefield. Er ist offiziell von seinem Posten bei einem staatlichen Forschungsinstitut zurückgetreten, weil er befürchtet hat, dass seine Arbeit mit der Entdeckung eines tödlichen Gases enden würde. Wir haben ihn für seine Prinzipientreue alle sehr bewundert.« Elizabeth Masefield schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Natürlich haben Sie recht, Mr. Knight. Ich vermute nur, dass Dr. Weissman seine guten Taten nicht publik machen möchte. Er ist ein sehr bescheidener Mann.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, und David fiel auf, wie vorteilhaft das klassisch streng geschnittene grüne Kleid ihre Figur zur Geltung brachte. Martin brach schließlich das Schweigen: »Und was ist mit Ihnen, Miss
Masefield? Warum sind Sie hier?« Elizabeth Masefield schien erstaunt. »Nun, abgesehen von meinen Aufgaben als Pressesprecherin der Stiftung fungiere ich hier als so eine Art Haushälterin und Aushilfssekretärin.« »Wohnen sämtliche wissenschaftlichen Angestellten auch hier?« »Im Augenblick, ja. Es ist die günstigste Lösung, da die meisten nicht aus der Gegend kommen. Einige fahren an Wochenenden nach Hause, aber die meisten gehen vollkommen in ihrer Arbeit auf.« Martin ließ sich jedoch nicht so leicht ablenken. »Ich bin sicher, dass Sie eine verantwortungsvolle Aufgabe haben, aber vermutlich werden Sie Ihren Kollegen auch fachlich mit Rat und Tat zur Seite stehen... bei Ihrer Ausbildung...« »Sie scheinen gut informiert zu sein, Mr. Bristow. Natürlich bin ich ausgebildete Medizinerin, aber ich möchte hier nicht praktizieren. Mich interessiert die Forschungsarbeit, und wenn hier erst mal alles glatt läuft, habe ich hoffentlich viel Zeit zum Lesen. Außerdem werde ich fürstlich bezahlt und kann den anderen das Leben erleichtern. Wenn ich mit ihnen zusammen bin, wie zum Beispiel während der Mahlzeiten, müssen sie nicht wie mit anderen Frauen höflich Konversation machen. Haben Sie sonst noch Fragen?« Der Ton, in dem sie das sagte, ließ keinen Zweifel daran offen, dass Dr. Elizabeth Masefield das Gespräch als beendet betrachtete. David hatte das Gefühl, zu dem Interview keinen maßgebenden Beitrag geleistet zu haben, und um seine Position zu stärken, drehte er sich an der Tür noch einmal um. »Darf ich mich wieder an Sie wenden, falls ich noch mehr Informationen brauche? Könnten Sie mich vielleicht mal im Schloss herumführen?« »Natürlich, rufen Sie einfach an. Es würde mich freuen, Ihnen unsere sämtlichen Einrichtungen zeigen zu können. Mr. Bristow hat die Telefonnummer.« »Dir ist hoffentlich klar, was das heißt«, bemerkte Martin Bristow, als sie in seinem Ford durch das Schlosstor fuhren. »Es bedeutet, dass Sie gegen deine Fragen nichts einzuwenden hat, aber vor den meinen Angst hat.«
»Martin, das ist doch Unsinn. Außerdem sind das keine Fragen, sondern Tatsachen gewesen, die du irgendwo ausgegraben hast und die sie nur bestätigen oder leugnen konnte. Ich hatte keine Ahnung, dass du so gründlich recherchiert hast.« »Ich habe sie schließlich nicht zum ersten Mal um ein Interview gebeten, und in keinem unserer bisherigen Gespräche hatte sie erwähnt, dass sie den Doktor in Medizin hat. Und von sich aus hätte sie auch kaum zugegeben, dass ihr Chef ziemlich labil ist.« »Wieso labil?«, wollte David wissen. »Du hast doch behauptet, Winter hätte Oxford aus Gesundheitsgründen verlassen. Nach deinen Worten »stand er kurz vor einem Nervenzusammenbruche« »Tja, ich habe noch immer meine alten Kontaktleute, David. Nach meinen Informationen hat er seine Arbeit an der Universität mitten im Semester unterbrochen, und obwohl viel von angeschlagener Gesundheit, Überarbeitung und Stress die Rede gewesen ist, hat er weder die Radcliffe- noch die WarnfordKlinik aufgesucht. Die Leiterbeider Kliniken stehen der Universität nahe und wären laut meinem Informanten die einzigen gewesen, die ihm hätten helfen können.« »Darf ich fragen, wer dieser Informant ist?« »Erinnerst du dich noch an Annabelle?« »Die von der Daily Post?« »Genau die. Rote Haare und schöne Beine. Sie ist jetzt die untreue Frau eines Dozenten in Oxford. Ich habe sie mal ziemlich gut gekannt.« »So, tatsächlich? Das muss jedoch schon etliche Jahre her sein.« »Ja, aber sie schreibt mir ab und zu Briefe und bittet mich um Rat. Manchmal habe ich den Verdacht, dass ihr diese Beichten mehr Spaß machen, als ihre Seitensprünge. Winter hat Oxford vor über einem Jahr verlassen, und seitdem hat niemand mehr was von ihm gehört. Natürlich blüht in diesen Kreisen der Klatsch, und Annabelles Lieblingstheorie ist die, dass er, wie sie es nennt, in der Klapsmühle gewesen ist.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass du und Annabelle...«, begann David. »Na, du bist ja auch lange Zeit in Afrika gewesen und hast dich für eine längst verlorene Sache stark gemacht...« »Falls deine Annabelle recht hat, dann ist dieses Projekt für Dr. Winter genau das Richtige. Es sieht so aus, als hätten sie alle das große Los gezogen. Sie werden durch die Stiftung des verstorbenen Mr. Fairfax gut bezahlt, führen dabei ein paar Beobachtungen an Haustieren durch und haben nebenher genügend Zeit, ihre eigenen Forschungen voranzutreiben oder einfach zu faulenzen.« »Dr. Masefield, Dr. Winter, Dr. Weissman. Merkst du, dass sie alle den Doktorgrad in Medizin haben, David?« »Na, und? Was glaubst du denn, dass dahinter steckt? ’ne Abtreibungsklinik für leichtsinnige Touristinnen? Vielleicht haben wir Glück gehabt, dass sie uns nicht zu Ersatzteilen für Frankenstein verwendet haben.«
Am Nachmittag hatte Martin eine Gemeinderatssitzung, und David lenkte seinen Sportwagen die steile Küstenstraße zum Hafen hinunter, der gerade groß genug für ein paar Fischer- und Segelboote war, und fuhr dann weiter zu den Kennack Sands, legte sich in die Sonne und dachte nach. Er war sich klar darüber, dass er nicht die geringste Absicht hatte, über die Fairfax-Stiftung, Darwynt Castle oder Elizabeth Masefield einen Artikel zu schreiben. Auf der anderen Seite war Dr. Masefield wirklich ein sehr attraktives Mädchen, und sie schien nichts dagegen gehabt zu haben, ihm das Schloss zu zeigen. Außerdem hatte er den Eindruck, dass sie auf die Stiftung ziemlich stolz war. Und Martin erwartete vermutlich, dass er Elizabeth Masefield wiedersah. Martin, dachte David. Warum sah er überall dort Geheimnisse, wo es ganz offensichtlich keine gab? David wusste, dass er nicht der erste war, der seinen Beruf als Vorwand benutzte, um ein hübsches Mädchen für sich zu gewinnen. Alle seine Überlegungen führten jedoch zu einem, eigentlich
selbstverständlichen, Schluss. Am darauffolgenden Morgen rief er Elizabeth Masefield an und verabredete einen Besuch im Schloss am Nachmittag. David fuhr diesmal mit seinem Wagen, und die elegante Karosserie wirkte vor dem breiten Treppenaufgang gut. Elizabeth Masefield führte ihn durchs Schloss. Aus dem niederen, langgestreckten Gebäude auf der Rückseite hörte er Hundegebell und das klägliche Miauen einer Katze. »Dort sind die Tiere untergebracht«, erklärte Miss Masefield. »Aber vorerst sollen sie noch nicht mit Menschen in Berührung kommen. Glauben Sie mir, sie werden gut versorgt. Ein Herr von der veterinärmedizinischen Aufsichtsbehörde ist schon hier gewesen und hat ihre Unterkünfte mit der Krankenabteilung und Apotheke angesehen. Sämtliche Einrichtungen würden einer Internatsschule alle Ehre machen.« Dann führte Elizabeth Masefield ihn in den großen Salon im ersten Stock an der Frontseite des Hauses. Es war ein schöner, elegant eingerichteter Raum, in dem die Herzogin und der Herzog ihre denkwürdige Auseinandersetzung gehabt hatten. »Wir benutzen dieses Zimmer als Gemeinschaftsraum«, erklärte Miss Masefield, als sie ihn wieder hinausführte. Sie öffnete eine Tür auf der anderen Seite des Flurs. »Von hier aus hat man den schönsten Blick... direkt über die Boskenwyn Downs.« Die Aussicht war wirklich einmalig. Man sah über endlose Weiden bis zu einem einsamen grauen Steinhaus und dem Turm eines stillgelegten Bergwerks hinüber. David sah sich im Zimmer um. Es war ein zweckmäßig eingerichtetes Schlafzimmer, durch dessen Fenster warm die Nachmittagssonne schien. »Hier wohne ich«, bemerkte Elizabeth Masefield. »Die Herren schlafen ein Stockwerk höher.« Als sie wieder auf den Korridor traten, fiel Davids Blick auf zwei gegenüberliegende Türen. Automatisch ging er darauf zu.
»Was ist hier?«, erkundigte er sich. »Zwei Zimmer und ein Bad... es war das Apartment des Herzogs.« »Und wer wohnt jetzt dort?« »Es ist Dr. Winters Arbeitszimmer.« »Ein verdammt großes Arbeitszimmer«, wunderte sich David. »Ja... ja... Es dient teilweise vermutlich als Labor. Das zweite Zimmer ist immer verschlossen. Jedenfalls hat er keinen so schönen Ausblick wie ich.« »Wäre es nicht praktischer, das Labor in der Nähe der Tierunterkünfte einzurichten?«, erkundigte sich David. »Oh, dort haben wir die Apotheke und die Ambulanz, und die dient praktisch als Labor. Dort können wir alle nötigen Untersuchungen durchführen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Sollen wir jetzt in mein Büro zurückkehren? Ich habe für uns Tee bestellt.« Das hübsche spanische Dienstmädchen brachte kurz darauf den Tee. »Sämtliche Hausangestellte sind Spanier«, berichtete Elizabeth Masefield. »Zum Glück spreche ich ihre Sprache. Sie weigern sich nämlich, Englisch zu lernen.« »Wohnen sie auch hier?« »Es sind nur drei, sie haben das ehemalige Wohnzimmer für sich. Obwohl das Schloss nicht dicht an der Straße liegt, stört in den vorderen Räumen der Straßenverkehr so sehr, dass man kaum konzentriert arbeiten kann. Die Spanier behelligt er nicht. Sie unterhalten sich so lautstark, dass sie den Lärm vermutlich kaum hören.« David fiel auf, dass Elizabeths Plauderei gezwungen und unecht klang. Vielleicht war sie als Pressesprecherin durch die endlosen Besichtigungstouren und das Erklären von Nichtigkeiten einfach überfordert. In einer anderen Umgebung war sie möglicherweise natürlicher und entspannter. Als er sich verabschiedete, lud er sie für den folgenden Abend zum Essen ein.
»Wo könnten wir hingehen?«, erkundigte er sich. »Im Red Lion ist das Essen ganz gut.« »Ist es nicht von Touristen übervölkert, die nur auf Bed and Breakfast und Cornish Teas aus sind?« Sie lachte. »Sie könnten ja einen Tisch bestellen.« »Soll ich Sie hier abholen?« »Nein, die Anmelderei am Tor ist zu umständlich«, wehrte sie ab. »Wir treffen uns im Lokal.« David erzählte Martin von seinem Gespräch mit Elizabeth Masefield und seiner Einladung zum Abendessen. »Hast du das herzogliche Apartment gesehen?« »Nein. Du?«, wollte David wissen. »Ich auch nicht. Ich hatte das Gefühl, dass Dr. Masefield für einen Moment aus dem Konzept geriet, als sie mich daran vorbeilotste.« »Kommt dir diese Stiftung deshalb so merkwürdig vor?«, fragte David. »Zum Teil... aber möglicherweise gibt es eine andere Erklärung, die dir vermutlich nicht gefallen wird. Vielleicht hat sie mit Philip Winter ein Verhältnis und verlor deshalb die Fassung.« Der Red Lion war ein einfacher Dorfgasthof und kein Touristenrestaurant mit Pferdegeschirren an den Wänden oder Segelschiffen in Flaschen. Erleichtert sah sich David um. Es gab nur eine Bar, und da er zehn Minuten zu früh dran war, ging er hinein, um ein Glas Bier zu trinken. Hinter der Theke stand ein Mädchen, das die fehlenden Touristenattraktionen voll ersetzte. Sie hatte langes, kastanienbraunes Haar, grüne Augen und... wenigstens bis zur Taille... eine ausgezeichnete Figur. »'n Abend«, wandte sie sich höflich an David, als er an der Reihe war, denn die
Bar war gut besetzt. »Guten Abend«, erwiderte er und bestellte einen Krug Bier. Als sie den Krug vor ihm absetzte, betrachtete sie ihn eingehend. »Sind Sie Mr. Knight?«, fragte sie. »Ja, der bin ich. Woher wissen Sie das?« »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete sie lachend und wandte ihre Aufmerksamkeit den beiden Männern neben David zu. »Dasselbe wie immer, Carol, Liebling«, bestellte der eine. Als sie den Drink brachte, beugte er sich über die Theke. »Du bist zu schade für diese Kaschemme, Carol. Komm doch nach London. Dort liegen dir alle Männer zu Füßen.« Carol lachte erneut. »Das haben schon viele gesagt, aber ich bin hier geboren und bleibe auch hier.« Sie verschwieg dabei, dass der einzige Mann, von dem sie wünschte, er möge ihr zu Füßen liegen, am anderen Ende der Straße im Schloss wohnte, und dass sie schon deshalb Darwynt niemals verlassen würde. Kurz darauf kam Carol hinter der Theke hervor, um die schmutzigen Gläser auf den Tischen einzusammeln, und David konnte feststellen, dass es auch unterhalb der Taille bei ihr nicht schlechter weiterging als oberhalb. Hinter Carol tauchte plötzlich Elizabeth Masefield auf. David setzte sofort schuldbewusst sein Glas ab und lief zur Tür. Carol rief ihm fröhlich einen Abschiedsgruß hinterher. Das Essen war einfach, aber gut, und Elizabeth Masefield entpuppte sich als amüsante Unterhalterin. Sie sprachen über fast alles, nur nicht über Persönliches. Als David kurz die Fairfax-Stiftung erwähnte, wechselte sie sofort mit dem Hinweis das Thema, sie sei nicht im Dienst. Von ihrem Leben und ihrer Arbeit, von dem Job in Darwynt erzählte sie so gut wie nichts.
Als der Speisesaal um zehn Uhr geschlossen wurde, schlug David vor, in die Bar überzuwechseln, doch Elizabeth wollte lieber nach Hause. Er fuhr sie bis zum Schlosstor. »Ich steige hier am besten aus«, erklärte Elizabeth Masefield. David betrachtete stirnrunzelnd den finsteren Parkweg. »Für Unbefugte ist der Zugang streng verboten«, murmelte Elizabeth lächelnd. »Außerdem kennen die Hunde mich. Vielen Dank für den schönen Abend, David.« Damit war sie verschwunden. David hatte sich das Ende des Abends etwas anders vorgestellt, aber die Gegenwart des Wachtpostens schüchterte ihn ein.
Martin Bristow fragte ihn über den Abend mit Miss Masefield nicht aus und schien auch nicht überrascht, als David Elizabeth am folgenden Morgen anrief und sie erneut zum Abendessen einlud. Doch Elizabeth schlug vor, David etwas von der Umgebung zu zeigen und dabei zusammen zu Mittag zu essen. In den nächsten beiden Tagen sah Martin Bristow seinen Gast kaum, und wenn sie kurz miteinander sprachen, erzählte David ihm nur von Orten wie St. Ives, Land’s End, Falmouth und am Freitag von der wilden Schönheit von Goonhilly Downs. Für David waren es wunderschöne Tage gewesen. Elizabeth schien ihr eigener Chef zu sein und keine feste Arbeitszeit zu haben. Sie sprachen nie über ihre Arbeit oder über die Fairfax-Stiftung. David konnte über alles andere mit ihr reden, denn sie war intelligent und hatte Sinn für Humor, was ihm besonders gefiel. Trotzdem war die Beziehung der beiden ziemlich oberflächlich geblieben. Das lag vor allem an Elizabeth, die geistig wie körperlich eine gewisse Distanz eingehalten hatte. Das wiederum schien Martins Theorie, dass in Darwynt Castle nicht alles so war, wie es den Anschein hatte, zu bestätigen. David hatte zwar keine Erfahrung mit Wissenschaftlerinnen, doch er konnte sich trotzdem nicht vorstellen, dass ihre Hingabe an die Wissenschaft soweit ging, dass sie sich mit einem Reagenzglas ins Bett legten. Oberflächliche Bekanntschaften mochten ab und zu ihre Vorteile haben, doch Elizabeth war eine Frau, die, wie David bald erkannte, sein geordnetes
Junggesellendasein in Frage stellen konnte. Möglicherweise war es deshalb ganz gut, dass sie nicht versuchte, ihre Beziehung zu David zu vertiefen. Er hatte nicht die Absicht zu heiraten... schon gar nicht ein Mädchen, das er kaum eine Woche kannte und die sich hartnäckig weigerte, über sich zu erzählen, was darauf hindeuten konnte, dass sie möglicherweise ihre unrühmliche Vergangenheit oder die Affäre mit einem anderen Mitglied der Fairfax-Stiftung vertuschen wollte. Für den Freitag hatte er sich nicht mit Elizabeth verabredet, da er Martin gegenüber, dessen Gast er schließlich war, ein schlechtes Gewissen hatte. Am Freitag war der Himmel mit dunklen Wolken verhangen, und es regnete in Strömen. Das Wetter entsprach damit genau Davids Gemütsverfassung. »Ich kenne ein gutes Lokal in der Nähe von Redruth«, sagte Martin. »Es liegt in einer alten Bleimine. Wir könnten dort zu Abend essen... oder bist du schon dort gewesen?« »Nein. Gute Idee.« »Warum hast du dich heute nicht mit Elizabeth Masefield verabredet?« »Weil ich mich an meine Pflichten als Gast erinnert habe.« »Das ist doch nicht der einzige Grund, mein Lieber. Du hättest sie schließlich zu uns einladen können.« »Ja, ich weiß.« »Wir hätten auch zu dritt ausgehen können.« »Ja«, murmelte David einsilbig. »Soll ich dir sagen, warum du so was nicht selbst vorgeschlagen hast? Du hattest Angst, ich frage sie aus.« »Nein...«, wehrte David lahm ab. »Na, jedenfalls wären dir etwaige Fragen unangenehm gewesen. Du willst sie unbedingt beschützen.«
»Nein, das ist es nicht.« »Doch, natürlich ist das der Grund, und ich will dir noch was sagen: Du bist in sie verliebt.« »Ich kenne sie doch erst seit fünf Tagen.« »Na und? Die Liebe erwischt einen immer aus heiterem Himmel. Sie ist so gefährlich und wesentlich destruktiver als Blitzschläge. Sei doch ehrlich.« »Also gut, vielleicht wollte ich sie vor dir in Schutz nehmen, und das würde bedeuten, dass du recht hast und ich mich in sie verliebt habe.« »Lass dich durch meine Theorien nicht ablenken. Und falls in Darwynt wirklich irgendeine schmutzige Sache im Gange ist, weiß das Mädchen wahrscheinlich nichts davon. Kümmere dich nicht um meinen Verdacht. Sei altmodisch und frag sie, ob sie dich heiraten möchte.« »Es ist nicht nur wegen deines Verdachts... und es geht auch nicht um das, was sie gesagt hat. Offen gestanden hat sie mit mir nie über ihre Arbeit oder ihr Leben gesprochen. Vielleicht liegt darin das Problem.« »Glaubst du, du könntest es hier aushalten, ohne sie wiederzusehen?« »Kennst du die Wirkung von Magneten?« »Ja, und ihre Anziehungskraft wird mit wachsender Entfernung immer stärker«, seufzte Martin. »Willst du vorzeitig abreisen?« »Ich halte es im Moment für die einzige Lösung...«
Zweites Kapitel
David hatte mit Elizabeth ausgemacht, am Samstag mit ihr zum Kynance Cove zu fahren, den er ihrer Ansicht nach unbedingt sehen musste. Auf dem Weg nach Darwynt überlegte David, wie er ihr beibringen sollte, dass er seinen Urlaub in Cornwall abbrechen und nach London zurückkehren würde. Er trat damit unweigerlich den Rückzug an und es war ihm klar, dass sich diese Tatsache kaum vertuschen ließ. Sie aßen zuerst im Red Lion zu Mittag, wo Carol ihn bereits wie ein Familienmitglied behandelte, und fuhren dann durch Helston in Richtung Kynance Cove. Sie parkten Davids Sportwagen am Straßenrand und gingen zum Klippenrand hinüber. »Eine wilde, wunderschöne Landschaft«, sagte David. »Wir müssen der Nationalparkverwaltung dankbar sein. Sie hat einen Kindermädchen-Komplex.« »Unglücklicherweise hat der Mensch das Bedürfnis, ausgerechnet die wilden und schönen Landschaften zu zerstören. Wenn er sich also wie ein kleines Kind benimmt, dann braucht er eben ein Kindermädchen«, entgegnete Elizabeth. »Wie lange werden Sie noch für die Stiftung arbeiten?« »Eine seltsame Frage. Sollen wir zum Strand hinunterklettern?« »Ich genieße lieber die Aussicht von hier oben. Warum ist meine Frage seltsam?« »Ich habe einen interessanten Job und werde gut bezahlt. Weshalb sollte ich meine Stelle also auf geben?« »Sie haben recht«, murmelte David. »Die Frage war wirklich dumm.« Sie fuhren weiter zum Lizard Point und tranken auf der Terrasse eines Cafés hoch über dem
Meer Tee. Anfangs waren sie die einzigen Gäste. »Ich fahre morgen nach London zurück«, verkündete David ohne weitere Einleitung. »Ich habe mir schon was Ähnliches gedacht. Vielleicht ist es so das Beste.«
Am Sonntag machte sich David auf den Rückweg nach London und war wütend auf sich selbst, weil er die Helston Road genommen hatte und folglich am Schloss vorbeikam, wo er jedoch den Blick verbissen auf die Straße gerichtet hielt. Drei Leute beobachteten, wie er in seinem Sportwagen durch Darwynt fuhr. Die eine war Elizabeth; sie saß im großen Gemeinschaftsraum, der an der Vorderseite des Schlosses lag. Dass sie dort saß, war allerdings kein Zufall, denn sie wartete am Fenster bereits seit über einer Stunde, um wenigstens einen letzten Blick auf den roten Sportwagen werfen zu können. Die beiden anderen betrachteten den vorbeifahrenden Sportwagen kühl und unbeteiligt. Der eine der zwei Männer notierte sich automatisch die genaue Zeit, und nach einem kurzen Gespräch ging der andere zu der Telefonzelle am Dorfrand. Die Fleet Street Literary hielt ihre Ausschusssitzungen in einer Wohnung in der Chancery Lane ab. Das Apartment gehörte Walter Leicester, einem pensionierten Industriellen und millionenschweren Junggesellen, in dessen Landhaus in Cookham sich eine der wertvollsten und besten Privatbibliotheken Englands befand. Der dazugehörige herrliche Park war regelmäßig für die Öffentlichkeit geöffnet. Leicester war der Präsident der literarischen Gesellschaft. Der Schatzmeister war Michael Brade, ein erfolgreicher Börsenmakler, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Woking wohnte. Das dritte und ungewöhnlichste Ausschussmitglied war der Schriftführer der literarischen Gesellschaft, ein gewisser George Strong. Strong war ein ehemaliger Automechaniker, der jetzt eine eigene Werkstatt in Chiswick besaß. Die drei Männer hatten ein gemeinsames nebenberufliches Interesse: das Verbrechen. Es war jedoch kein rein akademisches Interesse. Ihre Organisation
war ausgezeichnet, und das Risiko war gering, denn sie waren nicht die Initiatoren von Verbrechen, sondern versorgten andere Verbrecherorganisationen mit den einschlägigen Leuten. Ihre Dienstleistungen reichten vom Einbruch bis zur Brandstiftung. Mord war ausgeschlossen, teilweise, weil die Polizei bei Mord unangenehm aktiv werden konnte, und teilweise, weil die Leute, die den Auftrag für derartige Verbrechen gaben, entweder so labil und unausgeglichen waren, dass sie in später Reue alles ausplauderten, oder so übertüchtig, dass sie den Mörder zum Schweigen brachten. Und ermordete Angestellte waren schlecht für die Geschäftsmoral. Brades Hauptinteresse galt dem Geld. Leicester war zwar in dieser Beziehung auch kein Kostverächter - das kommt bei Millionären selten vor -, fand jedoch die meiste Befriedigung in der Planung und dem gezielten Gesetzesbruch. George, das dritte Mitglied des Syndikats, war ein ausgezeichneter Techniker. Er beschaffte die notwendigen Fahrzeuge, und seine Werkstatt in Chiswick diente der Organisation als Verrechnungsstelle. In der Zeit vor der Gründung des Syndikats hatte George weitverzweigte, nützliche Verbindungen zur Unterwelt geknüpft, ohne je mit der Polizei in Konflikt zu geraten. Sein wies keine Vorstrafen auf. Leicester bezeichnete George als einen Mann, der lieber einen schmutzigen Penny als ein durch ehrliche Arbeit erworbenes Pfund verdiente. Seine einzige Schwäche war sein Patriotismus. Aus diesem Grund fanden gelegentlich Ausschusssitzungen ohne ihn statt, weil niemand ihn von diesen Zusammenkünften informiert hatte. Bei der Ausschusssitzung, die am Tag nach David Knights Rückkehr aus Cornwall in Leicesters Wohnung stattfand, war jedoch auch George Strong anwesend. Leicester war am Vormittag von Cookham nach London gekommen, und Brade und Strong trafen pünktlich um sechs Uhr abends ein. George Strong hatte einen ziemlich abgewetzten Aktenkoffer mit einigen Unterlagen bei sich, die der Schriftführer einer literarischen Gesellschaft benötigte. Als erster Punkt auf der Tagesordnung standen die Veranstaltungen der Gesellschaft für den kommenden Herbst. »Im September haben wir Jason Fairfield. Er spricht über seine Neapelreise. Sein Buch kommt am Anfang des Monats heraus. Dann folgt dieser Zahn Lucy
Jones.« Für Strong waren sämtliche weibliche Wesen Zähne. »Sie redet über das Thema: Was bedeutet Literatur für den Häftling?. Ist das nicht ’n bisschen riskant?« »Kaum, George«, widersprach Leicester. »Lucy Jones’ Erfahrungen mit dem Knast beschränken sich auf einen verurteilten Betrüger, der ihr geschrieben hat, dass ihr Buch über Blumen ihn zu einem besseren Leben bekehrt hat.« »Okay, kommen wir zum Dezember. Ich dachte, wir sollten versuchen, diesen Politiker zu bekommen, der alle finsteren Machenschaften in der Politik enthüllen will. Er hat eine Serie für den Sunday Globe geschrieben.« »Ich glaube kaum, dass er die Einladung annehmen wird. Aber probieren kannst du’s ja. Weil wir gerade von der Presse sprechen... Ich finde, wir könnten zur Abwechslung mal einen Reporter ins Programm aufnehmen.« »Hast du jemand Bestimmten im Auge, Walter?«, erkundigte sich Michael Brade. »Ich dachte an einen von der Daily Post. Ich lese die Zeitung regelmäßig. Dort schreibt ein ganz guter Bursche namens David Knight. Du solltest ihm ’ne Einladung schicken, George. Lass es mich wissen, sobald du Antwort von ihm hast. Falls er. ablehnt, kann ich ihn vielleicht überreden, auf einen Drink zu mir zu kommen, um in Ruhe über alles zu sprechen.« George machte sich Notizen in seiner schlechten Handschrift, dann war die Sitzung geschlossen, und er steckte seinen Block weg. Anschließend nahm er ein flaches Paket und drei kleine, mit einem Gummiband zusammengehaltene Schachteln aus seiner Aktentasche, die mit A, B und C gekennzeichnet waren. »Das ist der Oxford Job«, erklärte er, während er das flache Paket öffnete. Walter zog sein Notizbuch heraus und machte in seiner eigenen verschlüsselten Kurzschrift folgende Eintragung: Shakespeares First Quarto Bodleian Library; Jarrold Stephens £ 3.000. »Wie ist die Sache gelaufen?«, erkundigte er sich dann. »Wie am Schnürchen. Ich bin mit diesem Zahn zum Abendessen nach Beaconsfield gefahren und habe auf der Rückfahrt in der Nebenstraße geparkt.
Hawkins hat sich ziemlich verspätet, und die Puppe hat mich mit ihrer Angst, nicht rechtzeitig vor ihrem Mann nach Hause zu kommen, ganz schön genervt. Dann ist zum Glück Hawkins aufgetaucht, hat sie mit seiner Taschenlampe geblendet, behauptet, er hätte sich verfahren, und mir das Paket unter der Landkarte versteckt gegeben.« »Das Mädchen hätte ihn sehen können«, warf Leicester scharf ein. »Nein, nein. Sie hatte viel zu viel Angst, selbst erkannt zu werden.« »Trotzdem war die Sache riskant.« »Es hätte doch komisch ausgesehen, wenn ich ’ne geschlagene halbe Stunde allein im Wagen gewartet hätte.« »Er hat recht«, half Brade Strong. »Aber warum bist du persönlich hingefahren?« »Warum hätte ich es nicht tun sollen?«, entgegnete George lahm. Er konnte den beiden kaum erklären, dass das Tête-à-Tête mit dem Mädchen ihm Spaß gemacht hatte, und wenn er das Vergnügen mit Geschäften verbinden konnte, dann umso besser... Er griff nach der Schachtel mit dem Buchstaben A. »Das hier habe ich nicht selbst beschafft. Es ist die neue Ventilsteuerung von Newtons.« Leicester trug in sein Buch ein: Ventil: Jones £ 8.000 + Spesen £ 2.000. Jones fungierte als Agent für eine ausländische Autofirma und die Spesen waren das Schmiergeld, das an bestimmte Angestellte der Firma Newtons gezahlt worden war, damit sie sich zum Zeitpunkt des Diebstahls nicht im Werk aufhielten. George Strong kannte den Wert der Ventilsteuerung, hatte jedoch keine Ahnung, dass sie an eine ausländische Firma verschoben wurde. »Auf B und C bin ich verdammt stolz«, fuhr George fort. Er öffnete die Schachtel mit der Aufschrift B und nahm einen Lavendelzweig heraus. »Ist das das Mikrophon?«, fragte Brade. »Hübsch, was? Ich dachte, Lavendel ist die beste Pflanze, weil er nicht welk wird. Ich meine, wenn man eine künstliche Rose in einen Blumenstrauß steckt,
dann sieht es doch komisch aus, wenn alle anderen Blumen welken, nur diese Rose nicht.« Er machte die dritte Schachtel auf und holte eine unreife Pflaume heraus, der man nicht ansah, dass sie ebenfalls einen winzigen, aber hochempfindlichen Empfänger enthielt. Dann zog George eine kleine Taschenlampe aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Das ist der Sender. Er hat eine Reichweite von einem Kilometer. Als Taschenlampe funktioniert das Ding übrigens auch.« Leicester machte sich eine kurze Notiz. »George«, sagte er dann, »du bist ein Genie!« George strahlte. »Was haben wir als nächstes vor?«, fragte er. »Noch nichts Bestimmtes, aber ich glaube, es kommt eine große Sache auf uns zu. Ich bringe nächste Woche meinen Wagen zur Generalüberholung zu dir. Die Ventile müssen vermutlich nachgestellt werden.« Als Walter Leicester die Tür hinter Strong geschlossen hatte, öffnete er einen Wandsafe, der durch ein Ölbild verdeckt war, und legte das Paket und die Schachtel mit der Aufschrift A hinein. Die übrigen Gegenstände verstaute er zusammen mit der Taschenlampe in der obersten Schreibtischschublade. »Smith hat heute Nachmittag angerufen. Er will die Sachen heute Abend abholen. Er behauptet, seine Freunde brauchen sie dringend. Außerdem hat er gesagt, dass er einen neuen Auftrag von ihnen bekommen hat.« »Hat das irgendetwas mit deinem Wunsch zu tun, David Knight kennenzulernen?« »Ja, aber Einzelheiten sind mir noch nicht bekannt. Smiths Worte waren: Unsere Freunde sind an einer Sache in Cornwall interessiert. Dort ist ein Reporter namens David Knight gewesen. Möglicherweise ist er hinter einer Story her, möglicherweise hat er es auch nur auf ein Mädchen abgesehen. Er könnte uns in jedem Fall nützlich sein. Vermutlich erfahre ich Genaueres, wenn Smith persönlich hier erscheint.« Es stellte sich jedoch heraus, dass Smith Leicester keine näheren Informationen geben konnte, als er später kam, um die beiden kleinen Blumen abzuholen, mit deren Hilfe später einige Leute sehr interessante Dinge mit umwälzender
Wirkung erfahren sollten. Mr. Smith musste Leicester eingestehen, dass er ihm bereits den genauen Wortlaut dessen mitgeteilt hatte, was er von unseren Freunden erfahren hatte. Sie waren an etwas interessiert, das in Cornwall geschah, aber Smith hatte den Eindruck, dass sie sich zuerst mehr Informationen über ihre eigenen Verbindungsmänner beschaffen wollten, bevor sie Außenseiter einschalteten. Smith vermutete, dass sie im Augenblick selbst so dürftige Kenntnisse besaßen, dass sie nicht einmal sicher sein konnten, ob die Sache ihr Interesse wert war. Daher erhielt auch Leicester keine weiteren Instruktionen, bis einige Monate später etwas ierte, das sowohl die Aufmerksamkeit von Smiths Freunden als auch von Martin Bristow und einem Großteil der Engländer erregte, die einen Bericht über den Vorfall unter der Schlagzeile Der schlafwandelnde Affe lasen.
David hatte seine zweite Urlaubswoche in London verbracht und all das unternommen, wozu der Londoner normalerweise nie Zeit hat. Er war sogar im Tower gewesen. Schließlich kehrte er erleichtert an seinen Arbeitsplatz zurück, weigerte sich jedoch hartnäckig, viel über seinen Urlaub zu erzählen. Er vermied Pflichtbesuche bei seiner Schwester Molly, schrieb nur ab und zu kurze Briefe an seine Mutter, war grob zu seinen weiblichen Bekannten, die ihn in zunehmendem Maße langweilten, und benahm sich auch sonst jedermann gegenüber ziemlich ruppig und verschlossen. Obwohl Walter Leicester zu diesem Zeitpunkt von Mr. Smith keine weiteren Anweisungen bekommen hatte, ließ er George Strong trotzdem Kontakt zu David Knight aufnehmen, so dass dieser eines Tages eine Einladung erhielt, auf der Januar-Versammlung der Fleet Literary Society zu sprechen. Bevor David eine Absage zu Papier bringen konnte, rief Leicester ihn an und lud ihn zu einem Drink ein, um die Angelegenheit persönlich mit ihm zu besprechen. David nahm an. Walter Leicester war früher ständig von Wirtschaftsjournalisten umlagert gewesen, die in seiner Nähe Sensationen gewittert hatten. Und Mr. Leicester hatte die Herren von der Presse, wie er sie zu nennen pflegte, immer zuvorkommend behandelt. Seine stets völlig unverbindlichen Stellungnahmen
konnten die Reporter gefahrlos wörtlich wiedergeben, ihre Richtigkeit jedoch nie nachweisen. Und da Leicester sich jede seiner Äußerungen sorgfältig überlegt hatte, musste er auch nie zu der Notlüge greifen, er sei von den Journalisten falsch zitiert worden. Für David Knight war Walter Leicester eine beinahe legendäre Figur, die jetzt aber nur noch gelegentlich Schlagzeilen machte, wenn ihr Park für die Bürger geöffnet wurde. Die Nachricht, dass Leicester eine literarische Gesellschaft gegründet hatte, erschien David zuerst verwunderlich, obwohl er wusste, dass der ehemalige Industriemagnat eine berühmte Bibliothek in Cookham besaß. Ein Gespräch mit Leicester konnte jedoch für ihn nur interessant sein. Er erwähnte die Einladung kurz Mac gegenüber, der lediglich verächtlich schnaubte und bemerkte, dass auch der Ungebildetste im Land wusste, dass Walter Leicester sich sehr für die Pflege der Literatur einsetzte. Außerdem wurden die meisten Millionäre komisch, nachdem sie sich aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatten, und versuchten dann gute Werke zu tun, indem sie dem einfachen Volk die Literatur nahebringen wollten, das normalerweise zu dumm war, die Daily Post zu begreifen... David fand Walter Leicester jedoch sehr interessant, und Leicester ging es umgekehrt genauso. Für David war es ein ungewöhnlich anstrengender Tag gewesen. Er war stundenlang durch die Gegend gefahren, um ein geplantes Interview mit einer wichtigen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zu bekommen. Ein Kollege von der Konkurrenz hatte ihm dann den dicken Fisch vor der Nase weggeschnappt, und David musste einen Rüffel von Mac einstecken. Von den belegten Broten, die er zum Mittagessen verzehrt hatte, und von der langen Sitzung mit Mac hatte er schließlich Magenschmerzen bekommen, und als ihn dann noch die aufreizende Blondine Miranda Beete, die er in der vergangenen Woche auf einer Party kennengelernt hatte, anrief, um ihn zur nächsten Party einzuladen, war er ziemlich grob geworden... Leicesters Wohnung lag im siebten Stock. Der Portier sagte David, dass er bereits erwartet werde, schob ihn praktisch in den Lift und drückte für ihn auf den richtigen Knopf. David fand das Apartment Nr. 152 ohne Schwierigkeit und klingelte.
Er war einigermaßen erstaunt, als Leicester ihm persönlich die Tür öffnete, und stellte schon bald fest, dass der ehemalige Industrieboss ein ungewöhnlich charmantes, einnehmendes Wesen hatte. David hatte bisher nur Fotos von Leicester gesehen und erkannte die männlichen Züge und das dichte weiße Haar wieder, doch auf die vitale Ausstrahlung des Mannes war er nicht vorbereitet gewesen. Er konnte jetzt verstehen, dass sich ein solcher Mann nicht einfach tatenlos aufs Altenteil zurückziehen würde. Leicester schnitt das Thema selbst an, nachdem er seinem Gast einen bequemen Sessel und ein Glas ausgezeichneten Whisky angeboten hatte. »Nichtstun liegt mir nicht«, erklärte er. »Natürlich bin ich mittlerweile für das aufreibende Leben als Industriemanager zu alt, aber - abgesehen von der Bibliothek - gibt es in Cookham viel anderes zu tun. Doch ab und zu muss ich ein paar Tage hier verbringen.« »Sie meinen hier in London?« »Ja, und zwar in der City... mitten im wirtschaftlichen Zentrum Englands... vielleicht der Welt. Die City liegt nur ein paar Straßenzüge weiter östlich von hier. Und dort drüben...« Leicester ging zum Fenster und deutete hinaus. David setzte sein Glas ab und folgte ihm. »Dort drüben spucken die Druckerpressen die Zeitungen aus, die die Welt morgen lesen wird.« David genoss einen Augenblick bewundernd die Aussicht, die von der Tower Bridge zur Linken bis zum Parlament zur Rechten reichte und den Fluss und die Hügel von Kent in der Ferne mit einschloss. Seine Wohnung in Earls Court kam ihm dagegen richtig schäbig vor. Leicester trat lächelnd vom Fenster zurück. »Bitte, entschuldigen Sie, ich bin schon wieder auf mein Lieblingsthema gekommen. Setzen Sie sich wieder. Darf ich Ihnen noch einen Schluck Whisky einschenken?« Er ließ sich auch in einen Sessel sinken. »Jetzt reden wir lieber über meine Literary Society. Sie fragen sich sicher,
warum ich sie überhaupt gegründet habe, stimmt’s?« David nickte zögernd. »Als Junge habe ich mir sämtliche Bücher ausgeliehen, deren ich habhaft werden konnte, und als ich dann in meinem Beruf Erfolg hatte, habe ich sie mir gekauft«, berichtete Leicester. »Sie müssen mal nach Cookham kommen und sich meine Bibliothek ansehen. Ich bin sehr stolz darauf. Bücher bedeuten mir alles. Bei ihnen finde ich Entspannung von den täglichen Problemen. Klingt das überheblich?« »Nein«, antwortete David aufrichtig. »Deshalb möchte ich auch anderen Menschen Bücher näherbringen. Wir haben schon einige gute Vorträge organisiert.« Er erwähnte eine Reihe berühmter Namen, und David, den der Whisky und der Charme seines Gesprächspartners eingefangen hatten, fühlte sich langsam geehrt, eine Einladung von Walter Leicesters literarischer Gesellschaft erhalten zu haben. Er erklärte sich deshalb bereit, auf der Januar-Versammlung zu sprechen. Bevor er sich verabschiedete, warf David noch einmal einen Blick aus dem Fenster. Während er nachdenklich das Parlamentsgebäude betrachtete, fragte er: »Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, in die Politik zu gehen, Mr, Leicester?« »Daran gedacht habe ich, aber es war doch nicht ganz mein Gusto. In der Politik geht alles viel zu langsam. Reden über Reden - die würden mich sogar interessieren -, aber getan wird nichts.« Er lächelte entwaffnend. David verabschiedete sich und verließ die Wohnung in dem Gefühl, einem selten interessanten und aufrichtigen Mann begegnet zu sein. Und genau diesen Eindruck hatte Walter Leicester auf David Knight machen wollen. Leicester seinerseits hielt David Knight für einen interessanten jungen Mann, der größer war und besser aussah, als er, Leicester, erwartet hatte. Außerdem schien er unter einer starken innerlichen Anspannung zu stehen, und die Informationen bestätigten, dass Knight zurzeit private Probleme hatte. Man hatte Leicester gesagt, dass er offensichtlich verliebt sei, und da niemand wusste, wer die
Awählte war, lag die Vermutung nahe, dass es das Mädchen war, das er in Cornwall getroffen hatte. All das konnte sich noch als sehr nützlich erweisen, falls Leicester endlich genauere Instruktionen von Mr. Smith erhielt. Im Spätsommer und Herbst beschloss David mehrmals, um eine weitere Woche Urlaub oder wenigstens um ein verlängertes Wochenende einzukommen und nach Cornwall zu fahren. Er sagte sich immer wieder, dass er endlich Klarheit haben müsse... und gestand sich dann zögernd ein, dass Elizabeth ihn inzwischen vermutlich längst vergessen haben werde. Doch ihm wurde nicht bewusst, dass die Spannung blieb. Er begriff lediglich, dass er Elizabeth unter allen Umständen wiedersehen wolle. Trotzdem bat er nie um diese Urlaubswoche, und es schien beinahe ein Wink des Schicksals zu sein, als Mac an einem Vormittag Ende Oktober sagte: »Martin Bristow hat mich heute Morgen angerufen. Hier ist sein Manuskript. Vielleicht setzt du dich mit einigen Fachleuten in Verbindung, bevor du es redigierst. Diesmal hat er wirklich gute Arbeit geleistet. Er hat den Film von einem Vogelbeobachter, der im Morgengrauen zufällig mit seiner Kamera zur Stelle war, bevor die Stiftung ihren schlafwandelnden Affen wieder einfangen konnte. Sie haben über alles strengstes Stillschweigen bewahrt. Kein Kommentar und keine Fotos. Er hat uns das Material mit dem Frühzug geschickt. Wir können die Story also heute in der späteren Ausgabe abdrucken, falls uns nicht die anderen...« David las den Artikel sorgfältig durch. Demnach waren die Frühaufsteher von Darwynt einigermaßen überrascht gewesen, als sie im Morgengrauen einen Affen wie einen Schlafwandler mit ausgestreckten Armen die Dorfstraße entlangwandern sahen. Und genau in diesem glücklichen Moment tauchte der Vogelfreund auf und machte mit seiner Kamera die sensationellen Aufnahmen.. Kurz darauf war nach Augenzeugenberichten der Affe die Stufen zum Postgebäude von Darwynt hinaufgestiegen und vor dem Eingang zusammengebrochen. Eine energische Hausfrau hatte daraufhin die FairfaxStiftung angerufen und den Leuten dort mitgeteilt, dass einer ihrer Affen in der Post gestorben sei. Nur Minuten später war ein kleiner Lieferwagen vorgefahren, und ein Pfleger hatte das »gähnende und sich reckende Tier«, wie ein Zuschauer es beschrieb, fortgebracht. Ein anderer wiederum erzählte später, der Affe hätte in den letzten Todeszuckungen gelegen. Martin Bristow war eher geneigt, die erste Version zu glauben.
Es wurde später bekannt, dass, während die Hausfrau mit der Stiftung telefoniert und ein anderer Dorfbewohner die Polizei verständigt hatte, ein dritter Martin Bristow über den Vorfall informierte und von diesem gebeten wurde, den Fotografen ausfindig zu machen. Eine Stunde später rief Martin Bristow erneut in der Redaktion an, und diesmal nahm David das Gespräch an. Martin begann dramatisch: »Da steckt noch mehr dahinter, als ich angenommen habe.« »Meinst du die Geschichte mit dem Affen?« »Natürlich meine ich die Geschichte mit dem Affen. Ohne Fotos wäre es eine ziemlich dürftige Story, aber wir besitzen die einzigen Bilder, die davon existieren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was es hier für einen Aufruhr gegeben hat. Bei der Stiftung rufen massenweise Leute an und erkundigen sich nach dem Befinden des Affen. Deine Freundin hat sich entschlossen, eine Pressekonferenz zu geben, und zwar hier im Red Lion damit wir die armen Tierchen im Schloss nicht beunruhigen. In zehn Minuten geht’s los... also warte gefälligst, bis ich mich wieder melde.« David wartete, und eine halbe Stunde später klingelte das Telefon. »Hallo, David? Hier Martin. Diese verrückte Masefield hat doch glatt diesen Affen mitgebracht. Natürlich hat die Konkurrenz wie besessen fotografiert. Die Bilder sind vermutlich besser als die unseren.« »Unsere sind sensationell, keine Angst. Kein Vergleich. Was hat sie gesagt?« »Sie hat behauptet, man hätte dem Affen ein Beruhigungsmittel gegeben, weil er so nervös gewesen sei. Er soll angeblich erst vor kurzem aus der Quarantäne gekommen, aufgewacht und irgendwie entlaufen sein. Sie hat uns dann alle durch ihr bezauberndes Lächeln betört. Der Affe heißt übrigens Fred.« »Was für ein Affe ist es überhaupt?« »Sieht ganz normal aus. Sie hat darüber kein Wort verloren. Diese Art von Affen hatten früher die Drehorgelspieler. Du kannst ja im Lexikon nachsehen.« »Das werde ich auch tun.«
Als Martin aufgelegt hatte, rief David einen Bekannten an, der im staatlichen veterinärmedizinischen Institut arbeitete. Dieser bestätigte David, dass die von Augenzeugen beschriebenen Symptome bei dem Affen durchaus von einem Beruhigungsmittel herrühren konnten, wie Elizabeth Masefield behauptet hatte. »Ich würde mir gern mal die Abzüge von den Fotos ansehen. Vielleicht kann ich danach mehr sagen.« »Ich schicke sie Ihnen, sobald wir den Film entwickelt haben«, versprach David. »Unser Mann in Darwynt hat übrigens behauptet, es sei so ein Affe gewesen, wie ihn früher die Drehorgelspieler benützt hätten. Wissen Sie, was das für Affen waren?« »Rhesusaffen«, erwiderte der Veterinärmediziner prompt. David zog scharf die Luft ein. »Rhesusaffen... also die, die man für medizinische Experimente verwendet?«, erkundigte er sich. Der Mann am anderen Ende lachte. »Ja, aber sie werden auch oft als Haustiere gehalten.« Die Filmrolle wurde am Bahnhof Paddington abgeholt und entwickelt. Der Vogelfreund hatte von dem Affen zwei Aufnahmen gemacht. Die eine zeigte das Tier, wie es aufrecht, mit ausgestreckten Armen und starrem Blick auf der Straße stand, auf der anderen lag es schlafend vor dem Postamt. David schickte von beiden Bildern Abzüge zu seinem Bekannten im veterinärmedizinischen Institut. Ungefähr eine Stunde später rief dieser ihn an und bestätigte ihm, dass es sich um einen ziemlich jungen Rhesusaffen handle. Mehr konnte er dazu nicht sagen. Die Fairfax-Stiftung hatte sämtliche Zeitungen abonniert, die über den Vorfall berichteten. Keines der Blätter hatte Fotos veröffentlicht. Gegen neun Uhr am nächsten Morgen bekam Elizabeth Masefield jedoch einen Anruf aus London und erfuhr, dass dort fast jede Tageszeitung Fotos von ihr und dem Affen gebracht hatte. Nur die Daily Post hatte zwei zwar reichlich unscharfe, doch zweifellos echte Aufnahmen von dem Affen abgedruckt, die gemacht worden waren, als dieser schlafwandelte.
Der Anrufer war darüber sehr verstimmt, und Elizabeth Masefield erging es nicht anders. Ungefähr zur selben Zeit rief Davids Bekannter vom veterinärmedizinischen Institut bei David in der Redaktion an. Der Wissenschaftler wirkte ziemlich aufgeregt. »Hören Sie, ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren«, begann er. »Die anderen Zeitungen haben Bilder von einem Mädchen und dem Affen gebracht. Wenn ich nicht die Abzüge zur Hand gehabt hätte, die Sie mir gestern geschickt haben, wäre es mir vermutlich gar nicht aufgefallen...« »Was?«, fragte David ungeduldig. »Der Affe auf Ihren Fotos ist nicht derselbe wie auf den anderen.« Davids erster Gedanke war, Elizabeth anzurufen, doch dann beschloss er, sich zuerst mit Mac abzusprechen. »Soll ich sie anrufen?«, fragte er seinen Chef. »Soviel ich weiß, haben Sie sie im Sommer kennengelernt. Was halten Sie von ihr?« »Sie ist intelligent und sehr charmant.« »Glauben Sie, sie wollte damit für sich Geld lockermachen?« »Nein, das kann ich mir kaum vorstellen. Außerdem müssen die Pfleger gewusst haben, dass sie den falschen Affen mit zur Pressekonferenz nimmt.« »Ja, wahrscheinlich. Ich rede mal mit ihr.« David hörte die ziemlich einseitig geführte Unterhaltung mit an. »Miss Masefield? Hier ist die Daily Post. Vielleicht könnten Sie mir helfen...Ja, genau danach wollte ich Sie fragen... Natürlich, so kann man die Sache auch sehen, aber... Nein, wirklich nicht. Tja, danke Miss Masefield. Sie haben mir sehr geholfen.«
Mac legte auf und sagte zu David: »Frauen! Zuckersüß und charmant. Sie hat sich für ihr kleines Täuschungsmanöver entschuldigt. Der andere Affe hat noch nach seinem aufregenden Erlebnis geschlafen, und da sie annahm, dass die Presse Fotos machen wolle, hat sie einen anderen mitgebracht. Von den Bildern des Vogelfreundes hatte sie offensichtlich keine Ahnung, denn sonst hätte sie den Trick sicher nicht riskiert.« Er dachte einen Moment nach. »Ich glaube ihr«, fuhr er schließlich fort. »Ihr Manöver hat die Leute beruhigt. Sie wollten eben einen Beweis dafür haben, dass das Tier noch lebt, und dass es ihm gut geht.« Damit war die Geschichte erledigt, und David behielt seinen Vorschlag, persönlich nach Darwynt zu fahren, für sich. »Soll ich es Martin Bristow erzählen?«, fragte er stattdessen. »Ja, aber machen Sie ihm klar, dass ich die Erklärung dieser Dr. Masefield voll akzeptiere. Das Ganze ist für uns kein Thema mehr.« Martin Bristow ließ sich jedoch nicht überzeugen. Auch Mr. Smiths Freunde waren nicht zu täuschen. Martin wäre überrascht und hocherfreut gewesen, hätte er gewusst, dass seine häufigen Besuche in Darwynt eine Quelle ständigen Ärgers für die Mitglieder der Fairfax-Stiftung und Mr. Smiths Freunde war. In der ersten Novemberwoche kam Mr. Smith zu Walter Leicester. Die beiden Männer gingen von jeher sehr förmlich miteinander um. Jeder respektierte die Fähigkeiten des anderen. Ihre Geschäfte wurden korrekt abgewickelt und brachten beiden Vorteile, doch die Förmlichkeit zwischen ihnen blieb bestehen. Mr. Smith saß bei seinen Besuchen immer aufrecht am Tisch vor dem Fenster. Seinen Hut und die Handschuhe hatte er neben sich gelegt, sein Aktenkoffer stand auf dem Fußboden. »Sie erinnern sich sicher, dass unsere Freunde an einer Sache in Cornwall Interesse gezeigt haben?«
Leicester nickte. »Im Augenblick ist es so, dass unsere Freunde unbedingt wissen möchten, was im Schloss der Fairfax Foundation in Darwynt eigentlich vor sich geht. Sie glauben, dass diese Beobachtungsreihe mit Haustieren nur eine Tarnung für eine andere Forschungsreihe ist, bei der ein neues Nervengas erprobt werden soll.« »Aber so was wird doch normalerweise in Porton Down gemacht. Das Institut dort ist hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt... top secret.« »Unsere Freunde haben herausgefunden, dass Darwynt Castle sicherer ist, als man von außen annehmen möchte.« »Ihre Freunde interessieren sich schon seit mehreren Monaten für dieses Schloss, scheinen jedoch bisher wenig in Erfahrung gebracht zu haben.« Leicester sagte das ohne Schadenfreude. »Bis zu diesem Vorfall vor zwei Wochen haben sie sich noch sehr zurückgehalten«, erwiderte Smith. »Und seit der Sache mit dem schlafwandelnden Affen sind sie in ihren Aktivitäten von einem Mann namens Martin Bristow ziemlich gestört worden. Bristow ist ein Journalist von der Daily Post, der jetzt im Ruhestand lebt, jedoch noch immer als der Korrespondent seiner Zeitung für Cornwall tätig ist. Unsere Freunde beklagen, dass ihnen Bristow in einem kleinen Ort wie Darwynt ständig im Weg umgeht. Welchen Eindruck hatten Sie eigentlich von diesem David Knight?« »Ich bin, wie schon gesagt, der Meinung, dass er nach Cornwall gefahren ist, entweder um dieses Mädchen zu treffen oder weil er hinter einer Story her war. In der Post ist allerdings kein aufregender Artikel von ihm erschienen, und falls er wirklich was entdeckt hätte, wäre er viel zu ehrlich und pflichtbewusst, um eine gute Story einfach platzen zu lassen.« »Unter allen Umständen?« »Ja, unter allen Umständen. Andernfalls hätte er gekündigt. Er ist genau der Typ.« »Danke. Ich schätze Ihre Menschenkenntnis.« »Sie sind selbst ein guter Menschenkenner.«
»Was den Preis der Menschen betrifft, gebe ich Ihnen recht, aber von ihrem Charakter verstehe ich wenig.« Smith meinte das absolut nicht zynisch. Es war lediglich eine Feststellung. Einige Minuten lang herrschte Schweigen im Zimmer. Smith schien diese Pausen zu mögen. Warum, das hatte Leicester nie herausbekommen. Schließlich fuhr er fort: »Unsere Freunde möchten, dass jemand in das Hauptquartier der Stiftung eingeschleust wird, am besten als Angestellter. Von dem gegenwärtigen Personal ist niemand für unsere Zwecke zu gebrauchen.« »Ich soll Ihnen also so einen Mann beschaffen?« »Ist das möglich?« »Ich bezweifle es. Wir beide machen seit Jahren sehr einträgliche Geschäfte miteinander. Ich habe Sie mit nützlichen elektronischen Geräten ausgestattet und für Sie Informationen gekauft. Sie haben auch meine sonstigen Dienstleistungen vom Diebstahl bis zur Brandstiftung in Anspruch genommen, aber diese Detektivspielerei liegt nicht auf meiner Linie. Ich kann keinen Mann als Wissenschaftler verkleiden und von ihm erwarten, dass er ein völlig unsinniges Risiko eingeht, um wie Mr. Superman mit einer wertvollen Formel in der Tasche aus der Bastion herauszufliegen. Das ist für meine Gefühle zu dramatisch und viel zu gefährlich.« »Wenn Sie Risiko sagen, dann meinen Sie vermutlich, er könnte selbst diesem Gas... oder was auch dort entwickelt wird... ausgesetzt sein, stimmt’s?« »Ja, und eine mögliche, rein zufällige Entdeckung durch Dr. Philip Winter. Sie erinnern sich doch sicher an diesen vertuschten Skandal in Oxford? Er ist ein fanatischer Wissenschaftler, der Tierversuche für sehr wenig aufschlussreich hält. Dieser junge Laborassistent, der sich freiwillig zur Verfügung gestellt hatte, ist fast gestorben... geistig normal wird er nie mehr werden. Was, glauben Sie, würde Winter tun, falls er einen Spion in seinem Team entlarvt? Und vergessen Sie bitte nicht, welchen Einfluss so etwas auf die Moral in meiner Organisation hätte. Ihre Freunde sollen sich selbst einen Mann suchen.« »Sie haben leider auch ihre Probleme«, murmelte Mr. Smith. »Offen gestanden habe ich ihnen keine großen Hoffnungen gemacht, Sie umstimmen zu können, und daraufhin haben sie vorgeschlagen, mit einem Amateur zu arbeiten. Ein Profi würde sowieso nur Ihnen persönlich Bericht erstatten, während ein
Amateur auf niemand bestimmten fixiert ist. Auf diese Weise werden unsere Freunde, wenn er, wie ich sicher annehme, geschnappt wird, nicht mit hineingezogen werden. Wir werden diesen Mann anweisen, jeden Freitagabend in den Gasthof Red Lion zu kommen, so dass Ihre Leute Kontakt mit ihm aufnehmen können. Ich würde einen schriftlichen Bericht vorschlagen, überlasse Ihnen jedoch die Einzelheiten. Sie leiten dann jedenfalls die Informationen an mich weiter.« »Wie gesagt, es scheint fast sicher, dass ein solcher Mann geschnappt wird.« »Unsere Freunde hoffen allerdings, dass er zuvor noch was entdecken kann.« »Euer Mann muss entweder dringend Geld brauchen, oder er hat keine Ahnung, was er eigentlich riskiert.« »Er braucht das Geld verdammt dringend, weil er bei irgendeinem obskuren Spielclub hoffnungslos verschuldet ist, und das Risiko ist ihm egal... dazu hat er viel zu viel Angst vor den brutalen Methoden der Geldeintreiber dieses Clubs. Außerdem hat er den Vorteil, sich nicht erst lange im Schloss orientieren zu müssen, weil er selbst jahrelang dort gelebt hat. Er ist Stephen Crampton. Seine Mutter ist die Ex-Herzogin von Darwynt.«
Stephen Crampton bewarb sich also um einen Büroposten bei der FairfaxStiftung. Er machte dabei kein Hehl aus seiner wahren Identität und behauptete, aus alter Anhänglichkeit an sein früheres Zuhause, in dem er so viele glückliche Stunden verbracht habe, zurückgekehrt zu sein. Man stellte ihn ein, und er verbrachte von da an viele unglückliche Stunden beim Ausfüllen der Testformulare der einzelnen Haustiere. Schließlich kannte er ihre sämtlichen Gewohnheiten. Er machte Rundgänge im Schloss, durchsuchte die Kellerräume und jeden einzelnen der neuen Anbauten, fand jedoch nichts, das seine wirklichen Arbeitgeber hätte interessieren können. Er belauschte alle Gespräche, sobald sich Gelegenheit ergab, entdeckte aber auch auf diese Weise keinen Hinweis darauf, dass im Schloss etwas anderes getan wurde, als die legitime Forschungsarbeit der Stiftung. Ende November schlug dann Walter Leicester, der gerade Mr. Smith einen
weiteren nichtssagenden Bericht aushändigte, vor, Crampton solle alles für den nächtlichen Besuch von zwei Profis vorbereiten, die mehr Fachkenntnis besaßen als er. Diese beiden Profis sollten dann sämtliche Aktenschränke im Büro, den Safe des Direktors und das geräumige Apartment des Direktors im ersten Stock durchsuchen. Der Plan war einfach. Cramptons Aufgabe war es, die Hunde ruhig zu halten, denn schließlich kannte er sie inzwischen gut. Die Profis konnten dann über die Mauer klettern, durch den Park schleichen und das Gebäude durch die Hintertür betreten, die Crampton für sie geöffnet hatte. Unglücklicherweise kannten die Hunde Crampton nur zu gut und bellten lauter denn je. Einer biss ihn in die Hand, und drei andere jagten begeistert hinter den beiden Profis her, die man wegen ihrer athletischen Fähigkeiten ausgewählt hatte und dann trotzdem ziemlich laut und unsportlich wieder auf der anderen Seite der Mauer landeten. Die Hunde bellten wütend hinter ihnen her und rissen knurrend an den Kleiderfetzen, die ihnen geblieben waren. Ein Motorradfahrer, der gerade vorbeikam, sah, wie zwei Männer in einen Wagen sprangen. Im nächsten Moment schoss das Auto ohne Licht in Richtung Darwynt davon. Der Motorradfahrer raste sofort laut hupend hinterher, so dass später, als er die Flüchtigen längst aus den Augen verloren hatte und ins Dorf zurückkehrte, sämtliche Bewohner auf der Straße zusammengelaufen waren oder in den geöffneten Fenstern lagen. Unter ersteren befanden sich auch Martin Bristow, der von seinem Kontaktmann hastig verständigt worden war, und Mr. Smiths Freunde. Mr. Smiths Freunde waren wütend. Ihr Coup war nicht nur fehlgeschlagen, sondern war ausgesprochen spektakulär fehlgeschlagen. Wenn in staatliche Gebäude eingebrochen wurde, dann nicht immer wegen des Kronschatzes. Jetzt würde sich jeder fragen, worauf der Einbruch gezielt haben mochte, und in Zukunft würden sie nicht mehr durch den unangenehmen Bristow, sondern von Hunderten an ihrer Arbeit gehindert werden. Die Chance, dass Stephen Crampton die Nerven behalten und man den versuchten Einbruch als Irrtum der Täter, die geglaubt hatten, das Schloss sei noch in Privatbesitz, abtun würde, war gering. Smiths Freunde wagten kaum zu hoffen, dass Crampton ungeschoren von der Polizei davonkam. Am liebsten wäre es ihnen gewesen, wenn die Geldeintreiber die schmutzige Arbeit rasch für sie erledigt und seine Leiche irgendwo weit von Darwynt entfernt verscharrt hätten.
Am Vormittag erschien in Darwynt Castle der örtliche Polizeiinspektor, um festzustellen, ob etwas gestohlen worden war, und ob die Diebe einen Pfeifer unter den Bewohnern des Schlosses gehabt hatten. Die Leute von der FairfaxStiftung trafen keine Anstalten, dem Inspektor bei seiner undankbaren Aufgabe zu helfen, sie gaben eher noch zu erkennen, die Polizei stifte in ihren Augen durch ihre Nachforschungen mehr Unheil als die Einbrecher. Während dieser Nachforschungen entdeckte dann der Inspektor an der Hand von Stephen Crampton, den er kannte und nicht gemocht hatte, einen interessanten Verband. Der Polizeiarzt bestätigte ihm, dass die Wunde an Cramptons Hand nicht von Dornen, wie dieser behauptet hatte, sondern von einem Hundebiss herrührte. Stephen Crampton konnte am folgenden Morgen nicht mehr vor Gericht erscheinen, weil er tot in seiner Zelle aufgefunden wurde. Man stellte fest, dass eine seiner Verdauungstabletten offensichtlich auch andere - tödliche Wirkstoffe enthalten hatte. Der Untersuchungsrichter stellte Selbstmord fest. Mr. Smith war zufrieden, und einige Mitglieder der Fairfax-Stiftung schienen einigermaßen erleichtert. Die Geschehnisse der Woche hatten Martin Bristow noch mehr in seinem Glauben bestärkt, dass das wirklich eine Story war, und Mac erklärte sich aus verschiedenen Gründen bereit, David Knight nach Cornwall zu schicken. Zum Abschied sagte Mac zu David: »Und um Himmels willen, David, bring endlich die Sache mit dieser verdammten Frau in Ordnung!« Seine Worte bewiesen wieder einmal, dass die Liebe viele Erscheinungsformen kennt.
Drittes Kapitel
Diesmal dauerte Davids Fahrt nach Cornwall nicht so lange, denn auf den Straßen herrschte wenig Verkehr, und die Schilder mit der Aufschrift Bed and Breakfast waren verschwunden. David parkte den Sportwagen vor dem Gasthof Red Lion und ging zum Empfang hinein. Er bekam ein Schlafzimmer im ersten Stock, von dessen Fenster aus er die ganze Dorfstraße überblicken konnte. Das kleine Teehaus auf der gegenüberliegenden Seite war geschlossen, die Rolläden waren heruntergelassen. Darwynt schien außerhalb der Touristenzeit ein verschlafenes kleines Nest zu sein. David schüttelte verwundert den Kopf. Noch im Juli hatte alles ganz anders ausgesehen. Im Hotel selbst war es ebenfalls sehr ruhig, und David fragte sich auf dem Weg in die Hotelhalle, wie viele Gäste es außer ihm noch beherbergen mochte. Er hatte sich für Viertel nach sechs mit Martin Bristow in der Bar verabredet. Es war erst sechs, und David beschloss, von der Telefonzelle neben dem Empfang aus noch zu telefonieren. »Elizabeth? Hier ist David. Ich wohne im Red Lion.« »In Darwynt?« Sie schien angenehm überrascht. »Ja. Wann können wir uns treffen?«, fragte er. »Oh... geschäftlich oder privat?« »Beides, hoffe ich. Wie wär’s mit morgen?« »David, ich würde wirklich gern, aber wir haben im Augenblick schrecklich viel zu tun und... und zu wenig Leute.« »Das habe ich schon gelesen.« »Das mit Crampton meine ich nicht. Zwei meiner Kollegen sind krank. Könnten
wir uns nicht übermorgen, also am Samstag sehen?« »Ausgezeichnet«, stimmte David zu. »Was haben deine beiden Kollegen denn? Leiden sie an den Nachwirkungen vom Schlafwandeln?« »Schuft! Ich rufe dich Samstagmorgen an.« Als er in die Bar kam, lehnte Martin Bristow bereits an der Theke und unterhielt sich angeregt mit Carol. »’n Abend, Mr. Knight. Schön, dass Sie wieder hier sind. Was soll’s denn sein?«, erkundigte sich Carol. »Geben Sie mir ein Bier, Carol«, bat David mit einem Blick auf den Bierkrug, den Martin vor sich stehen hatte. »Eine böse Geschichte ist das mit Mr. Crampton, was? Gemocht habe ich ihn allerdings nie. Ein schmieriger Kerl. Sind Sie deshalb gekommen, Mr. Knight?« »Ja«, murmelte David. Carol lachte ungläubig und bediente dann zwei blasse Gäste. Martin und David setzten sich an einen Ecktisch vor der Theke, so dass sie die beiden Männer im Auge behalten konnten. »Sie traut den zwei Typen nicht«, erklärte Martin. »So, tatsächlich?« »Vermutlich sind sie harmlos, aber seltsam ist es schon. Der größere von beiden schreibt angeblich an einer Geschichte Cornwalls und der andere macht die Fotos dazu.« »Was ist schon dabei?« »Na, jedenfalls lassen Sie sich bei ihrer Arbeit ziemlich Zeit. Sie sind schon seit Juni hier. Offensichtlich bekommen sie ab und zu wütende Anrufe von ihrem Verleger.« »Woher weißt du das?«, fragte David.
»Carol ist manchmal in der Telefonzentrale... und sie hört immer mit.« »Danke, dass du mich gewarnt hast. Ich werde also lieber die Telefonzelle in der Halle benutzen. Wenn ich aber in meinem Zimmer angerufen werde, kann ich es vermutlich nicht verhindern, dass sie mithört.« »Du brauchst dir deshalb keine Sorgen zu machen. Carol mag dich. Wenn sie also was Interessantes erfährt, behält sie es für sich.« »Freut mich, das zu hören. Bevor wir über alles andere reden, möchte ich mich bei dir entschuldigen. Es sieht ganz so aus, als gäbe es in Darwynt doch eine gute Story. Du hast von Anfang an recht gehabt.« Martin grinste. »Mac hat sich auch getäuscht.« »Ich glaube kaum, dass er das ausdrücklich zugeben wird«, erwiderte David. »Praktisch hat er es aber schon getan, indem er mich nach Cornwall geschickt hat. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ich mehr herausbringe als du.« »Vielleicht doch. Du könntest zum Beispiel Dr. Masefield dazu bringen, zu erklären...« »Wieviel wissen wir bis jetzt über den Einbruch im Schloss und Cramptons Tod?« »Der Inspektor hier ist ein guter Mann. Ich glaube, er hat mir alles gesagt, was er weiß... und das ist nicht viel. Ich habe den Eindruck, dass er Crampton hauptsächlich aus Wut über Winters arrogantes und unkooperatives Verhalten ihm gegenüber verhaftet hat. Die ganze Belegschaft behauptet steif und fest, dass nichts gestohlen worden sei und die Einbrecher nur im Park, aber nicht im Schloss gewesen seien. Crampton hat vor seinem Tod offensichtlich noch alles gestanden. Er hatte fünftausend Pfund Schulden bei einem obskuren Spielclub und eine Heidenangst vor seiner Mutter und den Geldeintreibern dieses Clubs. Vor einigen Wochen hat er dann plötzlich einen Anruf von einem geheimnisvollen Mann bekommen, der ihm fünftausend Pfund geboten hat, wenn er sich von der Fairfax-Stiftung anstellen lässt und einen wöchentlichen Bericht darüber liefert, was dort im Schloss vor sich geht.« »Wohin hat er diesen Bericht geschickt?«, erkundigte sich David.
»Hm, das ist ganz geschickt eingefädelt gewesen. Crampton ist jeden Freitagabend in den Red Lion gekommen und hat einen Gin getrunken. In seinem Mantel, den er draußen in der Garderobe aufgehängt hatte, steckte der Bericht. Wenn er den Gasthof wieder verlassen hat, war der Umschlag mit seinen Aufzeichnungen verschwunden. Stattdessen fand er einen Zettel mit neuen Instruktionen in seiner Tasche.« »Das könnte uns weiterhelfen. Die Polizei kann vielleicht feststellen, von wem oder auf welcher Schreibmaschine diese Instruktionen geschrieben wurden.« »Crampton hat behauptet, er habe die Zettel vernichtet. Er wusste übrigens, dass diese beiden Männer nachts einsteigen würden, hat sie jedoch nicht gesehen. Seine Aufgabe ist es gewesen, die Hunde ruhig zu halten und die Hintertür zu öffnen. Vielleicht wäre ihm später noch mehr eingefallen, aber jetzt ist er tot.« »Ja, und darüber sind gewisse Leute sicher sehr froh. Noch mal dasselbe für dich?« Martin nickte, und David ging mit den beiden leeren Krügen an die Theke und ließ sie wieder füllen. Das gab Mr. Smiths Freunden Gelegenheit, eine neue Kassette in ihr Tonbandgerät einzulegen. »Ich möchte wissen, wer jeden Freitag den Umschlag aus Cramptons Manteltasche geholt hat«, sagte David, als er an den Tisch zurückkehrte. »Ich habe den Inspektor auch danach gefragt, aber er wollte nicht recht raus mit der Sprache. Von Carol habe ich nämlich erfahren, dass er sie deshalb schon verhört hatte. Sie musste ihm jedoch... voll Bedauern... sagen, dass die beiden Historiker, die er im Verdacht hatte, freitags nie in der Bar gewesen sind. Carol weiß, dass sie immer nach Truro gefahren sind. Im Übrigen glaube ich, dass der Inspektor Anweisung von oben bekommen hat, keine weiteren Nachforschungen in dieser Sache anzustellen.« »Hm, es ist vielleicht besser, wenn ich gleich morgen mal mit dem Inspektor rede. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass er mir was anderes erzählt als dir. Du bist hier praktisch ein Einheimischer.« »Und was ist mit Elizabeth Masefield?« »Vielleicht sollte ich deinen Rat befolgen. Im Übrigen habe ich sie schon
angerufen und mich für Samstag mit ihr verabredet. Falls hier wirklich geheimnisvolle Dinge im Gange sind, weiß sie bestimmt nichts davon.« »Hier tut sich was, verlass dich drauf.« Martin zog einen zerknitterten Umschlag aus der Tasche. »Das sind die Notizen, die ich mir im Juli gemacht habe. Philip Winter, Psychologe.« Martin sah David an. »Seit unserem letzten Treffen habe ich mehr über ihn herausgefunden.« »Durch Annabelle?« »Ja, durch Annabelle. Und Annabelles letzter Geliebter, der zufällig in der Radcliffe Klinik arbeitet, konnte mir die Angaben bestätigen. Winter hat offensichtlich keine neue Droge ausprobiert, ist dabei zu ungeduldig gewesen und hat sie zu früh an einem Freiwilligen erprobt. Das dürfte die Behauptung deiner Freundin, dass Winter in Oxford nie praktisch gearbeitet hat, widerlegen.« »Was hat die Radcliffe-Klinik damit zu tun?«, warf David ein. »Dort wurde dieser freiwillige Helfer von Winter behandelt. Die Sache ist natürlich vertuscht worden.« Martin las weiter, was er sich auf dem Briefumschlag notiert hatte: »Elizabeth Masefield. Ärztin, arbeitete in der Forschung. Sie hat sich einen guten Namen gemacht. Karl Weissman: Einer der führenden Neurologen des Landes. Er hat schon alles erreicht, was man erreichen kann, aber die beiden anderen, besonders Winter, basteln noch an ihrer Karriere. Winter gilt als sehr ehrgeizig und zielstrebig. Glaubst du wirklich, dass solche Leute ihre Zeit mit Beobachtungen an Haustieren verschwenden?« »Nach der Sache in Oxford ist man vielleicht der Meinung, dass Winter bei Tieren nicht so viel anstellen kann.« »Einen Mann wie Winter stellt man nicht aufs Abstellgleis, sondern gibt ihm jemanden zur Seite, der ihm sagt, wann er aufhören muss.« »Womit hat Winter früher experimentiert?«, fragte David. »Mit persönlichkeitsverändernden Drogen. Ich vermute, dass er irgendeine schnell wirkende Super-Wahrheitsdroge erfunden hat.«
»Ist so was denn überhaupt möglich?« »Ja, ich habe einiges darüber gelesen. Keine der bisher bekannten Wahrheitsdrogen ist besonders wirksam. Es ist schrecklich, aber tatsächlich möglich, den völligen Zusammenbruch eines Menschen durch Medikamente herbeizuführen, aber es dauert verdammt lange. Offen gestanden glaube ich allerdings nicht, dass die Leute im Schloss damit experimentieren. Elizabeth Masefield ist Anästhesistin, und Weissman ist Neurologe. Meiner Meinung nach ist Weissman der führende Kopf des Teams, und deshalb arbeiten die drei sicher auch auf seinem Gebiet.« »Du meinst also, sie entwickeln irgendein Gas? Aber Weissman hat seinen letzten Posten doch aufgegeben, weil er Angst hatte, genau das entdeckt zu haben. Na, jedenfalls glaube ich kaum, dass sie mitten in Darwynt mit Giftgasen experimentieren. Solche Sachen werden in Porton Down gemacht... und zwar hinter Stacheldraht und hohen Mauern.«
Mr. Smith erhielt die Abschrift dieses Gesprächs am darauffolgenden Tag. Er wunderte sich, dass seine Freunde ihm den Bericht überhaupt geschickt hatten, da dieser lediglich bewies, dass Knight und Bristow praktisch zu dem gleichen Schluss gelangt waren wie er und ebenso viel wussten wie seine Freunde. Am folgenden Morgen setzte in Cornwall leichter Regen ein, der den ganzen Tag über andauerte. Davids Besuch bei der Polizei verlief enttäuschend und brachte ihm nichts Neues. Für ein Uhr hatte er sich mit Martin in der Bar des Red Lion verabredet. Als David schließlich mit fünf Minuten Verspätung den Schankraum betrat, waren sämtliche Tische besetzt, und der Wirt selbst stand hinter dem Tresen. Von Martin war nichts zu sehen. Es dauerte einige Zeit, bis David sein Bier bekam. »Wo ist Carol?« »Das wüsste ich auch gern«, entgegnete der Wirt. »Sie ist einfach weggeblieben, ohne mir was zu sagen. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Mr. Bristow ist zu ihr nach Hause gegangen, um festzustellen, ob sie krank ist. Sie wohnt am anderen Ende der Straße.«
Da kein Tisch frei war, blieb David am Tresen stehen. Als ein Teil der Gäste zum Essen in den Speisesaal hinüberging, konnte David sich setzen. Schließlich kam Martin. »Na, wie bist du mit dem Inspektor zu Rande gekommen?«, fragte er David. »Er ist sehr hilfsbereit gewesen, aber was Neues konnte er mir auch nicht sagen. Wie war dein Krankenbesuch?« »Wenn du Carol meinst, dann muss ich dir leider sagen, dass sie gar nicht krank ist. Sie hatte gestern Abend Streit mit ihren Eltern. Es ging offensichtlich um die Art, wie sie sich kleidet... und ist danach einfach weggegangen.« »Ist das nicht ein bisschen übertrieben?« »Ihr Vater und sie haben anscheinend ein ziemlich hitziges Temperament. So was kommt öfters vor. Carol übernachtet dann meistens bei Verwandten und kehrt am nächsten Tag wieder nach Hause zurück.« »Normalerweise?« »Ja. Die Eltern waren überrascht, als sie hörten, dass sie heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen ist. Sorgen machen sie sich nicht. Carol bleibt gewöhnlich bei zwei alten Tanten namens Tregarth, die ungefähr vier oder fünf Kilometer weiter südlich von hier in einem einsam gelegenen alten Haus wohnen. Der Vater meinte, die alten Damen seien etwas wunderlich und hätten mit Carol vielleicht einen Ausflug ans Meer gemacht.« »An einem regnerischen Dezembertag?« »Na, wenn sie wirklich etwas wunderlich sind... Jedenfalls schlage ich vor, dass wir nach dem Essen mal dorthin fahren und nachsehen.« »Warum denn das?«, wollte David wissen. »Weil sich ihre Eltern sonst doch noch Sorgen machen.« »Der einzige, der sich Sorgen macht, bist du«, entgegnete David. »Die alten Damen überlasse ich dir, wenn wir dort sind. Okay, essen wir erst mal was.«
Danach nahm Martin vorsichtig auf dem Beifahrersitz des roten Sportwagens Platz, faltete auf den Knien eine Landkarte auseinander und machte eine Miene, als stünde er kurz vor seiner Hinrichtung. Als der Sportwagen am Schloss vorbeiraste, notierte sich einer von Mr. Smiths Freunden die genaue Zeit: 3 Uhr 12. »Die nächste Straße nach rechts«, wies Martin David an. An der Kreuzung stand ein Wegweiser nach Trussal, und die Straße wurde immer schmaler. Schließlich war es nur noch ein holpriger Weg. »Wie ist Carol letzte Nacht hierhergekommen?«, fragte David. »Mit dem Fahrrad.« »Es muss schon Mitternacht gewesen sein, bis sie hier war. Sie ist bis zur Sperrstunde im Red Lion gewesen«, meinte David. Das Haus von Carols Tanten war nicht schwer zu finden, denn es schien das einzige weit und breit zu sein. David parkte den Wagen am Wiesenrand, und sie stiegen aus. »Eine herrliche Aussicht«, murmelte Martin und deutete auf die hügelige Landschaft, die sich vor dem Haus erstreckte. »Von hier aus kann man sogar Darwynt Castle sehen«, sagte David, dem plötzlich klar wurde, dass Carols Tanten das Haus bewohnten, das er damals von Elizabeths Fenster aus entdeckt hatte. Sie drehten sich um und gingen den Kiesweg hinauf. Aus der Nähe betrachtet, wirkte das graue, klotzige Haus wenig einladend. Hinter den Fenstern waren sämtliche Vorhänge vorgezogen. David runzelte die Stirn. »Die können doch nicht noch immer oder schon wieder schlafen?«, brummte er. »Möglich ist alles«, entgegnete Martin und klingelte. Die Glocke läutete schrill, doch drinnen blieb alles ruhig. Nachdem sie noch mehrmals geklingelt und um
das ganze Haus herumgegangen waren, ohne dass sich eine Menschenseele gemeldet hätte, liefen sie unverrichteter Dinge wieder zum Wagen zurück. Auf der Heimfahrt waren David und Martin sehr nachdenklicher Stimmung, und David war beinahe erleichtert, als Martin beschloss, früh ins Bett zu gehen. Am nächsten Morgen, als David frühstückte, rief Elizabeth an und sagte ihm, dass sie nach dem Mittagessen in den Red Lion kommen würde. »Warum kann ich dich nicht abholen?«, fragte er. »Ich treffe mich lieber im Hotel mit dir. Hier... hier ist ziemlich viel Tumult.« David gab schließlich nach und kehrte zu seinem kalt gewordenen Frühstück zurück. Später setzte er sich mit den Morgenzeitungen in die Eingangshalle. Er hatte gerade die Daily Post gelesen, als Carol die Halle betrat. Sie sah frisch und ausgeruht aus, hatte jedoch ungewöhnlich rote Backen und einen seltsamen Glanz in den Augen. »Guten Morgen, Mr. Knight«, begrüßte sie ihn zurückhaltender als sonst. »Hallo, Carol. Wir haben uns schon gewundert, wo du solange steckst.« »Oh, nein! Fangen Sie nicht auch noch davon an! Mein Vater hat mich gerade schon bearbeitet, weil ich gestern angeblich nicht hier gewesen bin. Dabei wissen Sie ja genau, dass ich gestern hier war. Schließlich habe ich mit Ihnen und Mr. Bristow noch in der Bar geredet.« »Das war am Donnerstagabend.« »Natürlich, Mr. Knight. Und heute ist Freitag.« »Heute ist Samstag. Hier, sehen Sie!« David hielt ihr die Zeitung hin. Carol starrte ungläubig auf das Datum und sank dann langsam auf den nächstbesten Stuhl. »Mann, ich habe doch den Krach mit meinem Vater am Donnerstagabend gehabt
und bin danach zu meinen Tanten gefahren. Sie haben schon geschlafen, aber der Hausschlüssel liegt immer unter dem Fußabstreifer. Ich erinnere mich nur noch, dass ich ins Bett gegangen bin. Heute Morgen bin ich dann wieder aufgewacht. Oh, Gott, Mr. Knight, glauben Sie, ich leide an Gedächtnisschwund?« »Nein. Haben deine Tanten heute was gesagt?« Carol dachte einen Moment nach. »Sie haben nur gefragt, ob ich mich wieder mit Vater gestritten und gut geschlafen hätte.« »Dann müssen sie ebenfalls angenommen haben, heute sei Freitag.« »Die beiden wissen nie, welcher Tag gerade ist, doch sie haben offensichtlich geglaubt, ich sei am Vorabend gekommen. Aber wenn heute wirklich Samstag ist, wo sind wir dann gestern gewesen?« »Ich glaube, ihr habt alle drei fest geschlafen«, erwiderte David. »Geschlafen?« »Ja.« David erzählte ihr von seinem Ausflug zum Haus ihrer Tanten mit Martin. »Ich glaube, ich weiß, was iert ist«, beruhigte er die verblüffte Carol. »Sobald ich meiner Sache sicher bin, reden wir noch mal darüber. Machen Sie sich keine Sorgen. Aber es ist sehr wichtig, dass Sie niemandem von diesem seltsamen Erlebnis etwas sagen.« Carol versprach zu schweigen und stand auf. Sie verschwand kopfschüttelnd in der Bar. Als David mit seinem Wagen zu Carols Tanten fuhr, hatte er plötzlich Schuldgefühle, weil er Martin nichts von Carols Rückkehr gesagt hatte und jetzt auf eigene Faust Nachforschungen anstellte. Schließlich hielt David vor dem grauen Haus an. Es fiel ihm sofort auf, dass die Vorhänge hinter den Fenstern jetzt zurückgezogen waren und einige der Fenster sogar offenstanden. Trotzdem wirkte der alte Bau nicht einladender als am Vortag.
Kaum hatte David auf die Klingel gedrückt, hörte er schon Schritte, und im nächsten Augenblick wurde die Haustür geöffnet. Vor ihm stand eine rundliche alte Frau mit blauen Augen und schlohweißem Haar. Sie lächelte freundlich. »Miss Tregarth?« »Ja«, antwortete sie und schüttelte ihm die Hand. »Kommen Sie rein. Es ist kalt draußen.« »Ich heiße David Knight und wohne zurzeit im Gasthof Red Lion«, erklärte David, als er ihr in ein kleines, mit Möbeln vollgestopftes Wohnzimmer folgte. Miss Tregarth bat ihn, in einem alten Lehnstuhl Platz zu nehmen, und rief dann ihre Schwester: »Annie, wir haben Besuch!« Die zweite Miss Tregarth war etwas jünger und größer, sah jedoch ihrer Schwester sehr ähnlich. Hinter ihr tauchte die größte und gefährlichste schwarze Katze auf, der David je begegnet war. »Und das«, begann Miss Annie Tregarth und deutete auf die Katze, »ist Angel.« Angel sprang auf ihren Schoß und betrachtete David misstrauisch aus ihren grünen Augen. »Sie wundern sich sicher über meinen Besuch...«, begann David. »Oh, nein«, versicherten ihm die beiden alten Damen im Chor. »Sie wissen also, warum ich zu Ihnen gekommen bin?« »Nein«, entgegnete Miss Emily, dann sagte sie zu ihrer Schwester: »Angel ist heute Morgen so hungrig gewesen, dass ich ihm eine Büchse Katzenfutter und die geschabte Leber geben musste, Annie.« »Emily, du überfütterst das Tier«, wies ihre Schwester sie ernst zurecht. »Es wird fett werden.« »Aber Angel ist doch schrecklich hungrig gewesen«, verteidigte sich Emily.
»Angel ist ein wunderschöner Kater«, warf David ein. Es verblüffte ihn, mit welcher Selbstverständlichkeit die Damen seinen Besuch hinnahmen. »Ihre Nichte Carol mag Angel sicher sehr gern.« Die beiden strahlten. »Ja, das tut sie«, erwiderte Miss Annie. »Sie ist letzte Nacht bei uns gewesen, wissen Sie. Aber sie hat gesagt, dass Angel zu fett ist.« Sie warf Miss Emily einen strafenden Blick zu. »Ist Carol nur eine Nacht hier gewesen?«, erkundigte sich David hastig. »Ja, sie bleibt nie länger. Carol hatte mal wieder eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater.« Miss Emily und Miss Annie war offensichtlich dasselbe wie Carol iert. Und dem hungrigen Angel war es offensichtlich nicht anders ergangen. Sie hatten alle einen Tag völlig verschlafen. Die Gelegenheit, sich wieder zu verabschieden, schien günstig. Miss Emily warf ihrer Schwester einen schuldbewussten Blick zu, dann fragte sie David: »Schreiben Sie auch eine Geschichte von Cornwall?« »Nein... nein, eigentlich nicht.« »Die beiden anderen Herren schon. Und sie haben uns so viele Fragen über das Schloss und die Herzoge und die Leute, die jetzt dort wohnen, gestellt. Es macht uns nichts aus, das alles zu erzählen, aber wir finden diese Aushorcherei nicht besonders fein. Wir würden wildfremde Leute nie so ausfragen. Angel hat das gar nicht gefallen. Nicht wahr, mein Goldschatz?« Angel miaute klagend. »Schon gut, Angel. Du bekommst später frischen Fisch. Heute ist schließlich Freitag.« »Es ist Samstag«, verbesserte David sie. Die beiden Schwestern machten kurz ein erstauntes Gesicht.
»Oh, das ist egal. Morgen gibt’s jedenfalls Rindfleisch«, erklärte Emily.
Als David zurückkam, war Martin Bristow in der Bar des Red Lion. »Eines möchte ich wissen«, sagte Martin, als David von seinem Besuch bei den Schwestern Tregarth berichtet hatte. »Hättest du ihnen gesagt, dass du von der Daily Post kommst, wenn sie eine Erklärung für deinen Besuch verlangt hätten?« »Nein, wahrscheinlich nicht«, gab David zu. »Ich habe viel nachgedacht... trink aus! Wir reden beim Mittagessen darüber.« »Okay, du hast also nachgedacht«, gab David Martin bei der Suppe das Stichwort. »Ja, richtig. Du triffst dich heute Nachmittag mit Elizabeth Masefield, und ich habe hoffentlich recht, wenn ich annehme, dass du sie fragen wirst, was eigentlich in Darwynt Castle los ist.« »Genau das habe ich vor.« »Von ihrer Antwort hängt ’ne Menge ab. Wenn sie in eine üble Geschichte verwickelt ist, sitzt du in der Zwickmühle. Auf der einen Seite bist du in sie verliebt, auf der anderen Seite hast du deine Pflichten der Zeitung gegenüber. Meinst du nicht, es wäre besser, du ziehst dich zurück, solange es noch geht? Du könntest versuchen, sie vorläufig nicht wiederzusehen, bis wir genau wissen, was gespielt wird.« »Nein, unmöglich. Ich laufe nicht davon. Um meiner selbst willen muss ich herausfinden, was für ein Mädchen sie wirklich ist.«
Elizabeth hatte gesagt, sie würde um halb drei Uhr kommen, und David saß schon um zwanzig nach zwei in der Halle am Fenster. Schließlich trat Carol aus der Bar.
»Hallo, Mr. Knight!«, rief sie ihm zu. »Warten Sie auf Miss Masefield?« »Ja. Ich habe heute übrigens Ihre Tanten besucht.« Carol kam zu ihm. »Und was halten Sie von den beiden?« David überlegte, wie er seinen Eindruck am taktvollsten schildern konnte. Carol lachte. »Schon gut, Mr. Knight. Diese beiden Damen und Angel... das ist schon ein verrücktes Trio.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Angel ist nicht ungefährlich. Er hat sogar versucht, die beiden Typen zu vertreiben...« Carol deutete in Richtung Bar. »Ich habe gehört, wie der eine seinem Verleger davon am Telefon erzählt hat. Es ist ganz gut, dass Angel ein bisschen auf meine Tanten auft. Sie lassen jeden ins Haus und stellen nie Fragen. Ich muss wieder arbeiten. Viel Vergnügen.« Sie zwinkerte David lachend zu und verschwand in der Bar. Elizabeth kam pünktlich, und als er sie sah, wurde ihm klar, warum ihn sämtliche Frauen langweilten, seit er sie kennengelernt hatte. Sie begrüßte ihn höflich, aber zurückhaltend. »Hallo, David.« Sie schüttelte seine Hand. Doch ihre Stimme zitterte etwas und war rauer als sonst. Sie gingen gemeinsam zu Davids Wagen, der im Hof stand. »Fahren wir zum Land’s End«, schlug sie vor. »Dort ist es im Winter, wenn die Touristen fort sind, besonders schön.«
Der große, hagere Gast des Red Lion, der angeblich an einer Geschichte Cornwalls schrieb, hatte sein Zimmer zur Hauptstraße hinaus, und sein sogenannter Fotograf bewohnte den Raum daneben, von dessen Fenster aus man den Hof und die Garagen des Gasthauses überblicken konnte. Es war also der Fotograf, der hörte, wie Elizabeth Masefield das Ziel des roten Sportwagens nannte, und daraufhin sofort den Korridor überquerte, um seinem Kollegen Bescheid zu sagen. »Wir folgen ihnen«, beschloss der große Mann. Allerdings war ihr Hillman viel
zu langsam, um mit Davids Sportwagen mithalten zu können, so dass die beiden Herren weder auf dem Weg zum Land’s End, noch auf der völlig verlassenen Landspitze selbst auch nur eine Spur von David oder Elizabeth Masefield entdeckten. »Vermutlich sind sie irgendwo abgebogen«, überlegte der kleinere von beiden. »Es gibt hier ’ne Menge ruhiger, einsamer Wege. Und wenn sie überhaupt miteinander reden, dann sicher nicht über Dinge, die dich interessieren.« »Du hast eine schmutzige Phantasie«, seufzte der andere. »Aber vermutlich hast du recht. Los, steig aus und mach für alle Fälle wenigstens ein paar Fotos. Dann fahren wir zurück. Vielleicht finden wir sie noch auf irgendeiner Nebenstraße.« Der Fotograf hatte recht gehabt. Das rote Cabriolet war durch Helston gefahren, auf dessen Straßen sich zwar keine Touristen, aber dafür umso mehr Wochenendeinkäufer gedrängt hatten. »Bei der nächsten Kreuzung nach rechts«, sagte Elizabeth, als sie die Kleinstadt hinter sich gelassen hatten. Der Wegweiser trug die Aufschrift Penzance, und David schaltete in einen niedrigeren Gang, da die Straße plötzlich steil bergauf führte. Elizabeth war sehr schweigsam, doch David merkte, dass sie sich ständig umsah. Eine Weile versperrten ihr jedoch hohe Hecken die Sicht. Gerade und kurvenreiche Strecken wechselten sich ab, bis die Hecke auf der linken Straßenseite plötzlich aufhörte, und David aus den Augenwinkeln bemerkte, dass sie die obere Hangkante eines Tales erreicht hatten, das sich in vielen Windungen zum Meer hinunterschlängelte. Kurz darauf kamen sie in ein Dorf und danach wieder in ein Dorf, und Elizabeth starrte noch immer durch das Rückfenster, was sehr anstrengend sein musste. »Jetzt kommt gleich auf der linken Seite ein Weg. Nimm ihn«, wies sie David an. David trat auf die Bremse und bog nach links in einen schmalen Weg ein. »Nach einem halben Kilometer biegen wir wieder nach links ab«, erklärte Elizabeth, ohne den Blick vom Rückfenster zu wenden. Erst als sie auch diese Kreuzung hinter sich gelassen und an ein paar Hän vorbeigefahren waren, die genauso einsam wirkten wie der Feldweg, drehte sie sich aufatmend wieder um.
»Ich glaube nicht, dass uns jemand gefolgt ist«, murmelte sie. »Ich auch nicht, aber auf diesem Weg kommen wir nie nach Land’s End.« »Da vorn nach rechts und dann immer geradeaus«, sagte Elizabeth. Der Weg war gerade für zwei Autos breit genug. Rechts und links tauchten ab und zu Teilstücke von herbstlich braunen, mit gelbem Stechginster durchsetzten Hecken auf. Dann sah David zur Rechten ein weites Feld und das Meer. Das Feld wurde schmaler, und das Wasser rückte näher an die Straße. Schließlich musste sich David ganz auf den Weg konzentrieren, der immer enger und kurvenreicher wurde und zwischen hohen Hecken hindurchführte. »Wir sind da.« David lenkte den Sportwagen durch eine Lücke in der Hecke und eine kurze Auffahrt bis zu einer Garage hinauf. Rechts davon lag ein einstöckiges Haus. Er hielt an. »Bitte, stell den Motor ab, David, ich möchte hören, ob noch ein Wagen unterwegs ist.« Elizabeth stieg aus und lief auf die Straße zurück. David kurbelte das Autofenster herunter. Er hörte Elizabeths Schritte, das leise Rauschen des Windes und das Singen der Telefondrähte; sonst war alles ruhig. Elizabeth war offensichtlich zur selben Ansicht gelangt, denn sie kehrte zurück, ging am Wagen vorbei, zog einen Schlüssel aus der Handtasche und öffnete die Garagentür. David fuhr hinein. Elizabeth machte die Tür wieder zu und schloss von innen ab. »Auf Land’s End ist die Aussicht vermutlich besser«, brummte David und starrte auf die kahle Ziegelwand. Elizabeth zog schweigend einen zweiten Schlüssel aus der Tasche und öffnete damit eine Seitentür, durch die man einen schmalen Flur erreichte. Die Tür am Ende des Korridors stand offen, und David erkannte dahinter ein geräumiges, elegant eingerichtetes Wohnzimmer mit Blick auf das Meer.
Der Fußboden bestand aus breiten gebohnerten Holzbohlen, und die Vorhänge waren blaugrün wie das Meer. In einer Ecke befand sich eine sandfarbene Sitzecke mit bequemen Sesseln, und an den Wänden hingen moderne Ölbilder von verschiedenen Häfen. David kam das alles ganz unwirklich vor. »Ist das dein Haus?«, erkundigte er sich. »Ja«, antwortete Elizabeth. »Mein Vater hat es mir geschenkt, aber es ist eine Ewigkeit her, seitdem ich zum letzten Mal hier gewesen bin.« Elizabeth stand jetzt neben David. Er legte die Hände auf ihre Schultern und drehte sie zu sich herum. »Ich möchte dich ’ne Menge fragen, Elizabeth, und ich finde, es ist Zeit, dass du mir reinen Wein einschenkst.« Ihre Augen waren fast dunkelgrün. Er küsste sie, und die Frage, die er ihr schließlich stellte, hatte mit seinen journalistischen Pflichten nichts mehr zu tun. Schließlich befreite sie sich lächelnd aus seiner Umarmung. »Ich koche uns jetzt Kaffee«, murmelte sie. »Ich komme mit, damit du dich nicht plötzlich in Luft auflöst.« Auf dem Flur bogen sie nach links ab und gingen an einem Fenster vorbei, dessen Vorhänge zugezogen waren und von dem aus man vermutlich die Auffahrt überblicken konnte. Auf der linken Seite waren zwei Türen. »Die erste führt ins Badezimmer und die zweite in mein Schlafzimmer«, erklärte Elizabeth. »Vielleicht würdest du dich etwas nützlich machen und meinen Mantel aufhängen. Das Badezimmer kannst du übrigens auch durch mein Schlafzimmer erreichen... falls es dich interessiert.« »Soll ich dir aus deinem Zimmer was Bequemeres zum Anziehen bringen?«, erkundigte sich David grinsend. »Nein, danke.«
Das Schlafzimmer war ebenso streng und gar nicht feminin eingerichtet wie das Wohnzimmer. Die Vorhänge waren hier jedoch intensiver grün, und über dem breiten Bett lag eine Decke in derselben Farbe. Er öffnete einen der Einbauschränke, um einen Bügel für Elizabeths Mantel zu finden, und sah, dass sein Inhalt keinesfalls dem strengen Stil der Einrichtung entsprach. Als David dann in die Küche kam, hatte Elizabeth bereits Tassen, Zucker und eine elektrische Kaffeemaschine auf ein Tablett gestellt. »Trägst du es bitte rein?« David hob es auf. »Was hältst du von dem Schlafzimmer?« »Das Bett sieht prima aus.« »Wüstling! Du hast das völlig falsch verstanden. Außerdem verschüttest du den Kaffee.« David stellte das Tablett auf einen Tisch am Fenster, und Elizabeth steckte die Kaffeemaschine ein. »Okay«, seufzte David. »Besonders feminin finde ich es nicht.« »Ich bin auch nicht besonders feminin«-, entgegnete Elizabeth. »Jeder, der Augen hat, widerspricht dir da energisch.« »Oh, ich meine damit nicht, dass ich keinen Sex-Appeal hätte«, wehrte Elizabeth lachend ab und setzte sich auf das Sofa. »Du hast den Sex-Appeal einer Kleopatra«, murmelte David, nahm neben ihr Platz und legte den Arm um sie. »Allerdings bin ich insofern nicht feminin, als ich meine Arbeit, die ich für sehr wichtig halte, vor alles andere... auch vor meine natürlichen Neigungen und Bedürfnisse stelle.«
Sie machte dabei die ernste Miene eines Kindes, das eine gut gelernte Lektion aufsagt. David beugte sich über sie, um sie zu küssen, doch in diesem Augenblick fluchte Elizabeth ausgesprochen unweiblich, denn die Kaffeemaschine spuckte. Der Zauber war vorerst gebrochen. »Wenn du dich jetzt wieder auf vernünftigere Dinge konzentrieren würdest, könnte ich einige deiner Fragen beantworten.« Die Kaffeemaschine hatte zu arbeiten begonnen, und David holte tief Luft. »Also gut. Was macht ihr eigentlich in Darwynt?«, begann er. »Und komm mir bitte nicht mit diesem Unsinn über Verhaltensstörungen bei Haustieren. Ich will wissen, warum ihr einen Affen habt, der schlafwandelt, und warum Carol gestern nicht zur Arbeit erschienen ist.« »Es handelt sich um ein Forschungsprojekt.« »Darauf wäre ich nie gekommen. Also bitte keine Ausflüchte mehr. Los, ich möchte alles wissen!«, forderte David sie energisch auf. »Na, gut. Die Sache mit den Haustieren ist nur ein Vorwand. Wir haben eine Versuchsreihe durchgeführt, die jetzt fast zu Ende ist. Der Direktor lässt dir übrigens ausrichten, dass er dir am Montag alles in vollem Umfang erklären kann.« »Warum ausgerechnet am Montag?«, fragte David. »Weil zu diesem Zeitpunkt sämtliche Formeln und Proben sicher verwahrt sind, und ihre Existenz keine wichtige Geheimsache mehr ist.« »Es handelt sich um irgendein Nervengas, stimmt’s?« »Näheres kann ich dir noch nicht sagen«, wehrte Elizabeth ab. »Himmel, ich dachte, du wolltest endlich meine Fragen beantworten«, schimpfte David. »Einige Fragen kann ich eben noch nicht beantworten. Ich habe eine Geheimhalteverpflichtung unterschrieben.« »Okay, dann spielen wir weiter Katz und Maus. Bis Montag bleibt geheim, dass
ihr ein offensichtlich gefährliches Nervengas entwickelt habt. Danach allerdings soll es publik gemacht werden, und falls es gegen unsere Feinde oder potentiellen Feinde eingesetzt werden sollte, müssen diese den Stoff bereits kennen. Eine Tatsache, die kaum überrascht, wenn man bedenkt, dass, ihr nicht in der streng bewachten Festung von Porton Down, sondern fast in aller Öffentlichkeit gearbeitet habt. Kannst du mir sagen, was der Grund dafür ist?« »Ja. Dahinter steckt Dr. Weissman«, erwiderte Elizabeth. Die Kaffeemaschine schaltete sich aus. Elizabeth schenkte Kaffee ein. »Tut mir leid, aber Milch haben wir nicht«, entschuldigte sie sich, als sie David eine Tasse reichte. »Ich trinke ihn sowieso schwarz«, erklärte David. »Okay, was ist mit Dr. Weissman?« »Er ist der beste Fachmann auf diesem Gebiet, den wir bekommen konnten... oder, ehrlich gesagt, der einzige, der die nötigen Kenntnisse besitzt. Allerdings hat er sich geweigert, hinter Stacheldraht zu arbeiten, weil er glaubt, dass Geheimforschungen etwas Unrechtes sind... und nur böse Folgen haben können. Ich hatte die Idee mit Darwynt.« »Vermutlich hast du früher in der Gegend gewohnt... ich meine, wenn dir dein Vater schon dieses Flaus geschenkt hat...« »Ja, das ist richtig. Ich wusste, dass Darwynt verkauft werden sollte, und habe Dr. Winter davon erzählt.« »Vermutlich soll mich die Tatsache, dass Dr. Weissman bei eurem Forschungsprojekt mitgearbeitet hat, davon überzeugen, dass ihr keine grauenvollen, lebensbedrohenden Stoffe entwickelt habt, was?« »Das ist auch wirklich nicht der Fall, David«, versicherte Elizabeth ihm. »Warum dann diese Geheimniskrämerei?« »Weil die Sache in den falschen Händen durchaus gefährlich sein kann.« »Gefährlich für die Gesundheit der Menschen?«
»Mein Gott, glaubst du, ich hätte, wenn es so wäre, zugestimmt, dass Carol... und wir haben ihre Tanten ebenfalls untersucht.« »Dann hat sie also auf Grund eures Produkts sechsunddreißig Stunden lang tief geschlafen?« »Ja, aber ich schwöre dir, dass es ihr in keiner Weise geschadet hat.« »Okay, ich glaube dir. Vermutlich habe ich es von vornherein gewusst, sonst hätte ich sie heute Morgen sofort zu einem Arzt gebracht. Glaubst du, dass potentielle Feinde von diesem Produkt wissen?« »Die ganze Gegend ist voller Spione. Stephen Crampton ist einer gewesen, aber es gibt noch viel tüchtigere und gefährlichere. Deshalb habe ich auch gesagt, dass wir nach Land’s End fahren, und habe dich dann hierher gelotst.« »Du hast vorhin gesagt, wenn das Produkt in falsche Hände gerät, könnte es gefährlich werden. Was meinst du damit?« »Ganz einfach. Viele Dinge können schließlich von den falschen Leuten auch falsch verwendet werden. Ein Feuer im Kamin rettet dich möglicherweise vor dem Erfrieren, kann jedoch auch dein Haus niederbrennen.« »Aha, jetzt wird’s philosophisch.« »Es ist wahr, David. Noch Kaffee?« Er nickte und reichte ihr seine Tasse. »Ich habe noch verdammt viele Fragen auf Lager«, seufzte er, als sie ihm nachgeschenkt hatte. »Die ich vermutlich alle nicht beantworten kann. Trink deinen Kaffee.« »Du hast gesagt, dass dir bisher deine Arbeit wichtiger gewesen ist, als alles andere. Wird das immer so sein?« »Hm, ich könnte möglicherweise meine Einstellung ändern«, gab sie lächelnd zu.
»Das Problem ist, dass mir langsam klar wird, dass ich dich liebe.« »Du verschüttest deinen Kaffee«, warnte ihn Elizabeth. »Und du bist verdammt unromantisch. Was würdest du sagen, wenn ich dich bitte, mich zu heiraten?« »Ganz einfach nein.« David trank schweigend seinen Kaffee. Elizabeths unverblümte Abfuhr war ziemlich niederschmetternd. »Bitte, David, sei doch vernünftig. Wenn man heiratet, dann will man ein Leben lang zusammenbleiben. Man heiratet doch nicht nur aus einer Laune heraus.« »Das ist keine Laune. Es ist anders. Natürlich bist du schön, begehrenswert, intelligent, interessant, geistreich und charmant... aber das ist es nicht... oder vielleicht ist es das alles zusammen. Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, bist du mir fast unecht vorgekommen. Du warst von Anfang an eine begehrenswerte Frau für mich, aber ich glaube, ich habe erst heute Nachmittag, als du im Red Lion erschienen bist, begonnen, dich zu lieben... Du hast so völlig entspannt und natürlich gewirkt. Du bist zum ersten Mal du selbst gewesen, und da ist mir klar geworden, dass ich mein Leben nur mit dir verbringen möchte.« David machte eine Pause. »Wenn ich jetzt einen Drink hätte, könnte ich es vermutlich besser sagen.« »Lieber David. Es war verdammt schwer, kühle Zurückhaltung zu bewahren, glaub’ mir.« Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn. »Wenn du am Montag mit dem Direktor gesprochen haben wirst...«, fuhr sie fort. »Hör zu, Elizabeth«, unterbrach er sie, »meine Arbeit ist mir ebenso wichtig und ich habe nicht die Absicht, bis Montag zu warten und mir möglicherweise eine gute Story von der Konkurrenz wegschnappen zu lassen.« »Ich verspreche dir...« »Gut, du versprichst es mir, aber was ist mit deinem Direktor? Vielleicht erzählt er seine Geschichte lieber einem anderen.« »Vor dem Montag erfährt niemand etwas. Am Sonntagabend verlassen sämtliche
Angestellte und Mitglieder der Stiftung Darwynt. Vorher wird er niemandem etwas von unseren Forschungen sagen. Bitte, warte, David.« »Das kann ich nicht.« »Gut. Vermutlich kannst du es wirklich nicht.« Sie sah auf die Uhr. »Jetzt ist es fünf Uhr. Willst du ihn noch heute Abend sprechen?« »Es bleibt mir nichts anderes übrig.« »Wie du willst. Aber wir können uns noch ein bisschen Zeit lassen. Wenn wir um halb acht zurückfahren, erwischen wir ihn gleich nach dem Abendessen. Es sei denn, du hast es dir inzwischen anders überlegt.« »In zweieinhalb Stunden hast du vielleicht deine Meinung geändert«, entgegnete David. »Ja, möglich«, stimmte sie ihm zu. »Ich sehe erst mal nach, ob irgendetwas da ist, das wir uns zum Abendessen machen können.« »Wer denkt jetzt schon ans Essen?« David nahm sie in seine Arme. »Du denkst wirklich immer nur an das eine. Außerdem zerdrückst du mein Kleid.« Elizabeth stand auf und ging hinaus. David hörte ihre Schritte auf dem Flur. Er schlenderte zum Fenster hinüber und genoss die Aussicht auf die Klippen und das Meer. Auf der rechten Seite erkannte er unten auf der Landspitze ein einzelnes Haus, und links davon schien ein kleiner Hafen zu sein. Die Klippen versperrten ihm jedoch teilweise die Sicht. Ein paar Fischerboote waren auf See. Der Himmel über dem Meer war türkisblau und hatte violette Streifen. David wünschte plötzlich, malen zu können. Als er sich umdrehte, hatte es bereits zu dämmern begonnen. Er wollte gerade Licht anmachen, als Elizabeth mit einem Tablett hereinkam. Sie stellte es auf den Tisch. »Die Suppe ist aus der Büchse, aber dafür sehr exotisch«, erklärte sie und setzte sich neben ihn.
»Bist du noch immer entschlossen, heute Abend mit Philip Winter zu sprechen?«, fragte sie kurz darauf. »Natürlich, das weißt du doch.« Sie wandte sich ab, zog ein Taschentuch aus der Tasche und hielt es an die Augen. »Elizabeth, bitte, weine doch nicht...« Er beugte sich über sie.
Viertes Kapitel
Mr. Smiths Freunde im blauen Hillman verbrachten den Nachmittag damit, die Gegend zwischen Darwynt und Land’s End nach David und Elizabeth abzusuchen. Gegen sechs Uhr abends brachen sie die Suche schließlich ab. »Wir finden sie sowieso nie«, seufzte der Historiker. Um halb sieben kehrten sie in den Red Lion zurück und saßen um sieben Uhr bereits an der Bar und warteten darauf, dass Carol sie bediente. »Wir haben Sie gestern vermisst«, begann der hagere Mann, als sie endlich zu ihnen kam. »Ah, ja«, murmelte Carol, warf den beiden einen ungläubigen Blick zu, und damit war die Unterhaltung beendet. Die beiden setzten sich an einen Tisch vor dem Fenster zum Hof. Gegen acht Uhr zehn parkte Martin Bristow dort seinen alten Ford, sonst ierte nichts. Martin Bristow machte sich zwar keine Hoffnungen, dass David schon von seinem Ausflug zurückgekommen war, aber das Jagdfieber hatte ihn gepackt, und solange er die Story nicht hatte, konnte er nicht ruhig zu Hause bleiben und warten. Um neun Uhr ging er in den Speisesaal hinüber. Kurz darauf tauchten dort auch die beiden Stammgäste auf und setzten sich an ihren Tisch. »Wo haben Sie denn heute Ihren Freund gelassen?«, erkundigte sich der Historiker mit merkwürdigem Lächeln. Martin erwiderte das Lächeln. »Er macht einen Ausflug... mit einem Freund.« Als David zur Sperrstunde immer noch nicht zurückgekommen war, fuhr
Bristow nach Hause. Am folgenden Sonntagmorgen rief er dann um elf Uhr im Hotel an. Carol nahm den Hörer ab. »Mr. Knight ist noch immer nicht zurück«, erklärte sie und lachte amüsiert. Zum Mittagessen erschien Martin Bristow dann persönlich wieder im Red Lion. Er begann sich wegen David langsam Sorgen zu machen. Endlich beschloss er, von der Telefonzelle in der Hotelhalle Darwynt Castle anzurufen und Elizabeth Masefield zu verlangen. Falls sie genau wie David noch nicht zurück war, hatte sie vielleicht eine Nachricht hinterlassen, aus der er erfahren konnte, wo David war. Das Rufzeichen ertönte mindestens zehnmal, bevor sich eine atemlose männliche Stimme meldete. »Könnte ich bitte Dr. Masefield sprechen?« »Tut mir leid, aber sie ist im Augenblick nicht im Haus. Mit wem spreche ich?« »Mit Martin Bristow.« »Hier ist Philip Winter, Mr. Bristow. Wir kennen uns ja von ihrem ersten Interview über die Stiftung.« »Ja, selbstverständlich, Dr. Winter. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo und wie ich Miss Masefield erreichen kann?« »Miss Masefield hat gestern Abend hier angerufen und mich gebeten, ihr das Wochenende freizugeben. Ich hatte keinen Grund, ihr das zu verweigern. Sie behauptete, einen alten Freund getroffen zu haben. Ich nehme an, es handelt sich dabei um Ihren Kollegen Mr. Knight.« »Ich verstehe. Hat sie irgendeine Telefonnummer hinterlassen, unter der ich sie erreichen kann?«, wollte Martin wissen. »Leider nein. Aber Montagmorgen wird sie wieder hier sein. Soll ich sie bitten, Sie anzurufen?«
»Ja, das wäre nett. Vielen Dank.« »Keine Ursache«, erwiderte Dr. Winter und legte auf. Das wär’s, dachte Martin. Das einzig Merkwürdige an der Sache war, dass der Direktor der Stiftung persönlich das Telefon abgenommen hatte... selbst an einem Sonntag. Von den beiden Gästen, die schon vor Monaten eine sehr nützliche Wanze im Hörer dieses Telefons installiert hatten, war das Gespräch interessiert mitangehört worden. »Was ich dir gesagt habe«, begann der angebliche Fotograf. »Die beiden haben ein Wochenende miteinander verbracht.« »Sieht ganz so aus«, stimmte ihm der andere zu. »Und Mr. Smith wird begeistert sein, wenn er hört, dass Miss Masefield erst am Montagmorgen zurückkommt. Ich rufe ihn gleich an.«
Im Wohnzimmer von Elizabeth Masefields Haus herrschte vollkommene Stille. »Du bist so schön, Liz«, murmelte dann David Knight und richtete sich mühsam auf. Er schlug die Augen auf und merkte, dass er allein war. Dann sah er auf seine Uhr. Sie war stehengeblieben. Schließlich stand er vorsichtig auf, stellte überrascht fest, dass er sich frisch und ausgeruht fühlte, und ging zum Telefon. Nach der Zeitansage war es genau fünf nach halb acht. David stellte automatisch seine Uhr nach und zog sie wieder auf. Er erinnerte sich deutlich, dass Elizabeth gesagt hatte, sie würden um halb acht aufbrechen, damit er nach dem Abendessen mit dem Direktor sprechen könne. Das war um fünf Uhr gewesen. Sie hatte danach ungefähr zwanzig Minuten gebraucht, um die Suppe warm zu machen, die jetzt genau wie seine Gastgeberin
verschwunden war. Er versuchte, sich genau ins Gedächtnis zu rufen, was eigentlich iert war. Sie hatte neben ihm gesessen und ein Taschentuch aus der Tasche gezogen, als er den Arm um sie gelegt hatte. Und dann? Hatte sie ihm eine Spritze gegeben? Oder hatte sie vielleicht ihr verdammtes Produkt an ihm ausprobiert? Jedenfalls hatte es bei ihm postwendend gewirkt. In diesem Moment sah er den Zettel, der an der Kaffeemaschine hing. »Verzeih«, hatte Elizabeth geschrieben. »Aber du wirst keine Nebenwirkungen spüren. In der Küche sind einige Konserven. Kaffee ist in der Kaffeemaschine. Ich musste mir deinen Wagen ausleihen. Aber unter der Nummer 737 bekommst du ein Taxi. Vergiss deine Verabredung mit Dr. Winter um elf Uhr nicht.« David faltete den Zettel sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Tasche. Die Nachricht las sich genau wie die einer liebenden Frau, die ihren Mann hatte ausschlafen lassen. Sein erster Gedanke war es, Elizabeth in Darwynt anzurufen und ihr gründlich die Meinung zu sagen. Dann überlegte er, dass er es lieber persönlich tun wolle. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und ging ins Badezimmer, um sich zu waschen. Für ein zweistündiges Nickerchen hatte er verhältnismäßig viele und lange Bartstoppeln. Er öffnete das Schränkchen über dem Waschbecken und war kaum überrascht, als er dort einen Rasierapparat fand. Dr. Masefield war eine sehr umsichtige Frau. Vermutlich erlaubte sie sich mit ihren männlichen Bekannten öfters solche Scherze. David fluchte laut. Als er jedoch ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte er seine Ruhe wiedergefunden. Er trank eine Tasse Kaffee und telefonierte nach einem Taxi. Er hatte zwar keine Ahnung, wie die Straße und das Haus hießen, in dem er sich befand, konnte es jedoch einigermaßen beschreiben. »Ich warte vor der Tür«, versprach er dem Taxifahrer. Schließlich schaltete er die Kaffeemaschine und die Heizung ab, sah nach, ob sämtliche Fenster geschlossen waren, zog seinen Mantel an, ging hinaus und machte die Haustür hinter sich zu.
Kurz darauf kam das Taxi. »Nach Darwynt«, murmelte David und stieg ein. »Miss Masefield hat mir geraten, Sie anzurufen«, begann David nach einer Weile. »Ah, ja? Sonntags ist bei mir natürlich immer viel los.« David stutzte. Dann ging ihm ein Licht auf. Das, was er im Unterbewusstsein längst geahnt hatte, war also wahr. Aber was war mit ihm in den vergangenen siebenundzwanzig Stunden iert? »Halten Sie bitte an der Telefonzelle dort vorn«, forderte David den Fahrer auf und rief Martin Bristow an. Martin war zum Glück zu Hause. David erklärte ihm kurz, was er erlebt hatte. »Hör zu, Martin«, fuhr David fort. »Ich bin auf dem Weg zum Schloss und entschlossen, so lange dort zu bleiben, bis ich die ganze Geschichte kenne. Allerdings traue ich den Leuten nicht über den Weg. Ich will auf keinen Fall wieder fast dreißig Stunden schlafen gelegt werden. Ruf deshalb bitte um zehn Uhr im Schloss an, wenn ich mich vorher nicht persönlich bei dir gemeldet habe. Frag nach Dr. Winter und verlange, mit mir sprechen zu können. Falls er sich weigert, mich ans Telefon zu holen, verständigst du Mac und berichtest ihm, was bisher iert ist... und welchen Verdacht wir haben. Das sollte genügen. Und noch eins, Martin, mach keinem Fremden auf und halte sämtliche Fenster geschlossen!« »Du glaubst doch nicht etwa...« »Wir haben es mit Fanatikern zu tun, Martin. Außerdem sind sie so davon überzeugt, dass ihr Produkt harmlos ist, dass sie jederzeit bereit sind, es anzuwenden.« Er legte auf, ging zum Wagen zurück und überließ es Martin, allein über seine dramatische Warnung nachzudenken. Vor dem Schloss bezahlte David das Taxi, stieg aus und ging zu dem von einem großen Scheinwerfer beleuchteten Pförtnerhäuschen hinüber. »Ich bin David Knight«, erklärte er dem diensthabenden Posten. »Ich möchte
meinen Wagen hier abholen. Dr. Masefield hat ihn sich geliehen.« Der Mann sah in seiner Besucherliste nach. »Dr. Masefield hat sie eigentlich erst morgen früh erwartet, aber sie hat mir gesagt, dass sie den Wagen sofort zum Tor schicken wird, sobald Sie sich melden.« »Ich verstehe«, murmelte David. Die Sache gefiel ihm nicht. Er sollte einfach am Tor abgefertigt werden. David dachte angestrengt nach, während der Posten mit dem Haus telefonierte. Schließlich hörte er das vertraute Motorengeräusch seines Autos. Der Wagen hielt am Tor an, und David erkannte in dem Fahrer den mindestens zwei Meter großen, athletisch gebauten Mann, der ihn bei seinem Besuch im Schloss im Juli empfangen hatte. »Ihr Wagen, Mr. Knight«, verkündete der Riese mit sanfter Stimme. David maß ihn von Kopf bis Fuß. Der Mann hatte ein sympathisches Gesicht, aber David machte sich keine Illusionen. »Ich möchte sofort Dr. Winter und Miss Masefield sprechen«, erklärte er jedoch energisch. Der große Mann lachte. »Miss Masefield hat so was schon vorausgesehen. Sie meinte, Sie würden ganz schön wütend sein. Der Direktor hat sich übrigens bereit erklärt, mit Ihnen zu reden... falls Sie das wollten. Fahren wir zum Schloss, Mr. Knight. Aber setzen Sie sich lieber hinters Steuer. Ihr Wagen gefällt mir zwar, doch für mich ist das Ding einfach ein paar Nummern zu klein.« David wartete, bis sein Beifahrer seine langen Beine verstaut hatte und ließ dann den Motor an. »Man nennt mich übrigens Top«, stellte er sich vor, als David umkehrte. »Warum denn das?«, fragte David unschuldig. Der Mann neben ihm lachte amüsiert.
»Sind Sie hier aus der Gegend?«, erkundigte sich David. »Ja, aber ich bin ’ne ganze Weile weg gewesen.« Auf dem Weg zum Schloss sah David ab und zu ein paar Hundeaugen im Scheinwerferlicht glühen, hoffte jedoch, dass Top mehr Autorität bei den Tieren besaß als der verstorbene Stephen Crampton. Als sie vor dem Schloss ausstiegen, beruhigte Top die Hunde durch leise Zurufe, so dass sie unbehelligt bis zur Tür gelangten. Top sagte in die Sprechanlage: »Hier ist Top mit einem Besucher. Es ist eine schöne Nacht, und der Mond ist aufgegangen.« Die Tür sprang auf. »Ich komme mir immer ziemlich komisch vor, wenn ich diese Parolen sagen muss, aber sie wechseln sie täglich. Wenn Sie diese also morgen benutzen, werden sie vermutlich die Hunde auf sie hetzen.« »Dabei würde die Parole morgen vielleicht stimmen«, murmelte David und sah in die pechschwarze Nacht hinaus. In der Eingangshalle nahm sie ein weiterer Wachtposten in Empfang. »Besuch für Mr. Winter«, erklärte Top. »Mr. David Knight.« Der Posten ging zu einem Telefon, wählte eine zweistellige Nummer und meldete Davids Ankunft. »In Ordnung, Sir.« Er wandte sich an David. »Dr. Winter erwartet sie im Gemeinschaftsraum.« Top begleitete ihn die Treppe hinauf und bis zur Tür zu dem großen Salon, den David schon von einem früheren Besuch her kannte. Auf Tops Klopfen öffnete ein schlanker Mann Mitte Dreißig mit schütterem braunen Haar und ziemlich kalten, blauen Augen die Tür. »Mr. Knight, Dr. Winter«, stellte Top vor. Dr. Winter schüttelte David kurz die Hand und machte die Tür hinter ihm zu.
David sah sich erstaunt im Zimmer um. Er hatte eigentlich erwartet, mit Dr. Winter allein zu sein. Stattdessen hatten sich fünf Männer vor dem offenen Kamin des Salons versammelt. Den, der David am nächsten saß, erkannte er sofort. Es war Dr. Weissman. Weissman hatte dichtes, weißes Haar, einen struppigen Bart und schlaue blaue Augen, die hinter Brillengläsern funkelten. Als Dr. Winter David zu einem Sessel führte, sprang eine schöne Siamkatze von Dr. Weissmans Schoß und kam auf David zu. Nachdem sie David eingehend begutachtet hatte, lief sie zu Weissman zurück. Letzterer erhob sich halb aus seinem Sessel, als er David sah. »Mr. Knight, ich bedaure diese Angelegenheit sehr«, begann er. »Elizabeth hat sich sehr schlecht benommen. Sie sind sicher wütend, oder?« Er schüttelte David herzlich die Hand. Offensichtlich war diese überschwängliche Begrüßung nicht ganz nach Dr. Winters Geschmack, denn der Direktor der Stiftung schob David hastig an die vier übrigen Herren vorbei. »Mr. Stewart und Mr. French vom Innenministerium, mein Assistent Dr. Peters und Mr. West, der Tierpfleger«, stellte Dr. Winter die Herren kurz vor. »Setzen Sie sich, Mr. Knight. Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?« »Danke. Zu einem Glas Whisky sage ich nicht nein.« Winter schenkte David an einem Seitentisch aus einer Karaffe ein Glas Whisky ein und reichte es ihm. David hatte sich auf ein Gespräch mit Winter unter vier Augen eingestellt, und die vielen Leute, besonders die Beiden Herren vom Innenministerium, verwirrten ihn. Als hätten sie das gespürt, verkündeten die Beamten fast gleichzeitig, dass sie jetzt gehen müssten. Sie nickten Peters, West und David kurz zu, schüttelten Dr. Weissman die Hand und verließen dann in Begleitung von Dr. Winter den Salon. »Mögen Sie Katzen, Mr. Knight?«, erkundigte sich Dr. Weissman sofort, um keine peinliche Stille aufkommen zu lassen. »Das hängt von der Katze ab«, antwortete David vorsichtig und dachte an den unberechenbaren Kater Angel.
»Ja, auch Katzen sind natürlich verschieden... genau wie wir Menschen. Nehmen wir zum Beispiel die Siamkatzen. Es ist eine stolze, königliche Rasse. Haben Sie übrigens schon Miss Masefields Katze kennengelernt? Nein? Nun, sie muss doch hier irgendwo sein. Troze! Schrecklich, dieser Name für das schöne Tier. Es ist eine Burmakatze, und Elizabeth hat ihr einen typischen Namen aus Cornwall gegeben. Allerdings t er ganz gut. Troze bezeichnet das Geräusch der sanft schlagenden Wellen gegen den Bug eines Schiffes.« Hinter einem Schrank kam plötzlich eine schlanke, schokoladenbraune Burmakatze hervor, ging auf Dr. Weissman zu, machte jedoch kehrt, als die Siamkatze sie anfauchte, und kam zu David. Nachdem sie ihn kurz beschnuppert hatte-, sprang sie auf seinen Schoß. »Wir haben hier ’ne Menge über Katzen gelernt, nicht wahr, Mr. West?«, fragte Dr. Weissman. Mr. West nickte energisch, und Dr. Peters, der seinem Vorgesetzten offenbar auch recht geben wollte, fügte hinzu: »Ja, wirklich, Dr. Weissman. Wir haben viel gelernt.« »Wird Dr. Winter länger fortbleiben?«, erkundigte sich David. »Nein, nein«, beruhigte Dr. Weissman ihn. »Er kommt gleich zurück. Unsere beiden Besucher sind bald auf dem Weg nach London.« David fiel wieder ein, was Elizabeth ihm gesagt hatte. »Werden sie eine kostbare Fracht mit nach London nehmen?«, bohrte er weiter. Weissman kicherte, und David stand auf und ging neugierig zum Fenster. Troze miaute protestierend. David öffnete absichtlich einen Fensterflügel und sah hinaus. Vor dem Eingang parkte eine schwarze Limousine. Die beiden Regierungsbeamten saßen offensichtlich schon im Wagen, denn der Motor lief, und Dr. Winter stand auf der Treppe und winkte ihnen zum Abschied lässig zu. Im nächsten Augenblick fuhr die Limousine die Auffahrt hinunter und war bald hinter den hohen Bäumen verschwunden. David beobachtete, wie Dr. Winter langsam wieder die Treppe hinaufstieg und ins Haus zurückkehrte.
Dann wandte er sich vom Fenster ab. »Tut mir leid, aber in meinem Beruf ist Neugier eine Tugend«, erklärte er entschuldigend. »Aber sicher haben Sie nicht viel Interessantes gesehen, oder?«, wollte Dr. Weissman wissen. »Das kommt ganz darauf an.« David setzte sich wieder in seinen Sessel. West sah plötzlich ostentativ auf seine Uhr und verkündete, er müsse jetzt seine letzte Runde machen. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte er ernst zu David und stieß an der Tür beinahe mit Dr. Winter zusammen, der gerade hereinkam. »Nun, Mr. Knight? Möchten Sie noch einen Whisky?« David nickte und merkte dann erstaunt, dass Dr. Peters Winter zublinzelte. »Philip, Peters versucht dir klarzumachen, dass unser Freund hier vom Fenster aus beobachtet hat, wie du unsere Besucher verabschiedet hast«, platzte Dr. Weissman ungeniert heraus. »Das hat ihm Top doch schon gesagt«, warf David ein, und Weissman lachte schallend. Peters lief rot an, wollte sich hastig unter irgendeinem Vorwand entschuldigen, doch Weissman hielt ihn einen Moment zurück. »Es tut mir leid, John«, bedauerte er. »Das alles ist ein bisschen viel für dich gewesen. Komm mit mir. Ich habe da ein Problem und möchte gern deine Meinung dazu hören.« Peters lächelte unvermittelt und verließ mit Weissman und der Siamkatze den Salon. »Wir sehen uns sicher noch, Mr. Knight!«, rief Dr. Weissman über die Schulter zurück und machte die Tür hinter sich zu. Philip Winter nahm David gegenüber in einem Sessel Platz. David beobachtete ihn einen Augenblick schweigend. Sein erster Eindruck schien sich zu
bestätigen. Dr. Winter wirkte auf ihn kalt und berechnend. Peters, sein Assistent, tat ihm beinahe leid. Plötzlich merkte er, dass Winter mit ihm redete. »...denke, dass Sie mir ein paar Fragen stellen möchten.« »Vielleicht hat Ihnen Dr. Masefield schon gesagt, dass ich mir einiges schon zusammengereimt habe?« »Ja, Elizabeth hat mir erzählt, dass Sie sogar schon eine ganze Menge wissen. Vielleicht ist es besser, Sie sagen mir, was Sie sich gedacht haben, und ich versuche dann durch einige Details Ihre Vorstellungen zu vervollständigen.« »Einverstanden, aber zuerst möchte ich Ihnen sagen, dass es mir absolut nicht t, als Versuchskaninchen missbraucht zu werden, und dass mein Kollege Martin Bristow hier um zehn Uhr anrufen wird, und falls ich dann seinen Anruf nicht persönlich entgegennehmen kann...« »Verständigt er die Polizei? Wie dramatisch!« »Nein, nicht die Polizei, sondern unseren Nachrichtenredakteur. Und Martin wird ihm all das mitteilen, was ich weiß und was ich nur vermute.« »Keine Angst, Ihr Freund wird mit Ihnen sprechen können. Außerdem kann er Sie nach zehn Uhr in halbstündigen Abständen anrufen. Ich möchte nämlich, dass Sie noch ein bisschen länger bei uns bleiben, wenigstens so lange, bis unsere Besucher einen Großteil der Strecke nach London sicher zurückgelegt haben.« »Ich verstehe. Ihre Leute vom Innenministerium rasen jetzt mit den Formeln und Proben nach London und möchten nicht, dass dort bereits ein Kollege von der Post auf sie wartet, um sie zu interviewen. Außerdem besteht vermutlich die Gefahr, dass Angehörige fremder Geheimdienste Lunte riechen.« »Das ist richtig. Also fangen Sie endlich an!« »Gut. Sie haben ein neues Gas entwickelt... kein Nervengas im herkömmlichen Sinne, sondern ein Schlafgas. Es scheint - und ich spreche aus Erfahrung - sehr wirksam zu sein und keine schädlichen Nebenwirkungen zu haben. Wie wollen Sie es einsetzen?«
»Oh, für dieses Gas gibt es viele Verwendungszwecke. Das Gas, mit dem Sie in Berührung gekommen sind, ist nur eine von mehreren Varianten des Präparats. Das in der Praxis brauchbarste verursacht im menschlichen Körper eine Art Muskelstarre und ist damit zum Beispiel dem Tränengas haushoch überlegen. Außerdem hat es den großen Vorteil, völlig schmerzlos und harmlos zu sein. Ohne die Muskelstarre könnte unser Gas allerdings auf Menschenmengen angewendet ziemlich gefährlich sein, da die Leute dann zu Boden fallen und sich verletzen könnten... Und das ist ja nicht das, was wir wollen.« »Bedeutet diese Muskelstarre, dass der einzelne durch die Wirkung des Gases in der Haltung verharrt, die er gerade eingenommen hat?«, wollte David wissen. »Ja, so ist es.« »Fühlen sich denn die Leute nicht steif oder haben sie Muskelschmerzen, wenn die Wirkung nachgelassen hat?« »Schon, aber erst bei langer Wirkungsdauer. Aus diesem Grund haben wir Ihnen das einfache Präparat verabreicht«, erklärte Dr. Winter. »Doch bedenken Sie, dass es nur Minuten dauert, bis man Leute, die sich in dieser Muskelstarre befinden, zum Beispiel entwaffnet hat. Eine sehr geringe Dosis genügt also.« »Das Gas scheint auch das Erinnerungsvermögen zu beeinträchtigen.« »Ja, aber nur solange die Wirkung anhält.« »Kann das Präparat für militärische Zwecke eingesetzt werden?«, fragte David. »Sie konnten sich von dem Ergebnis eines Tests in der Nacht zum Donnerstag ja selbst überzeugen. Begünstigt durch den Wind hat es sich bis zum Haus der Tregarths verbreitet und seine Wirkung nicht verfehlt. Aber selbstverständlich kann es auch mechanisch zerstäubt werden. Allerdings war dieser Versuch, an dem die Tregarths unfreiwillig teilgenommen haben, nicht beabsichtigt, sondern reiner Zufall.« »Wenn ich ehrlich sein soll, Dr. Winter, dann kaufe ich Ihnen das nicht ganz ab«, entgegnete David. »Sie machen auf mich einen ziemlich skrupellosen Eindruck.« »Ich bin Wissenschaftler.«
»Dr. Weissman auch«, konterte David. »Weissman ist leider zu sentimental. Aber wir kommen vom Thema ab.« »Na gut. Wem geben Sie dieses Präparat, Dr. Winter? Dem Innenministerium? Der Polizei?« »Ja, möglich. Aber möchten Sie jetzt nicht lieber Elizabeth sehen?« »Als ich hierhergekommen bin, war ich so wütend, dass ich sie am liebsten erwürgt hätte, weil sie Ihr Präparat einfach an mir ausprobiert hat. Inzwischen ist mir klar geworden, dass sie Ihnen ihre Hilfe kaum hätte verweigern können.« »Ich bin froh, dass Sie Elizabeth nicht mehr böse sind«, bemerkte Winter mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Sie ist so pflichtbewusst.« »Hoffentlich nicht so pflichtbewusst wie Sie, Dr. Winter.« Winters schmale Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Er stand auf, ging zum Haustelefon und wählte eine Nummer. »Elizabeth? David Knight ist hier. Er möchte dich gern sprechen. Er scheint ganz verständnisvoll zu sein.« Winter legte den Hörer auf und wandte sich an David: »Sie kommt sofort. Es ist schon fast zehn Uhr. Ich werde Mr. Bristows Anruf gleich zu Ihnen durchstellen lassen. Sie bleiben dann bitte noch bis... sagen wir zehn Uhr dreißig bei uns, ja? Und, Mr. Knight, falls Sie heute Abend noch Ihre Zeitung anrufen, sehen Sie bitte zu, dass niemand das Gespräch mit anhört.« »Wann wird der zuständige Minister der Presse offiziell Mitteilung von Ihrer Entdeckung machen?« »Tja, leider ziemlich bald, fürchte ich. Wenn man schwierige wissenschaftliche Arbeit in dieser Umgebung machen muss, ist es eben nicht zu vermeiden, dass zu viele Leute zu viel und zu schnell etwas ahnen und... voreilige Schlüsse ziehen. Der Minister hat sich über das Foto des schlafwandelnden Affen, das Ihre Zeitung veröffentlicht hat, sehr geärgert. Ich glaube, er gibt morgen Abend eine kurze Pressekonferenz.«
»Dann rufe ich lieber heute noch in der Redaktion an. Allerdings möchte ich die beiden Herren vom Ministerium nicht gefährden.« »Nach halb elf sind sie in Sicherheit«, behauptete Winter. »Um diese Zeit können sie mit dem Wagen noch nicht in London sein... mit dem Flugzeug dürften sie es allerdings schaffen.« »Einzelheiten kann ich Ihnen leider nicht mitteilen, und ich muss Sie bitten, am Telefon Ihre Mutmaßungen über den Transport des Präparats nicht zu erwähnen.« »Warum sollte ich Angst vor Abhörtechniken haben, wenn die Leute bereits in Sicherheit...« »Ich bin es gewöhnt, vorsichtig zu sein«, unterbrach Winter ihn barsch. »Rufen Sie Ihre Zeitung am besten von hier aus an.« Bevor David weitere Fragen stellen konnte, kam Elizabeth herein. Sie sah wie immer bezaubernd aus. »David, bitte verzeih mir«, sagte sie leise. »Entschuldigen Sie mich jetzt«, erklärte Philip Winter. »Ich werde dafür sorgen, dass das Telefongespräch gleich zu Ihnen durchgestellt wird.« Damit verließ er den Salon. Fünf Minuten später klingelte das Telefon. David hob den Hörer ab. »Martin?« »Ja. Ist alles in Ordnung?« »Ja. In bezug auf das Präparat hatten wir übrigens recht. Hör zu, Martin. Wir können uns morgen vermutlich nicht treffen, weil ich schon sehr früh nach London zurück muss. Vorher rufe ich dich allerdings noch an. Also, auf Wiedersehen.« Aus Angst, für etwaige Mithörer schon zu viel gesagt zu haben, legte David hastig auf und wandte sich an Elizabeth.
»Dr. Winter hat mir erlaubt, nach halb elf Uhr meine Redaktion anzurufen. Glaubst du, das geht in Ordnung? Ich meine, schließlich scheint er der Meinung zu sein, dass wir hier praktisch von Geheimagenten umlagert sind.« Elizabeth nickte ernst. »Natürlich belagern uns die Geheimagenten, aber sie wissen genauso viel wie du. Was sie allerdings nicht wissen, ist, wie man das Präparat herstellt, und um halb elf Uhr sind die Formeln und Proben an einem sehr sicheren Ort.« Zehn Minuten später sah David auf die Uhr. »Genau halb elf«, verkündete er. »Benutze das rote Telefon in der Ecke. Damit kannst du nach draußen durchwählen«, erklärte Elizabeth ihm. David sprach mit dem Nachtredakteur, gab ihm in groben Umrissen seinen Bericht durch und versprach, gleich am nächsten Morgen nach London zurückzukehren, damit in der Spätausgabe ein ausführlicher Artikel von ihm erscheinen konnte. Er hatte kaum den Hörer wieder aufgelegt, als Philip Winter zur Tür hereinkam. Der Direktor der Stiftung machte eine besorgte Miene. Elizabeth wandte sich sofort an ihn: »Es ist doch nichts iert, Philip, oder?« »Nein, iert ist eigentlich nichts. Unsere Besucher haben ihr Ziel sicher erreicht. Trotzdem ist nicht alles glatt gegangen. Ich habe gerade einen Anruf aus dem Ministerium bekommen. Offensichtlich hat der Minister erwartet, wir würden einen Fachmann mitschicken... für den Fall, dass er Fragen hat. Schließlich ist er auf diesem Gebiet ein Laie.« Winter sah Elizabeth fragend an. »Könntest du vielleicht nach London fahren, Elizabeth? Für den Nachtzug ist es allerdings bereits zu spät.« »Natürlich mache ich das, Philip. Wann muss ich in London sein?« »Die Konferenz findet um neun Uhr morgens statt.«
»Fahr doch mit mir«, schlug David vor. »Dann müssten wir um drei Uhr morgens hier starten«, gab Elizabeth zu bedenken. »Das wäre kein Problem, aber warum fahren wir nicht gleich? Wir holen nur kurz mein Gepäck im Red Lion ab und essen dann unterwegs irgendwo gemütlich zu Abend«, schlug David vor. »Das ist sicher besser, als um drei Uhr morgens aufstehen zu müssen. Ich packe sofort das Nötigste zusammen.« »Eine ausgezeichnete Idee«, stimmte Winter zu, als Elizabeth das Zimmer verließ. »Es ist wirklich sehr nett, dass Sie uns helfen.« »Warum hat man im Ministerium eigentlich nicht früher daran gedacht, jemanden von Ihren Leuten nach London zu bitten?«, fragte David verwundert. »Oh, bei diesen Beamten weiß man doch nie, woran man ist«, seufzte Winter. Es dauerte nicht lange, bis Elizabeth mit einer Reisetasche zurückkam. Sie verabschiedeten sich von Winter, stiegen in Davids Sportwagen und fuhren zum Red Lion. Dort wartete Elizabeth in der Halle, während David seine Sachen packte und die Rechnung bezahlte. Nachdem sie sich von Carol verabschiedet hatten, fuhren sie in Richtung London davon. Kaum hatte der rote Sportwagen den Hof des Hotels verlassen, atmete einer von Mr. Smiths Freunden, der gerade keine Wache hatte und zu schlafen versuchte, erleichtert auf. Vermutlich war seine letzte Nacht in diesem gottverlassenen Nest angebrochen, und wie er bereits vorher Mr. Smith berichtet hatte, hatten sie ihre Aktionen von Darwynt Castle an einen anderen Ort verlegt.
Fünftes Kapitel
Jener Sonntag war für viele ein arbeitsreicher Tag gewesen. Für Mr. Smith war der Sonntag ein Tag wie jeder andere, doch Walter Leicester verbrachte die Wochenenden regelmäßig in seinem Haus in Cookham, wo er, wenn nicht gerade die Rosen blühten und seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, seine kostbare Bibliothek genoss. Als ihm Mr. Smith vorgeschlagen hatte, diesmal übers Wochenende in London zu bleiben, hatte Leicester höflich abgelehnt und darauf hingewiesen, dass er sowieso am Sonntagabend in die Stadt zurückkehren und bis dahin telefonisch in Cookham zu erreichen sein würde. Michael Brade war ein verheirateter Mann, der zwar ungern, doch aus reiner Gewohnheit seine Wochenenden zu Hause verbrachte. Auch George Strong war ein Gewohnheitstier. Samstagabends traf er sich regelmäßig mit alten Freunden - falls diese nicht gerade im Gefängnis saßen und später mit einer Puppe, die er dann meistens zu einem teuren Abendessen im Londoner Westend ausführte. Strong hatte zwar viel für Männerfreundschaften, aber noch mehr für Frauen übrig, für die er auch einen großen Teil des Geldes ausgab, das er mit seinen Gaunereien verdiente. Leicester wusste aus Erfahrung, dass es schwer war, George Strong am Sonntagmorgen zu erreichen, denn falls er tatsächlich in seinem eigenen Bett schlief, hatte er meistens den Hörer neben das Telefon gelegt, um nicht gestört zu werden. Als Mr. Smith dann Leicester angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass die Sache in Cornwall kurz vor dem Abschluss stünde und später eine Transportmöglichkeit gebraucht werde, war Leicester kaum überrascht, als unter Strongs Nummer nur das Besetztzeichen ertönte. Der Plan war in groben Zügen bereits eine Woche zuvor besprochen worden, und nur das genaue Datum hatte noch nicht festgestanden. Dass es schließlich ein Sonntag sein sollte, war nichts Ungewöhnliches. Leicester rief Brade an. »Diese Verhandlungen scheinen zum Abschluss zu kommen, Michael.«
Leicester war auch am Telefon immer vorsichtig. »Ich fahre heute Abend noch nach London. Könnten wir uns gegen acht in meiner Wohnung treffen? Vielleicht musst du ins Ausland. Verstehst du?... Kannst du reisen? Den Fahrer habe ich, offen gestanden, noch nicht erreicht, aber soviel ich weiß, brauchen wir ihn erst später.« »Hm, das mit dem Fahrer ist natürlich bedauerlich, aber ich bin sicher, dass alles klappt«, beruhigte Brade ihn. »Also dann bis heute Abend.« Gegen halb zwölf rief Leicester noch einmal bei Strong an und hatte Glück. Strong meldete sich mit verschlafener Stimme. »Hör zu, George«, begann Leicester vorsichtig. »Du erinnerst dich doch an den Transportjob drunten im Westen, den wir letzte Woche besprochen haben? Die Sache steigt heute.« »Sag das nochmal!« George Strong war plötzlich hellwach. »Du weißt hoffentlich, was du zu tun hast, oder?« »Selbstverständlich... Moment, bleib am Apparat... Los, Kleine, mach mir Kaffee«, hörte Leicester ihn flüstern. »Okay, sie kann mich nicht mehr hören. Also, ich weiß, was ich zu tun habe. Die Frage ist nur, wann?« »Es sollte genügen, wenn du ab halb neun in der Gegend bist.« »Ich verstehe.« Nachdem Walter Leicester jetzt sicher sein konnte, dass alles nach Plan gehen würde, konnte er sich beruhigt mit anderen Dingen beschäftigen. Um sechs Uhr an diesem Abend fuhr ihn dann sein Chauffeur nach London. Das einzige Gepäckstück, das Leicester mitnahm, war ein großer und schwerer Koffer. Kurz nach acht Uhr klingelte es dann an Leicesters Londoner Wohnungstür. »Hallo, Michael! Komm rein!« Kaum hatte Leicester die Tür hinter Brade fest verschlossen, deutete er auf den Koffer, den sein Chauffeur im Gang abgestellt hatte. »Ich habe das Funkgerät noch nicht eingeschaltet. Smith meint, dass George vor
halb neun nicht gebraucht wird.« »Er ruft dich dann doch an, oder? Ich habe übrigens meinen und andere notwendige Papiere dabei. Vermutlich ist das hier mein letzter Job.« »Ja. Trinken wir inzwischen einen Whisky zusammen.« Leicester und Brade machten es sich im Wohnzimmer bequem. »Unser Mr. Smith hat sich bei diesem Job ziemlich seltsam benommen«, sagte dann Leicester nachdenklich. »Er scheint diesmal nicht so kühl und gelassen zu sein wie sonst.« »Die Tatsache, dass Stephen Crampton aufgeflogen ist, hat seine Nerven sicher nicht beruhigt.« »Natürlich nicht, aber er hatte von vornherein damit gerechnet«, entgegnete Leicester. »Ich kenne Smith ja kaum. Eigentlich hast nur du immer mit ihm verhandelt. Du musst es also am besten wissen.« »Trotzdem kenne ich ihn ebenso wenig wie du. Ich weiß nicht mal, wo er wirklich wohnt.« »Aber du kannst dich doch mit ihm in Verbindung setzen, wenn du willst, oder?«, erkundigte sich Brade. »Irrtum. Er setzt sich regelmäßig mit mir in Verbindung. Ich arbeite gern für ihn. Smith stellt keine unnötigen Fragen und ist ein Profi... wie wir.« »Ich habe dich nie danach gefragt, Walter, aber... aber ich nehme an, dass, wenn Smith von unseren Freunden spricht, er Russland oder China meint.« »Ich glaube nicht, dass er nur für eine Macht arbeitet. Smith handelt mit Informationen, wie wir mit Wertsachen. Die politische Einstellung des Käufers zählt nicht... wichtig ist nur der Preis, den er bezahlt.« »Und warum glaubst du, ist er diesmal so nervös?«, fragte Brade.
Bevor Leicester antworten konnte, klingelte das Telefon. Leicester hob ab, hörte kurz zu und legte wieder auf. »Wir müssen das Funkgerät einstellen, Michael.« Brade öffnete den Koffer, stöpselte den Stecker ein und drehte an mehreren Knöpfen. »Ich habe jetzt die richtige Frequenz. Was soll ich ihm sagen?«, wandte sich Brade an Leicester. »Sag ihm, dass der Wagen mit zwei Insassen unterwegs ist. Er erhält weitere Anweisungen von unseren Leuten am Ort. Das Kennzeichen ist übrigens RQO 808 I. Bob folgt ihm.« Brade setzte die Kopfhörer auf und begann die Funkmeldung durchzugeben. »George sagt, es sei alles in Ordnung«, berichtete er schließlich. »Walter, ist es eigentlich nicht ziemlich riskant, von deiner Wohnung aus zu senden?« »Möglich, aber ich wollte diesen Job persönlich von hier aus leiten«, erwiderte Leicester. »Wird George zurückfunken, sobald der Job beendet ist?« »Ja, aber so schnell geht es sicher nicht.« »Dann möchte ich noch mal auf Mr. Smith und seine Nervosität zurückkommen.« »Hm, ja natürlich. Ich habe offen gestanden den Eindruck, dass Smith Angst hat, es könnte nicht alles nach Plan gehen... oder besser gesagt, es könnte ihm jemand einen Strich durch die Rechnung machen.« »Ah, vermutlich traut er George nicht über den Weg. Georges Patriotismus lässt sich mit seinen Geheimdienstgeschäften eben nicht vereinbaren...« »Unsinn, Smith kennt George überhaupt nicht. Und wie du schon richtig gesagt hast, bin ich ja der einzige von unserer Organisation gewesen, der mit ihm verhandelt hat. Nein, Smith macht sich wegen mir Sorgen.«
»Mein Gott, hat der Mann denn keine Menschenkenntnis? Das ist doch absurd.« »Ja, nicht wahr?« stimmte Walter Leicester ihm zu. »Noch einen Whisky?«
George fluchte zum fünften Mal innerhalb von drei Minuten auf die Kälte und dachte in all die interessanten Dinge, die er jetzt tun könnte, wenn er nicht in dem alten Wagen ohne Heizung sitzen und warten müsste. Er fluchte erneut, und der Mann auf dem Beifahrersitz forderte ihn schroff auf, endlich die Klappe zu halten. »Ich habe heißen Kaffee in ’ner Thermosflasche mitgebracht«, meldete sich eine Stimme vom Rücksitz. »Das war ’ne verdammt gute Idee, Tubby.« Tubby reichte George einen Becher Kaffee, den dieser gierig trank. Plötzlich begann das Funkgerät zu knacken. »Der Wagen kommt in ungefähr fünf Minuten bei euch vorbei. t auf!« Strong gab den Becher Kaffee dem Mann auf dem Beifahrersitz. »Hier, Ted, trink auch einen Schluck... Okay, ihr beide wisst, was zu tun ist. Es ist eine schwarze Limousine mit dem Kennzeichen POM 6064 G. Also haltet gefälligst eure Augen offen. Einer unserer Leute folgt dem Wagen dichtauf.« Strong und die beiden anderen hatten das Auto auf einem Feldweg geparkt, von dem aus sie die Landstraße beobachten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Die Zeit verging langsam. Dann hörten sie plötzlich Motorengeräusch, und im nächsten Moment raste eine dunkle Limousine vorbei. Strong ließ den Motor an, wartete, bis der zweite Wagen vorbei war, zählte bis zehn, bog dann auf die Landstraße ein und folgte in einigem Abstand dem zweiten Auto. Die schwarze Limousine war bereits außer Sichtweite.
Die Herren Stewart und French vom Innenministerium, die in ihrer schwarzen Limousine auf der Straße nach Truro fuhren, waren sich durchaus bewusst, dass sie mit Zwischenfällen rechnen mussten. Allerdings hatten sie einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die sich jedoch später als taktischer Fehler erweisen sollten. Sie waren nicht überrascht, als plötzlich in ihrem Rückspiegel die grellen Scheinwerfer eines anderen Autos auftauchten. Fast gleichzeitig hörten sie lautes Hupen. Plötzlich raste ein langgestreckter Wagen an ihnen vorbei und schnitt die schwarze Limousine beim Einbiegen auf die andere Straßenseite so abrupt, dass, obwohl French sofort auf die Bremse trat, eine Kollision nicht mehr zu vermeiden war. Es gab einen harten Stoß, und Metall krachte, als der schnelle Wagen den Kotflügel der schwarzen Limousine streifte. Das Auto, das French und Stewart überholt hatte, hielt sofort am Straßenrand an. Aus dem offensichtlich unbeschädigt gebliebenen Wagen sprang ein junger Mann mit wirrem Haar und lief auf die Limousine zu. French und Stewart waren darauf gefasst, jeden Augenblick in die Mündung einer Pistole zu sehen, doch sie sollten sich irren. Der junge Mann hatte eine Alkoholfahne und sagte lallend: »Mein Gott... das ist ja schrecklich!« French und Stewart konnten es noch immer nicht fassen, dass sie tatsächlich nur einen betrunkenen Autofahrer vor sich hatten. »Entschuldigen Sie mich einen Moment«, murmelte der junge Mann, ging schwankend um die Limousine herum und stellte sich an den Straßenrand. »Betrunkener Idiot«, schimpfte Stewart. »Jetzt ist ihm schlecht.« Dann begutachteten die beiden Herren vom Innenministerium den Schaden. Der vordere Kotflügel war eingedrückt und hatte den Reifen eingeklemmt. »Damit können wir nicht weiterfahren«, erklärte French. »Sollen wir uns von ihm zum nächsten Telefon bringen lassen?« »Nein«, wehrte Stewart ab. »Wir spielen die Sache durch.« Schließlich kam der junge Mann schwankend auf sie zu und bot ihnen an, sie mit nach Truro zu nehmen. Stewart und French lehnten ab. Schließlich einigten sie sich darauf, dass der Fahrer des schnellen Wagens einer Autowerkstätte mit
Abschleppdienst Bescheid sagen sollte. »Okay, alles Gute!« Der Betrunkene hob lässig die Hand und wankte zu seinem Wagen. »Heh, Moment mal!«, rief Stewart. »Wir brauchen noch Ihren Namen und die Versicherungsgesellschaft!« »Klar...hätte ich fast vergessen.« Er kramte in seinen Taschen. »Tut mir leid, aber ich hab’ nichts zum Schreiben.« French zog sein Notizbuch aus der Tasche. »Okay, schreiben Sie’s auf. Aber müssen Sie unbedingt die Polizei einschalten?« French und Stewart sahen sich an. »Nein, ich glaube nicht, dass das nötig ist«, murmelte French. Der junge Mann atmete erleichtert auf. »Also, Ihr Name?« »John Davis, 103 Chelsea Court, Cromwell Road - London. General Insurance, London.« »Danke«, sagte French und klappte sein Notizbuch zu. Als der junge Mann in seinen Wagen kletterte, rief er ihm noch nach: »Und vergessen Sie nicht, den Abschleppdienst zu verständigen!« Der Mann winkte ihnen zu, drückte auf die Hupe und fuhr in Schlangenlinien davon. »Ich hab' mir die Nummer von seinem Auto gemerkt«, brummte French. »Gut. Vielleicht hat er uns einen falschen Namen genannt.« Die beiden Beamten stiegen wieder in ihren Wagen. Inzwischen hatte George Strong, als er das Krachen gehört hatte, sofort in einer schmalen Seitenstraße gehalten. Nach einiger Zeit ertönte der Hupton. Strong
zählte langsam bis fünf und ließ dann den Motor wieder an. French und Stewart saßen schweigend in ihrer schwarzen Limousine. Ab und zu schimpfte einer von ihnen kurz auf ihre dummen Vorgesetzten, weil sie selbst sich nicht eingestehen wollten, dass sie ihren Auftrag verpatzt hatten und entweder bis zum nächsten Morgen auf eine Gelegenheit, mitgenommen zu werden, warten mussten, oder den Weg zu Fuß anzutreten hatten. In einer der langen Gesprächspausen hörte French dann als erster das Motorengeräusch eines näher kommenden Autos. French sprang aus dem Wagen und starrte angestrengt die dunkle Straße hinunter. Das Geräusch wurde lauter. »Gott sei Dank«, sagte er erleichtert, »es ist tatsächlich ein Abschleppwagen. Der Besoffene hat uns nicht vergessen.« »Unsinn, der ist doch erst fünf Minuten weg. Der kann noch gar keine Werkstatt angerufen haben.« »Ist doch egal. Das Ding kommt jedenfalls genau richtig.« »Vielleicht ist es ’ne Falle.« Der Abschleppwagen hielt neben der schwarzen Limousine an, und der Mann neben dem Fahrer streckte seinen Kopf zum Fenster hinaus. »Das ist nicht der richtige, George«, sagte er. »Das is’ ’n Humber.« »Diese verdammten Kerle haben uns wieder mal reingelegt«, schnaubte der Fahrer wütend und fuhr wieder an. »Augenblick! Warten Sie!«, rief French ihm zu. Der Abschleppwagen hielt vor ihnen an, und der Fahrer stieg aus. »Ich sollte ’nen grünen Ford abschleppen«, erklärte er. »Aber von dem ist weit und breit nichts zu sehen. Da hat sich mal wieder einer ’nen üblen Scherz mit uns erlaubt. Mann, da haben Sie aber ’ne ganz schöne Delle!«
»Ja. Vielleicht könnten Sie uns bis Truro abschleppen?« »Na, klar! Ted, wir haben ’nen Kunden. Bring das Seil! Sie beide setzen sich am besten zu mir in den Lastwagen.« French und Stewart nahmen ihre Aktenkoffer und kletterten auf den Rücksitz des Abschleppwagens. »Das ist wirklich ein Glück...«, begann French und verstummte, als ihm jemand von hinten einen übel riechenden Wattebausch ins Gesicht presste. Stewart erging es nicht viel besser. »Okay, Ted. Zieh den Wagen rauf, und dann nichts wie weg von hier!« Zehn Minuten später kam der Abschleppwagen an einem Sportwagen vorbei, der am Straßenrand parkte. George gab zwei kurze Hupzeichen, und der junge Mann hinter dem Steuer des Sportwagens, der Bob hieß, schaltete ein hinter dem Autoradio verborgenes Funkgerät ein und beugte sich zum Mikrophon hinunter. »Ich rufe wieder an«, sagte er. »Ansonsten geht alles nach Plan.« Dann wendete et und fuhr in Richtung Westen zurück. Er musste dringend telefonieren, hatte jedoch nicht die Absicht, dieselbe Straße zu benutzen wie George Strong. Schließlich konnte noch immer etwas schiefgehen, und die beiden feinen Herren aus dem Humber hätten ihn sicher identifizieren können. In London warteten Leicester und Brade. »Inder nächsten Viertelstunde ist jetzt Funkstille«, erklärte Leicester. »Ich koche uns Kaffee.« »Ist das für uns alle der letzte Job, Walter?«, erkundigte sich Brade, während er langsam seinen Kaffee trank. »Ja... wenn alles glatt geht. Wir sind trotz... oder vielleicht gerade wegen unserer verschiedenen Charaktere ein gutes Team gewesen. Aber ewig kann so was nicht klappen, und ich habe keine Lust, meinen Lebensabend in Dartmoor zu verbringen.« »Gehst du ins Ausland?«
»Ja. Mit Geld kann man überall gut leben. Ich bin ein Genießer.« »Du hast Glück gehabt, Walter. Ich meine nicht deinen beruflichen Erfolg, den hast du dir hart erarbeitet, sondern deine Lebenseinstellung. Du hast immer das getan, was dir Spaß gemacht hat.« »Und du? Du hast es doch auch ganz schön weit gebracht.« »Ja, aber ich habe das Erreichte nicht genießen können, Walter. Ich habe nie gelernt, mich zu entspannen und einfach zu genießen. Für mich ist alles Arbeit gewesen. Selbst Sex war bei mir immer nur Mittel zum Zweck. Aber den habe ich auch meistens nur mit meiner Frau ausgeübt. Vielleicht käme es auf einen ehrlichen Versuch an.« »Lässt du deine Frau in England zurück?« »Ja, und zwar nur zu gern. Ich habe sie nur geheiratet, weil sie aus einer angesehenen Familie kam und Geld hatte. Damals schien es mir eine gute Idee, jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war. Aber ich rede zu viel. Vielleicht möchte ich noch mal jemandem die Wahrheit sagen, bevor ich mir eine andere Identität zulege.« Leicester sah auf die Uhr. »Bob müsste sich jetzt bald melden.« Es dauerte noch eine Weile, bis das Funkgerät knackte. Die Nachricht lautete knapp: »Ich rufe wieder an. Ansonsten geht alles nach Plan.« »Kennt er deine Telefonnummer?«, fragte Brade überrascht. »Ja, diesmal musste ich sie ihm geben, aber Bob ist ein prima Kerl. Es ist besser, er ruft an. Das Funkgerät ist zu stark. Es könnte leicht jemand mithören.« Es war genau Viertel nach neun. »Smith sollte sich um zehn Uhr melden«, murmelte Leicester. »Hoffentlich rufen die anderen vorher an.« Das taten sie dann auch, und Leicester war noch immer am Telefon, als es bereits an der Haustür klingelte. »Ich muss jetzt Schluss machen. Gib mir deine Nummer. Ich rufe in zwanzig Minuten zurück.«
Brade starrte durch den Spion in Leicesters Wohnungstür. »Es ist Smith«, flüsterte er. Leicester öffnete die Tür. »Kommen Sie rein«, forderte er Smith mit einem höflichen Lächeln auf. »Ich dachte, wir sparen Zeit, wenn ich mich persönlich ins Hauptquartier begebe«, erklärte Smith zur Begrüßung. »Eine ausgezeichnete Idee. Und Sie kommen gerade recht. Alles läuft glänzend. Einer unserer Leute hat mich gerade angerufen. Allerdings zweifelt er, dass wir die Richtigen geschnappt haben. Natürlich haben wir die beiden jungen Männer vom Innenministerium, die Darwynt Castle in dem schwarzen Humber verlassen haben, aber mein Mann vermutet, dass sie nur ein Köder für uns gewesen sind.« »Wirklich? Wie kommt er darauf?« »Als er den Betrunkenen gemimt hat, hat er gehört, wie der eine zum anderen sagte: Wir spielen die Sache durch. Außerdem sind ihm die beiden für eine solche Aufgabe zu jung und dumm erschienen. Im Übrigen waren sie unbewaffnet. Warum sollte also die Regierung zwei solchen Clowns eine so wertvolle Fracht anvertrauen. Die beiden haben sich seiner Ansicht nach auch dadurch verdächtig gemacht, dass sie gemeinsam den Humber verlassen haben, um mit ihm zu reden, statt dass einer den Wagen gesichert hätte. Und sie haben sich auch nicht die Mühe gemacht, den Sportwagen zu untersuchen... sonst hätten sie nämlich entdeckt, dass seine Karosserie aus besonders dickem Stahl war.« »Ihr junger Mann war wirklich sehr aufmerksam«, lobte Mr. Smith. »Darf ich mal telefonieren?« »Ich habe noch einen Apparat im Schlafzimmer. Vielleicht möchten Sie lieber ungestört sein.« »Nein, danke, das Telefon hier ist mir durchaus recht.« Smith Wählte eine Nummer, drückte die Gabel hinunter und wählte erneut.
»Besetzt«, murmelte er ärgerlich. Während der folgenden Stunde wählte Smith in zehnminütigem Abstand die Nummer, doch sie war ständig besetzt. Offensichtlich hatte jemand den Hörer nicht richtig auf die Gabel gelegt, und Leicester rief schließlich die Störungsstelle an. Nachdem die Techniker dort festgestellt hatten, dass auf dieser Leitung kein Gespräch geführt wurde, schalteten sie den Warnton ein, um den Telefonteilnehmer auf sich aufmerksam zu machen. Die Angestellten des Red Lion, die sich alle in der Bar befanden, hörten jedoch auch dieses Warnzeichen nicht. Nur der Fotograf, der sich nach David Knights Abreise ins Bett gelegt hatte und eigentlich das Telefon bewachen sollte, schreckte aus seinem leichten Schlaf auf, zog sich an und rannte hinunter. Kaum hatte er die Halle erreicht, kam Carol aus der Bar. Er nickte ihr kurz zu und verschwand in der Telefonzelle, legte den Hörer richtig auf die Gabel und wartete. Der laute Summton konnte nur bedeuten, dass jemand verzweifelt versucht hatte, die Nummer des Hotels anzurufen, und möglicherweise war der Anruf für ihn. Als das Telefon dann klingelte, riss er den Hörer von der Gabel. »Ja«, sagte er und hörte aufmerksam zu. »Ich rufe zurück.« Als er die Telefonzelle verließ, war Carol verschwunden. Der Fotograf lief die Treppe hinauf und klopfte an der Zimmertür seines Kollegen. »Mr. Smith glaubt, dass der Humber ein Köder gewesen ist«, verkündete er, nachdem er die Tür kaum hinter sich geschlossen hatte. »Er will wissen, wer heute Abend noch unterwegs gewesen ist.« Der Historiker sah in seinen Notizen nach. »Um acht Uhr fünfunddreißig ist Knight im Taxi angekommen und hineingegangen. Acht Uhr fünfzig hat der Humber den Park verlassen und ist in Richtung London verschwunden. Um elf Uhr sind Knight und Elizabeth Masefield in Knights Sportwagen abgefahren. Knight hat hier seine Sachen gepackt und sich ziemlich laut von allen in der Halle verabschiedet. Ich habe gehört, wie er Carol erzählt hat, dass er bei seiner Zeitung Bericht erstatten will und Elizabeth Masefield um neun Uhr morgen an einer Konferenz im Ministerium teilnehmen wird. Danach ist alles still
gewesen.« »Was soll ich ihm sagen?« »Genau das, was ich dir gerade vorgelesen habe.« Der Fotograf ging wieder zum Telefon hinunter und stieß in der Halle beinahe mit Carol zusammen. Er unterdrückte mühsam einen Fluch, und im nächsten Moment klingelte bereits das Telefon. Carol drängte sich vor ihm in die Zelle und hob ab. »Ja, jetzt ist er da«, erklärte sie und reichte ihm den Hörer. »Ich bin im Augenblick nicht unter der üblichen Nummer zu erreichen«, erklärte Smith am anderen Ende. »Deshalb habe ich lieber zurückgerufen. Also, was gibt’s?« Der Fotograf wiederholte die Notizen seines Kollegen. Am anderen Ende war es einen Moment still. »Dann muss das Mädchen das Zeug haben.« Damit war das Gespräch beendet, und der Fotograf legte sich missmutig wieder ins Bett. Er hoffte inständig, wenigstens für den Rest der Nacht in Ruhe gelassen zu werden. »Das Mädchen muss die Sachen haben«, wiederholte Mr. Smith und berichtete Leicester, was er aus Darwynt erfahren hatte. »Hm, ich hätte mir denken können, dass Philip Winter sich irgendeinen gemeinen Trick ausdenkt«, sagte Smith nachdenklich. »Vielleicht weiß das Mädchen nicht mal, dass sie die wertvolle Fracht bei sich hat.« »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Leicester. »Wir versuchen dasselbe noch mal... natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind. Wir haben allerdings nicht mehr viel Zeit.« »Stimmt. Michael, du setzt dich sofort mit George in Verbindung. Er soll seine gegenwärtige Fracht sicher verwahren und nach Darwynt zurückbringen.
Unterwegs müssen ihm der rote Sportwagen mit dem Verfolger entgegenkommen. George soll dann umkehren und ihm folgen. Falls er den Sportwagen allerdings erst sieht, wenn dieser schon beschädigt ist, kann er seine Geschichte ja ein bisschen abändern. Wenn Mr. Smith recht hat, und das Mädchen ahnungslos ist, dann sind die beiden kaum misstrauisch. Das Kennzeichen des roten Sportcoupés lautet: PCL 85OS.« Leicester nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer, während Brade das Funkgerät einschaltete. Als sich der Teilnehmer am anderen Ende meldete, gab Leicester kurz seine Anweisungen: »Es sieht so aus, als sei das Pärchen im roten Sportwagen das, was wir suchen.« Er gab das Autokennzeichen durch. »Sie haben Darwynt vor ungefähr einer halben Stunde verlassen, scheinen es jedoch nicht eilig zu haben. Vielleicht ist es besser, du wartest, bis sie bei dir vorbeikommen. Dann machst du alles so wie beim ersten Mal. George weiß schon Bescheid, du brauchst dich also nicht um ihn zu kümmern. Ich will den Funkverkehr auf ein Minimum beschränken.« Die drei Männer in London konnten nichts weiter tun als warten, während George erneut in Aktion trat. Er verließ zum zweiten Mal in dieser Nacht seine teuer eingerichtete, große Autowerkstatt in Truro und fuhr auf der fast leeren Landstraße in Richtung Falmouth und Darwynt zurück. Im Gasthof Red Lion hielt der große Mann, der sich als Historiker ausgegeben hatte, Wache, und der Kleine schlief tief und fest, während Carol heimlich das Hotel verließ. Sie fuhr mit ihrem Fahrrad jedoch am Haus ihrer Eltern vorbei und betrat eine Telefonzelle am anderen Ende des Dorfes, wo sie sich vor Lauschern sicher fühlte. Sie wählte eine Nummer. »Hallo?«, sagte sie aufgeregt. »Ich möchte Top sprechen. Es ist dringend! Hier spricht Carol... Top? Es geht um Elizabeth...« Elizabeth und David hatten während der Fahrt bereits Zukunftspläne geschmiedet. »Bleib die Woche über in London, dann können wir am Samstag zu meiner Mutter fahren«, schlug David vor. »Und meine Arbeit in Darwynt?«
»Ich dachte, die sei abgeschlossen.« »Schon, aber Philip braucht mich sicher noch, um alles abzuwickeln«, gab Elizabeth zu bedenken. »Zum Teufel mit diesem Philip! Ich verstehe nicht, wie du für einen solchen Menschen arbeiten kannst!« »Er ist ein ausgezeichneter Wissenschaftler, David. Philip glaubt übrigens, dass der Kaffee, den du vor der Betäubung getrunken hattest, daran schuld war, dass du früher als geplant aufgewacht bist.« »Du scheinst mit ihm über mich gesprochen zu haben, als sei ich einer eurer Affen«, fauchte David empört. »Okay, reden wir nicht mehr von Darwynt. Du hast mir doch ein gemütliches Abendessen versprochen.« »Vielleicht finden wir in Truro ein nettes Lokal.« »Das bezweifle ich, aber ich kenne einen Gasthof außerhalb von Exeter, der die ganze Nacht über offen ist«, erklärte Elizabeth. »Wir könnten dort dann frühstücken.« »Prima... Und du fährst nächstes Wochenende mit zu meiner Mutter?« »Ja, also gut... aber du musst dann meinen Vater kennenlernen.« David warf ihr einen überraschten Seitenblick zu. »Ich habe mir eigentlich eingebildet, dass du gar keine Eltern mehr hast.« »Doch, mein Vater lebt noch. Ich glaube, er wird dir gefallen.« Sie lächelte. Die beiden Verliebten waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie den schnellen Sportwagen erst bemerkten, als der Fahrer zweimal ungeduldig hupte und zum Überholen ansetzte. Es gab einen Schlag und Metall krachte, als der Sportwagen das kleine rote Coupe streifte, und Davids Sorge galt einzig und allein
Elizabeth, als sie gegen den nächsten Baum prallten. »Ist mit dir alles in Ordnung?«, erkundigte er sich. »Ja, natürlich. Dieser Idiot...« Es gelang ihr, die eingedellte Tür zu öffnen und auszusteigen. Der Sportwagen, der sie überholt hatte, hielt ein Stück weiter am Straßenrand an, und der Fahrer kam schwankend auf sie zu. »Mein Gott... wie schrecklich!«, begann er zum zweiten Mal in dieser Nacht. »Mann, Sie sind ja betrunken!« David stieg aus. »Es tut mir wirklich leid.« »Das kann Ihnen auch verdammt leidtun. Wir hätten beide tot sein können. Sehen Sie sich mal meinen Wagen an. Wer sind Sie?« Der Betrunkene nannte wieder seinen falschen Namen und die falsche Adresse. David schrieb sich alles auf. »Wir müssen auf jeden Fall die Polizei verständigen.« »Ich fahre Sie gern zur nächsten...« »Nein, Sie sind ja gar nicht mehr in der Lage, zu fahren.« David dachte nach. »Elizabeth, ich glaube, es ist das Beste, du fährst mit seinem Wagen zum nächsten Telefon und verständigst die Polizei und den Abschleppdienst.« Der Mann mit dem Sportwagen seufzte tief. Die Sache lief nicht ganz so, wie er wollte. »Es... es ist nicht nur der Alkohol«, murmelte er schließlich. »Sind Sie krank?«, erkundigte sich Elizabeth. »Ich bin Ärztin. Kann ich was für Sie tun?« Der Mann seufzte erneut. »Im Handschuhfach meines Wagens liegen Tabletten. Vielleicht könnten Sie sie mir holen, Frau Doktor.« Er wandte sich an David: »Würden Sie mir einen Moment helfen? Ich glaube, ich muss mich setzen.« Als David seinen Arm nahm, zog der angeblich Betrunkene eine Pistole aus der
Tasche und stieß sie David in die Rippen. »Immer schön ruhig und vernünftig bleiben«, zischte der Fremde. »Falls ihr Schwierigkeiten macht, lege ich euch um.« Elizabeth, die die Tabletten nicht finden konnte, sah sich nach den beiden Männern um, und hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie rannte zu David zurück, doch der Fremde packte sie und schob sie zwischen sich und David. »Okay, eine falsche Bewegung von Ihnen, und das Mädchen muss dran glauben«, sagte er drohend zu David. »Sie, Mr. Knight, setzen sich jetzt wieder ans Steuer, und die Dame kommt mit mir.« »Nein, da mache ich nicht mit!«, protestierte David energisch. »Hören Sie«, begann der Fremde beschwichtigend. »Ich werde Ihrer charmanten Freundin nicht zu nahe treten. Ich weiß schließlich, dass sie Elizabeth Masefield ist. In Ihrem Wagen haben wir zu dritt kaum Platz. Ich werde deshalb dort neben der Hecke mit Miss Masefield warten, bis meine Freunde kommen. Sie bleiben im Wagen!« David fügte sich zähneknirschend. Die Minuten vergingen so langsam wie Stunden. Er konnte Elizabeth und den Fremden neben der Hecke schwach erkennen. Einem vorbeifahrenden Auto würden sie jedoch kaum auffallen. Allerdings kam auch niemand vorbei. Es dauerte eine Weile, bis David klar wurde, dass der Mann offensichtlich glaubte, sie hätten die Formeln und die Proben, die für das Innenministerium bestimmt waren. Beinahe hätte er laut aufgelacht. Der Fremde schlug sich umsonst die Nacht um die Ohren. Zehn Minuten später kam der Abschleppwagen. Er hielt neben dem roten Sportwagen an, und der Fahrer steckte den Kopf aus dem Fenster. »Guten Abend«, rief er David zu. David schöpfte neue Hoffnung. »Du kannst dir deine Geschichte sparen, George«, sagte der Mann mit der Pistole. »Die beiden wollten nicht so recht mitspielen.« Er stieß Elizabeth zum Lastwagen, und George pfiff bewundernd durch die Zähne.
»Ted, hilf der Lady in den Wagen. Okay, Mr. Knight, raus aus dem Auto! Sie kommen ebenfalls hier rein!« Fünf Minuten später hatten sie David und Elizabeth betäubt, das rote Sportcoupé wurde auf die Ladefläche gehievt, und der Lastwagen fuhr nach Truro zurück. Der junge Mann mit der Pistole ging zu seinem Wagen und funkte nach London, dass der Plan erfolgreich ausgeführt worden
»Mann, hoffentlich haben wir diesmal wenigstens die Richtigen erwischt«, seufzte Ted mit düsterer Miene. »Kein Grund zur Aufregung«, sagte George warnend. »Du wirst entsprechend bezahlt.« »Hm, das Mädchen haut einen ja glatt um. Was machen wir mit den beiden?« »Keine Ahnung, aber unsere Auftraggeber halten nicht viel von Gewaltanwendung.« Ted sah über die Schulter zurück. »Bei ihr wäre das auch wirklich zu schade«, erklärte er gelassen. Am Stadtrand von Truro bog der Abschleppwagen von der Hauptstraße ab und hielt schließlich vor dem Tor einer Autowerkstatt an, die in einem Industriegebiet lag. Ted stieg aus und klopfte. Das Tor schwang augenblicklich auf, der Lastwagen fuhr hinein. Hinter ihm schloss sich das Tor sofort wieder. George hatte die Werkstatt im vergangenen Sommer gemietet, und inzwischen halb Truro zum Kunden gehabt, während Leicester darauf gewartet hatte, zuschlagen zu können. »Behalte die beiden im Auge, Tubby«, befahl George und stieg aus. Der Raum, in dem George den Lastwagen abgestellt hatte, war nur spärlich erleuchtet, doch in der Werkstatt, in der seine Leute den Humber bereits aufgebockt hatten, brannte grelles Licht.
»Hast du was gefunden, Bert?«, erkundigte sich George. Bert streckte sein schwarzverschmiertes Gesicht unter dem Wagen hervor und schüttelte bedauernd den Kopf. »Wo sind die beiden Burschen?« »Mit Mr. Brown im Büro.« George ging mit steifen Beinen zu der Glastür am hinteren Ende der Werkstatt und betrat das Büro. Tom Brown, der Leiter der Werkstatt, saß hinter seinem Schreibtisch und hielt Mr. Stewart und Mr. French mit einer Pistole in Schach. »Na, was rausbekommen?«, fragte George. »Nein, die beiden haben nichts bei sich. Dickie wollte die zwei unter die Hebebühne legen, aber ich glaube, es ist sinnvoller, wir untersuchen den Wagen.« French, der nervös in einer Kaffeetasse gerührt hatte, wurde bleich. »Wo ist Doc?« »Er pennt in meiner Wohnung. Soll ich ihn holen lassen?« »Nein, ich geh’ zu ihm«, wehrte George ab. George stieg die ausgetretene Treppe in Browns kleine Wohnung hinauf. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und wusste, dass er noch lange nicht ins Bett kommen würde. Der Mann, den er Doc genannt hatte, schlief friedlich auf Browns Bett. »Armer, alter Doc«, murmelte George, bevor er den Mann aufweckte, dessen Verhängnis Frauen gewesen waren. Doc hatte wegen illegaler Abtreibungen seine Approbation als Arzt verloren und war schließlich drogensüchtig geworden. Später war er dann zu Leicesters Team gestoßen. »Doc«, begann George und rüttelte den Mann sanft an der Schulter, »ich habe zwei neue Patienten für dich.«
Die runzeligen Backen des alten Mannes zuckten. Dann öffnete er die Augen und setzte sich auf. »Steck deinen Kopf unter die Wasserleitung«, riet George ihm. »Ich bringe sie inzwischen zu dir rauf.« »Ted, Bert!«, rief George, als er wieder hinunterging. »Ich brauche euch!« Neben dem Abschleppwagen stand bereits ein blonder Junge in einem erstaunlich sauberen Overall. Er drehte sich um und musterte George aus kalten grauen Augen. »Was machen wir mit ihnen?«, fragte er. »Du machst mit den beiden gar nichts, Dickie«, erwiderte George. »Und jetzt geh uns aus dem Weg.« Dickie trat einen Schritt zurück und beobachtete mit unbewegter Miene, wie George und Bert David Knight hinaustrugen. Ted hob Elizabeth Masefield auf und legte sie sich über seine Schulter. Dabei verlor das Mädchen einen Schuh. Dickie hob ihn auf, und Tubby gab ihm Elizabeths Handtasche. »Trag die Sachen rauf. George braucht das alles oben. Das Gepäck nehmen wir uns hier unten vor.« »’n Ordnung«, murmelte Dickie gleichgültig und folgte den anderen in die erste Etage hinauf. Unglücklicherweise hatte Bert David gerade auf Browns Bett gelegt und sich umgedreht, als Dickie in der Tür erschien. »Die Damenhandtasche steht dir gut, Dickie.« Dickie starrte ihn hasserfüllt an. »Als du unter dem Humber gelegen bist, hätte ich nur die Rampe runterlassen müssen, um aus dir Hackfleisch zu machen... und das nächste Mal werde ich das auch tun.« Bert schien sich nicht sehr wohl in seiner Haut zu fühlen.
»Hört mit diesem Unsinn auf!«, befahl George scharf. »Wir haben jetzt andere Sorgen. Geht runter und helft Tubby den anderen Wagen aufzubocken.« Als Dickie verschwunden war, schüttelte George den Kopf. » auf die beiden auf, Doc«, wandte er sich dann an den alten Arzt und deutete auf David und Elizabeth, die nebeneinander auf Browns Bett lagen. »Ich lasse dir Ted da. Wir anderen müssen uns jetzt um das Sportcoupé kümmern.« Unten in der Werkstatt stand Davids Cabriolet bereits auf der Hebebühne, und sämtliche Koffer und Taschen lagen auf einem langen Tisch ausgebreitet. »Nehmt euch zuerst das Gepäck vor! Und vergesst nicht, wir suchen nach Papieren und einer kleinen Schachtel oder einem Kästchen...« Die Suche dauerte nur knapp zehn Minuten, dann entdeckte Dickie den doppelten Boden in Elizabeths Koffer, zog ein Bündel zusammengehefteter DIN-A4-Seiten heraus und gab es George. »Fairfax Foundation: Bericht über die potentielle Wirkung von GMH 9«, las George laut vor. »Das muss es sein. Jetzt brauchen wir nur noch die Proben. Was ist noch übrig? Der Feuerlöscher? Untersuch ihn gründlich, Dickie.« Es war äußerlich ein ganz normaler Feuerlöscher, jedoch keineswegs der, den David Knight seit zwei Jahren in seinem Wagen hatte. Der Kopf dieses Löschers ließ sich abschrauben, und darin kamen drei zylinderförmige AluminiumKapseln zum Vorschein. »Okay, ihr könnt aufhören, Jungs«, sagte George und stieg mit seinem Fund in Browns Wohnzimmer hinauf, öffnete den Safe, stellte die Sachen hinein und ging ins Schlafzimmer hinüber. Er wollte zuerst nach den Patienten sehen, bevor er Leicester Bericht erstattete.
In London ging Michael Brade das Warten langsam auf die Nerven. Er war ein Gewohnheitsmensch, der täglich zu bestimmten Zeiten seine Mahlzeiten und acht Stunden Schlaf brauchte.
Brade war zwar kein besonders sensibler Mann, aber er spürte trotzdem, dass diesmal die Dinge nicht ganz nach Plan liefen und Smiths Anwesenheit störte ihn. Vielleicht hatte Leicester mit seiner Vermutung, Smith traue ihm nicht mehr, recht. Aber auch Leicester Entschluss, ihre so erfolgreiche und einträgliche Organisation aufzulösen, hatte Brade etwas aus der Ruhe gebracht. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und ging häufig ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen oder sich zu kämmen. Als er dann schließlich wieder einmal aus dem Badezimmer kam, sah er zu seinem Erstaunen, dass Mr. Smith offensichtlich auf seinem Platz am Tisch eingeschlafen war, mit dem Kopf auf den Armen. »Michael, komm, hilf mir, ihn ins Schlafzimmer zu tragen«, forderte Leicester ihn auf. »Ist er krank?«, erkundigte sich Brade vorsichtig. »Vermutlich nur erschöpft«, antwortete Leicester. »Das heißt, ich hoffe es wenigstens. Wir können in dieser Situation kaum einen Arzt holen, was?« Als sie Smith auf das Bett gelegt hatten, klingelte das Telefon. Leicester lief sofort hinaus, und Brade hörte, wie Smith murmelte: »Ich hatte recht.« Smith war jetzt deutlich zu verstehen: »Ich hatte bei ihm recht.« Dann schlief Mr. Smith wieder ein. Im anderen Raum telefonierte Leicester: »Ausgezeichnet... Wir brauchen unseren Plan nicht zu ändern. Bringt mir die Sachen her... Ja, der... der andere Herr ist nicht ganz auf der Höhe... und außerdem möchte ich die beiden letzten agiere sehen. Ich rufe dich an, wenn ihr unterwegs seid, und sage dir dann, wie du sie am besten reinbringen kannst... Die ersten agiere?... Sperr sie irgendwo sicher ein... Bring deine sämtlichen Leute mit. Sie sollen alle zu mir kommen... auch der Doc.« Als er den Hörer wieder auflegte, wandte er sich an Brade: »Es ist jetzt schon fast ein Uhr, und ich glaube kaum, dass sie vor sechs hier eintreffen, aber ich muss ihnen unterwegs noch Instruktionen geben. Ich schätze, dass sie gegen fünf Uhr nahe genug sind. Inzwischen können wir ein paar Stunden schlafen.« »Schlafen?«
»Ja, natürlich. Du kannst dich dort drüben auf die Couch legen. Mach’s dir bequem.« »Was ist mit Smith?« Anstatt zu antworten, schloss Leicester seinen Wandsafe auf, nahm einen Revolver mit kurzem Lauf und zwei Paar miteinander verbundene Handschellen heraus, machte den Safe wieder zu und ging ins Schlafzimmer. »Na, so was«, murmelte Michael Brade fassungslos. »Tja, ganz einfach«, sagte Leicester und legte dem schlafenden Smith ein Paar Handschellen an. »Pack ihn bei den Füßen, damit wir ihn auf den Boden legen können.« Brade gehorchte wortlos. Leicester schloss das zweite Paar Handschellen um das Bein des Bettes, legte die Waffe auf den Nachttisch und zog sein Jackett aus. »Gute Nacht, Michael. Schlaf gut.« »Ich verstehe das alles nicht.« »Kann ich mir vorstellen. Ich erkläre es dir morgen früh«, versprach Leicester.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Leicesters Instruktionen George überrascht hätten. George hatte eigentlich erwartet, dass Leicester ihn mit den Formeln und den Proben zur Übergabe an Mr. Smith an einen anonymen Ort schicken würde, aber dass er ihn zusammen mit dem Mädchen und Knight und der gesamten Mannschaft in seine Wohnung gebeten hatte, war für George nur schwer verständlich. Damit gefährdete Leicester all das, was sie in jahrelanger Arbeit aufgebaut hatten. Und warum? Was sollte er vor allem mit dem einen Mann machen, der gar nicht zu seiner Stammmannschaft gehörte? Er beschloss, mit dem Doc darüber zu sprechen. »Doc, kannst du mal ’nen Augenblick zu mir rüberkommen«, bat er den alten Herrn, der noch immer mit Ted die Patienten im Schlafzimmer bewachte.
Nachdem sich die Tür hinter dem Doc geschlossen hatte, erklärte ihm George kurz, was Leicester angeordnet hatte. »Oh, das ist nur eine kleine Änderung des ursprünglichen Plans«, meinte der Doc. »Mach dir deswegen doch keine Sorgen.« »Aber was ist mit Dickie? Ich wollte ihn nirgendwohin mitnehmen. Der Bursche ist brutal und unberechenbar. Ich mag ihn nicht. Warum habe ich ihn überhaupt ins Team genommen?« »Weil er ein guter Mechaniker ist, und weil du es unbedingt auf seine Schwester abgesehen hattest«, antwortete Doc ungerührt. Dickie hatte ihm das schon vor einer Woche auf den Kopf zugesagt, und George musste zugeben, dass das stimmte. Allerdings hatte er inzwischen begriffen, dass sie die Mühe nicht wert gewesen war. »Was soll ich mit ihm machen? Er redet verdammt viel. Glaubst du, er würde das alles auch tun, was er oft so sagt?« »Ja, George«, erwiderte der alte Arzt ernst. »Davon bin ich überzeugt. Er gehört in eine psychiatrische Anstalt.« »Gut, ich werd’s mir merken«, seufzte George. »Vielleicht fällt Walter was ein. Wir brechen jedenfalls in einer Stunde von hier auf. Ich muss jetzt noch mal telefonieren.« George rief erneut London an, und diesmal schreckte das Klingeln des Telefons Michael Brade aus dem Schlaf auf. Offensichtlich hatte Leicester überhaupt nicht geschlafen, denn er kam sofort aus dem anderen Zimmer und hob den Hörer ab. »George?« »Entschuldige die Störung, aber ich habe zwei Probleme. Erstens ist einer der Leute hier vorbestraft, und zweitens haben wir nicht mehr die Zeit, sämtliche Fingerabdrücke zu beseitigen. Wie wär’s, wenn wir hier ein nettes Feuerchen so gegen fünf Uhr morgens legen würden?« »Das erregt verdammt viel Aufsehen.«
»Gerede gibt es auch, wenn wir die Werkstatt von heute auf morgen einfach dichtmachen«, gab George zu bedenken. »Stimmt. Was ist mit den beiden Männern aus dem Humber? Wir können sie schließlich nicht einfach verbrennen lassen.« »Ich kann sie mitbringen... oder unterwegs irgendwo laufen lassen. Sie wissen nichts, das uns gefährlich werden...« »Nimm sie mit!«, entschied Leicester spontan. »Sonst noch was?« »Ja. Einer der Männer hier ist nicht der Typ, mit dem ich noch mal arbeiten will.« »Im Augenblick brauche ich jeden Mann. Außerdem kannst du ihn sowieso nicht zurücklassen. Er würde singen.« »Hm, du hast recht. Vermutlich habe ich nicht damit gerechnet, dass er soviel mitbekommen würde... und er ist der Typ, der plaudert... wenn er dadurch nur jemanden reinreiten kann.« »Bring ihn auf jeden Fall mit... Ich gebe euch alle weiteren Anweisungen über Funk... so gegen vier Uhr.« In der nächsten halben Stunde ging es in der Werkstatt in Truro sehr hektisch zu. Tubby sollte Georges Sportwagen zur Werkstatt nach Chiswick fahren und dort dann am Kreisverkehr auf die anderen warten. George wollte dadurch nicht nur sein geliebtes Auto retten, sondern auch verhindern, dass man durch den Wagen auf seine Spur kam, falls das Feuer das Fahrzeug nicht völlig vernichtete. Die übrigen sollten in dem Wondermove Möbelwagen, den George m kluger Voraussicht in einer Garage der Werkstatt versteckt hatte, nach London fahren. Der Möbelwagen enthielt bereits so nützliche Gegenstände wie Stühle und einen großen Schrank, in dem die beiden Herren vom Innenministerium gut aufgehoben waren. Dickie sorgte für das Feuer. George konnte sich darauf verlassen, dass er alles sehr wirksam organisieren würde. Um vierzig Minuten nach ein Uhr war es dann soweit. Tubby verließ als erster in
Georges Wagen die Garage, und danach folgte der Möbeltransporter.
Sechstes Kapitel
Das Aufwachen nach einer Chloroform-Narkose ist ein langsamer und schmerzlicher Prozess. David registrierte im Unterbewusstsein, dass er auf einem Bett lag und Elizabeth noch bei ihm war. Er hörte Stimmen und spürte dann, wie er eine steile Treppe hinuntergetragen wurde. Dann war er wieder völlig bei Bewusstsein. Er saß in einem großen Sessel, der sich seltsamerweise vorwärts zu bewegen schien. David machte die Augen wieder zu. Er hatte das Gefühl zu träumen. Schließlich schlug er die Augen noch einmal auf und merkte, dass er doch nicht träumte. Neben ihm saß ebenfalls in einem Sessel Elizabeth, die ab und zu schlaftrunken vor sich hinmurmelte, jedoch unverletzt schien. Ihm gegenüber entdeckte David dann einen alten Mann mit freundlichem, runzeligem Gesicht. »Fühlen Sie sich jetzt besser?«, erkundigte sich dieser. »Wo bin ich?« »In einem Möbelwagen auf dem Weg nach London.« »Sie haben gedacht, wir hätten die Formel, stimmt’s?« »Ünd sie oder besser wir hatten damit auch recht«, entgegnete der alte Mann. »Wir haben die Sachen tatsächlich bei Ihnen gefunden.« »Das ist doch Unsinn«, mischte sich Elizabeth jetzt ein. »Die beiden Herren vom Innenministerium sind bei uns gewesen und...« Sie hielt abrupt inne. »Sie verraten uns damit kein Geheimnis, Miss. Wir wussten von Anfang an Bescheid und sind ziemlich schnell drauf gekommen, dass die Sachen nicht von den beiden, sondern von Ihnen transportiert wurden. Die zwei Männer haben wir geschnappt. Sie sitzen hinter Ihnen in dem großen Schrank.« Der alte Herr schaltete eine Taschenlampe ein und öffnete eine Flügeltür des Schranks. Dahinter kamen die gefesselten und geknebelten Herren vom Innenministerium zum Vorschein.
»Die beiden sind hier gut untergebracht. Wir haben ’ne Menge Luftlöcher in den Schrank gebohrt.« »Haben wir wirklich die... die Sachen, die sie gesucht haben, dabei gehabt?«, erkundigte sich Elizabeth. »Ja, die Formeln und die Proben. Soviel ich weiß, befanden sich die Papiere im Futter Ihres Koffers, Miss Masefield.« »Ich habe sie dort nicht hineingesteckt.« »Und die Proben haben wir im Feuerlöscher von Mr. Knights Sportwagen entdeckt«, fuhr der alte Herr fort. David dachte einen Moment nach. »Es muss Philip Winter gewesen sein«, erklärte er schließlich. »Er war der einzige, der wusste, dass du noch in der Nacht nach London fahren würdest, und den Koffer und den Feuerlöscher präparieren konnte. Er hat die ganze Sache geplant...und uns belogen. Die beiden Herren vom Innenministerium haben London schließlich nie erreicht. Ich bring den Kerl um...« »Das müssen Sie auf später verschieben«, sagte der Doc. »Hm, Sie haben doch die Formel und die Proben«, wandte sieh David erneut an Doc. »Warum halten Sie uns dann noch fest?« »Keine Ahnung. Ich bin hier nur der Arzt. Allerdings muss ich Sie bitten, keine Dummheiten zu machen. Hinter Ihnen sitzt ein Mann mit einer Pistole in der Hand, der nicht zögern wird, Sie beide zu erschießen. Stimmt’s, Ted?« »Ganz richtig, Doc. Und das Mädchen kommt als erstes dran.« »Dürfen wir uns wenigstens unterhalten?«, erkundigte sich David. Die beiden beratschlagten flüsternd. »Ja, aber leise«, antwortete schließlich der Doc. »Und vergesst nicht, keine hastigen Bewegungen! Teds Finger am Abzug ist sehr nervös.«
David nahm Elizabeths Hand und drückte sie. Sie unterhielten sich kurz und schliefen dann wieder ein. Gegen drei Uhr morgens schnarchte auch der Doc, eine halbgeleerte Whiskyflasche neben sich, während Ted und Dickie abwechselnd die Gefangenen bewachten und George am Steuer saß.
Um zehn vor vier Uhr morgens wurde Michael Brade von Leicester wachgerüttelt, obwohl er das Gefühl hatte, kaum fünf Minuten geschlafen zu haben. »Zieh dich an, Michael. Wir verlagern unseren Standort. Hier ist eine Tasse Kaffee. Die wird dich munter machen.« Brade setzte sich auf dem Sofa auf, trank langsam den heißen Kaffee und versuchte sich zu erinnern, was eigentlich iert war und wohin Leicester jetzt gehen wollte. Er fühlte sich miserabel. Mr. Smith war in ebenso schlechter Verfassung. Leicester beugte sich im Schlafzimmer über ihn und schloss eine Handschelle auf. »Los, stehen Sie auf, Smith!«, forderte Leicester ihn auf und richtete die Pistole auf ihn. »Ich bringe sie jetzt ins Badezimmer, und danach bekommen Sie eine Tasse Kaffee. Waschen Sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser, dann sind Sie gleich wieder wach.« Mr. Smith stöhnte, stand mit steifen Beinen auf und schlurfte ins Badezimmer. Leicester schloss hinter ihm die Tür ab. »Das Bad hat keine Fenster«, rief ihm Leicester noch zu. »Also klopfen Sie, wenn Sie wieder raus wollen.« Leicester ging ins Wohnzimmer zurück, wo Brade noch immer schlaftrunken seinen Kaffee schlürfte.
»Beeil’ dich! Wir verschwinden in fünf Minuten.« »Wohin denn?« »Das wirst du noch früh genug erfahren. Mach dich gefälligst fertig.« Leicester goss noch zwei Tassen Kaffee ein und wollte gerade eine davon trinken, als jemand laut zu klopfen begann. »Das ist Smith«, seufzte Leicester. »Der Mann macht zu viel Krach. Hören Sie auf, Smith!«, befahl er ruhig, als er den Schlüssel herumdrehte. »Sonst muss ich Sie umbringen. Sie nützen mir jetzt nichts mehr, und ich lasse Sie nur am Leben, weil ich kein Unmensch bin.« »Und weil Sie glauben, Sie könnten mich vielleicht doch noch mal brauchen«, entgegnete Smith. Leicester lächelte flüchtig. »Trinken Sie Ihren Kaffee aus. Michael, du kannst dich jetzt waschen. Vielleicht hast du danach wenigstens wieder einen klaren Kopf.« Fünf Minuten später waren sie zum Aufbruch bereit. Michael trug den schweren Koffer und seine Reisetasche, und Leicester schob den widerspenstigen Smith vor sich her. »Wir nehmen den anderen Lift«, erklärte Leicester. »Dort hinter der Ecke. Drück auf den Knopf, Michael.« Sie warteten schweigend auf den Lift, stiegen ein, und Leicester drückte auf den mit einem K gekennzeichneten Knopf. »Ich wusste gar nicht, dass das Haus einen Keller hat«, bemerkte Michael erstaunt. »Du hast vermutlich immer den anderen Lift benutzt, und der geht nur bis zum Parterre«, erwiderte Leicester. »Wir sind da.« Leicester öffnete mit der linken Hand die Tür, während er mit der rechten Hand Smith die Pistole in den Rücken drückte. »Nach links, Michael. Schließ die Tür auf.« Er gab ihm einen Schlüssel. »Und
mach sie hinter uns wieder gut zu. Wir müssen quer durch das Restaurant.« Sie gingen durch den großen Speisesaal und den Küchentrakt, in dem es noch nach dem Essen vom Vortag roch, und betraten einen kleinen Innenhof, an den nur noch ein halbverfallener Altbau angrenzte. Leicester schloss die Küchentür sorgfältig hinter ihnen zu und machte die Tür zu dem gegenüberliegenden alten Gebäude auf. Michael, dem der Koffer schon schwer zu werden begann, trat als erster ein. Mr. Smith und Leicester folgten. Letzterer schloss die Tür wieder zu. Brade schien es ein kaltes, unfreundliches Haus zu sein, das irgendwo hinter dem staatlichen Archiv liegen musste. Leicester dirigierte sie jedoch ungerührt weiter zu einem altmodischen Lift, der sie ein Stockwerk tiefer brachte. Als Leicester die Lifttür zurückschob, hielt Brade den Atem an. Jemand hatte den Keller der Bauruine zu einem modernen, luxuriös eingerichteten Apartment umgebaut. Zu seiner Linken sah Brade einen langen Korridor mit vielen Türen, wie in einem Hotel. Auf der rechten Seite lag ebenfalls ein Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Leicester wandte sich zuerst nach links. »Ich bringe Mr. Smith nur schnell in eines der Gästezimmer«, verkündete er. »Du stellst das Funkgerät in das Zimmer dort. Schließ es gleich an. Ich komme sofort zurück.« Auf diese Weise war Michael Brade bereits um Viertel nach vier Uhr morgens bereit, eine Funkmeldung an George durchzugeben, die kurz lautete: »Lahr den Möbelwagen in die Tiefgarage. Am hinteren Ende ist eine hohe Betonmauer. Wenn die Luft rein ist, hupe dreimal.« »Und was iert dann?«, fragte George, doch der Funkkontakt war bereits unterbrochen. Brade nahm die Kopfhörer ab, schaltete den Sender aus und wandte sich an Leicester. »Was soll das alles, Walter?«, fragte er. »Warum hältst du Smith gefangen? Er ist
doch der Kunde, der Käufer, oder? Und weshalb lässt du George und seine ganze Truppe hierher kommen? Und was willst du mit den vier gekidnappten Leuten anfangen?« »Weil ich meine Pläne geändert habe, Michael«, erwiderte Leicester gelassen. »Das tue ich oft, wie du weißt. Man muss immer flexibel sein. Und die beiden Männer vom Ministerium und Knight und das Mädchen habe ich herbringen lassen, weil ich sie um ihre Hilfe bitten werde.« »Aber du willst sie doch nicht foltern, oder?« Leicester lachte. »Wegen einer Information, die ich längst besitze? Michael! Du liest zu viele Spionageromane. Ich habe, wie gesagt, einen neuen, ausgezeichneten Plan. Setz dich und entspann dich. Ich erzähle dir alles. Anschließend schläfst du noch ein paar Stunden, schlage ich vor.«
Gegen sechs Uhr morgens, als der Möbeltransporter Cornwall schon weit hinter sich gelassen hatte, brannte die Autowerkstatt in Truro lichterloh. In London war Michael Brade in einen unruhigen Schlaf versunken, und Walter Leicester saß ruhig in einem bequemen Sessel und wartete gelassen darauf, dass es acht Uhr wurde. Dann musste er Brade zum zweiten Mal an diesem Morgen aufwecken, und Leicester fragte sich erneut, ob es richtig gewesen war, Brade in sein Geheimquartier gebracht zu haben. Um neun Uhr war der Brand in Truro fast gelöscht, und die Experten vom Branddezernat machten sich an die Arbeit. Sie fanden jedoch nichts, was Georges Bande in irgendeiner Form hätte belasten können. Michael Brade hatte nach den zusätzlichen Stunden Schlaf, dem ausgezeichneten Frühstück, das Leicester ihm gemacht hatte, und den ausführlichen Erklärungen seines Partners seine innere Ruhe wiedergefunden und fühlte sich frisch und zu neuen Taten bereit. Leicester registrierte dies mit Erleichterung und schaltete einen kleinen Fernsehmonitor ein. »Die Kamera ist über dem Garagentor angebracht«, sagte er. Auf dem Fernsehschirm erschien eine glatte Betonwand, und sie hörten entfernte Verkehrsgeräusche.
Um fünf nach halb zehn ertönte ein dreifacher Hupton. Leicester schaltete sofort einen anderen Kanal ein, auf dem offensichtlich die Bilder von einer Kamera an der Außenwand übertragen wurden, denn auf dem Monitor erschien deutlich sichtbar ein Möbelwagen mit George am Steuer. Leicester stellte wieder einen anderen Kanal ein und bediente einen Hebel neben dem Fernsehapparat. Brade beobachtete erstaunt, wie sich plötzlich die ganze Betonwand um eine horizontale Achse drehte. George fuhr den Möbelwagen in die dadurch entstandene Öffnung, und die Wand schloss sich wieder. »Du bleibst hier, Michael«, befahl Leicester. »Ich hole die Leute ab.« David und Elizabeth hatten das Hupen gehört und auch erkannt, dass es ein Signal sein musste, doch als die Ladeklappe des Möbelwagens geöffnet wurde und sie aussteigen mussten, erkannten sie zu ihrer Überraschung, dass sie im Keller irgendeines Gebäudes waren. Und David traute seinen Augen kaum, als sie dann von Walter Leicester begrüßt wurden. »Es muss sich um einen schrecklichen Irrtum handeln«, begann er hoffnungsvoll. »Ich fürchte, Sie täuschen sich, Mr. Knight«, entgegnete Leicester. »Ich bin für Sie leider nicht der rettende Engel. Sie sind sicher Dr. Masefield. Bitte, kommen Sie beide mit mir.« Leicester wandte sich an George. »Ich nehme den Mann auch mit.« Er deutete auf Bert. »Er kann dann zurückkommen und dir den Weg zeigen.« Im Lift sagte Leicester bedauernd zu David: »Ich werde Sie leider einsperren müssen, solange hier ständig Leute aus- und eingehen. Aber sobald der Lift geschlossen ist und Sie keine Fluchtmöglichkeit mehr haben, können Sie sich wenigstens auf den Korridoren frei bewegen... in Grenzen natürlich.« Leicester führte sie den Flur zur Linken entlang, öffnete eine Tür und trat einen Schritt zur Seite, damit David und Elizabeth den mit einem Bett, einem Tisch und Stühlen eingerichteten Raum betreten konnten. Im Hintergrund führte eine Tür in ein Badezimmer. Im nächsten Moment fiel die Zimmertür hinter ihnen wieder ins Schloss, und es wurde ihnen endgültig klar, dass sie Leicesters
Gefangene waren. Im Wohnzimmer beobachtete Michael Brade auf dem Fernsehschirm, wie Bert wieder zu den anderen zurückkam, sich kurz mit George unterhielt, laut lachte und dann zusammen mit zwei Männern einen riesigen alten Schrank die Laderampe hinunterschoben. Brade trat auf den Gang, wo Leicester bereits vor dem Lift wartete. Als auch die beiden anderen Gefangenen versorgt waren, kehrte Leicester ins Wohnzimmer zurück, bediente einen Hebel, und sie hörten ein lautes metallenes Geräusch. »Der Lift ist zu«, erklärte Leicester gelassen, und Brade sah auf dem Monitor, dass der untere Lifteingang von einer glatten Stahlplatte verschlossen war. »So, jetzt kann ich die beiden interessanten Gäste aus ihrem Zimmer holen, und die zwei Herrn im Schrank werden ebenfalls befreit.« »Sie werden sicher Ihre beiden Leidensgenossen begrüßen wollen«, sagte Leicester lächelnd zu David und Elizabeth, als er ihre Zellentür aufschloss. Elizabeth und David standen mit den anderen vor dem Schrank. Nur Dickie lehnte etwas abseits an der Wand. Walter Leicester öffnete die Schranktür. Plötzlich herrschte unheimliche Stille. French und Stewart lagen mit unnatürlich verdrehten Augen und blutverschmiert im Schrank. Doc war der erste, der aus seiner Starre erwachte. Er trat einen Schritt vor und fühlte den beiden Männern den Puls, machte dann die Schranktür wieder zu und wandte sich an Elizabeth: »Dr. Masefield?« »Ich habe nie praktiziert, Doktor«, antwortete Elizabeth mit erstaunlich fester Stimme. »Ich habe keine Erfahrung darin, wie man den Zeitpunkt des Todes feststellt.«
»Trotzdem können Sie sicher meine Theorie bestätigen. Die Totenstarre hat schon teilweise eingesetzt. Und wenn man die Temperatur im Möbelwagen in Betracht zieht, dann würde ich sagen, dass die beiden gegen halb vier Uhr heute Morgen umgebracht worden sind.« George dachte einen Augenblick nach und zählte etwas an den Fingern ab. »Zweite Schicht«, sagte er dann plötzlich. »Dickie hatte Wache.« Er wirbelte zu dem jungen Mann herum. »Du! Du bist es gewesen!« Dickie lächelte. »Es hat mir einfach Spaß gemacht«, erklärte er und in seiner Stimme schwang Begeisterung mit.
Im Schloss Darwynt kochte Philip Winter innerlich vor Wut, und sämtliche Angestellte machten einen großen Bogen um ihn. Normalerweise hatte sich Elizabeth um die spanischen Hausangestellten gekümmert. Winter sprach nur ein paar Worte Spanisch und war verärgert, als das Dienstmädchen plötzlich beim Frühstückhereinplatzte und ihn mit einem erregten Wortschwall überschüttete. Karl Weissman übersetzte. »Sie sagt, dass Top verschwunden ist.« Weissman sprach kurz auf Spanisch mit dem Mädchen. »Ich habe sie gebeten, nachzusehen, ob er vielleicht in seinem Zimmer eine Nachricht für dich hinterlassen hat.« »Danke«, murmelte Philip und sah auf die Uhr. Es war Viertel nach acht. Um sieben Uhr dreißig war Top von einem anderen Wachtposten abgelöst worden, und es gab deshalb keinen Grund, warum er nicht einen kleinen Morgenspaziergang gemacht haben sollte. Die Spanierin kam kurz darauf mit einem an Dr. Winter adressierten Umschlag zurück. Er enthielt einen Zettel mit einer kurzen Nachricht von Top und trug das Datum des Vortages. »Musste plötzlich aus privaten Gründen fort. Bin in einigen Tagen wieder zurück.« Winter gab den Zettel an Weissman weiter und sagte dem Dienstmädchen, dass
es gehen konnte. Obwohl inzwischen die strengen Sicherheitsbestimmungen im Schloss überflüssig geworden waren, hasste es Winter, wenn der geregelte Tagesablauf seines Teams gestört wurde, und außerdem hatte Top offensichtlich kurz nach Elizabeth und Knight Darwynt verlassen. Um Viertel nach neun erhielt Winter dann einen dringenden Anruf vom Sekretär des Innenministers und erfuhr, dass French und Stewart nicht zurückgekehrt waren. Winter, der nichts anderes erwartet hatte, erkundigte sich jedoch sofort, ob sich denn nicht die beiden anderen Überbringer der Formeln und Proben bereits im Ministerium gemeldet hätten. Winter musste dem Sekretär erst einmal erklären, wer diese Boten waren und warum er seinen Plan geändert hatte. Daraufhin sagte der Sekretär: »Bei uns ist niemand dieses Namens erschienen. Dem Minister wird das übrigens gar nicht gefallen.« Winter gefiel das auch nicht. Misserfolge war er nicht gewöhnt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als herauszufinden, wie weit die beiden überhaupt mit den Formeln und Proben gekommen waren. Er rief im Gasthof Red Lion an und erfuhr von Carol einige sehr interessante Dinge. Auf seine Frage, wann Elizabeth und Knight das Hotel am Vorabend verlassen hatten, hatte Carol sofort erwidert: »Ist den beiden etwas zugestoßen?« Winter musste zugeben, dass Elizabeth und Knight längst überfällig waren. »Diese beiden merkwürdigen Typen stecken dahinter«, erklärte Carol prompt und berichtete Winter, wie verdächtig sich diese Gäste benommen hatten, und dass der eine noch spät in der Nacht telefoniert hatte. »Er hat jemandem am Telefon ausführlich erklärt, wann verschiedene Leute gekommen und wieder gegangen sind. Außerdem habe ich deutlich gehört, wie er gesagt hat, dass Mr. Knight und Miss Elizabeth Darwynt mit dem roten Sportwagen verlassen haben.« »Sind diese Männer noch da?«
»Ja, natürlich... Was ist eigentlich los, Mr. Winter?« »Ich komme sofort zu Ihnen.« Winter legte auf. Und ausgerechnet jetzt ist Top nicht da, dachte Winter ärgerlich. Er nahm den Hörer des Haustelefons ab und gab einige Anweisungen. Fünfzehn Minuten später zwang Tops Kollege Peters die Freunde von Mr. Smith mit vorgehaltener Pistole, den Gasthof Red Lion zu verlassen und in seinen Wagen zu steigen. Nachdem Peters den Koffer, der sämtliche Papiere enthielt, die er im Zimmer der beiden sicherstellen konnte, verstaut hatte, fuhr er mit den Herren nach Darwynt Castle. Dort wurden sie Philip Winter vorgeführt, der den Historiker und den Fotografen eisern in die Mangel nahm. Winter war auf seine Art und Weise ein Fanatiker, dessen ganzes Denken nur auf Erfolg ausgerichtet war, und der es sich einfach nicht leisten konnte, zu versagen. Um Elizabeth und David machte er sich kaum Sorgen. Das Wichtigste war sein Projekt, und die beiden Männer aus dem Red Lion besaßen Informationen, die er dringend brauchte. Erstaunlicherweise packte der hagere, große Mann als erster aus. Aber das war viel, viel später...
Walter Leicester rührte mit ruhiger Hand in seinem Kaffee. Falls ihn der Anblick der beiden Toten geschockt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. David war noch immer wie betäubt. Es schien bereits eine Ewigkeit her, seit das Verbrechen entdeckt worden war und Bert auf Dickie losgegangen war. Der Mann, den sie George nannten, hatte versucht, die beiden zu trennen, doch erst Leicester hatte dem Kampf schließlich ein Ende setzen können. »Sperrt ihn in eine der Zellen«, hatte er befohlen. »Und t gut auf ihn auf.«
Es war kaum anzunehmen, dass ein Verbrecher wie Leicester die Polizei verständigen würde, das war David klar. Aber nachdem Leicester alle zu einer Tasse Kaffee in sein Büro gebeten hatte, fühlte sich auch David wieder besser. Elizabeth saß neben ihm auf der eleganten Ledergarnitur, und Leicester und der Mann, der öfters mit Brade oder Michael angesprochen worden war, nahmen ihnen gegenüber Platz. »Warum haben Sie uns hierher bringen lassen?«, erkundigte sich David schließlich. »Ganz einfach, weil ich vermeiden möchte, dass Sie uns die Polizei auf den Hals hetzen«, erwiderte Leicester. »Natürlich hätte ich Sie auch töten können, aber Brutalitäten liegen mir nicht.« »Verraten können wir Sie doch immer noch.« »Nicht, solange Sie hier sind.« »Hier? Sie meinen in Ihrem Geheimversteck?«, entgegnete David. »Es handelt sich um einen von der Regierung genehmigten Atombunker für die Angestellten einer Firma, an der ich finanziell beteiligt bin«, klärte Leicester ihn auf. »Natürlich habe ich noch einige kleine Veränderungen angebracht.« »Man wird nach uns suchen, und unsere Spur bis hierher verfolgen.« »Kaum, Mr. Knight, denn die Polizei wird mich nie mit Ihrem Verschwinden in Verbindung bringen.« David wurde langsam klar, dass Elizabeth und er die einzigen waren, die Leicester gefährlich werden konnten, aber dass sie nicht mehr lange genug leben würden, um ihn zu verraten.
Als Carol in der vergangenen Nacht Top angerufen und ihm ihren Verdacht mitgeteilt hatte, dass die beiden seltsamen Gäste des Red Lion etwas gegen Elizabeth Masefield im Schilde führten, hatte sie Top in eine schwierige Lage gebracht. Auf der einen Seite war er im Dienst, andererseits wusste er aber, dass die Gegenstände, denen sämtliche strengen Sicherheitsmaßnahmen gegolten
hatten, bereits in London waren. Aus Carols Bericht ging jedoch hervor, dass die beiden Herren vom Innenministerium gar nicht die Überbringer der wichtigen Dokumente waren, sondern dass die andere Seite, wer auch immer das sein mochte, glaubte, David Knight und Elizabeth seien mit der wertvollen Fracht auf dem Weg nach London. Tops erster Gedanke war, die Angelegenheit Dr. Winter zu melden, aber falls Dr. Winter es zugelassen hatte, dass eine Frau das hohe Risiko übernahm - und Top traute ihm das durchaus zu -, dann hielt es Top für besser, auf eigene Faust zu handeln. Nachdem er Winter eine kurze Nachricht geschrieben hatte, holte er seinen Wagen, einen Zodiac, aus der Garage und fuhr in der Hoffnung, David und Elizabeth einholen zu können, in Richtung Truro. Es war nicht nur die Tatsache, dass Winter eine Frau mit der gefährlichen Aufgabe betraut hatte, die Top veranlasste, einzugreifen, sondern vielmehr der Umstand, dass ausgerechnet Elizabeth dazu asehen worden war. Top kannte Elizabeth, solange er denken konnte. Sie hatten zusammen gespielt und waren zusammen in die Dorfschule gegangen, und als sie beide acht Jahre alt gewesen waren, hatte sich die kleine, mollige Carol zu ihnen gesellt, die Top ebenso sehr verehrte, wie er Elizabeth bewunderte. Top hatten sie Hyrwas, den Großen genannt, denn schon damals hatte er alle anderen überragt. Mit zehn Jahren war Elizabeth dann weggezogen, und Top hatte davon geträumt, sie zu retten und aus der ungeliebten Fremde nach Cornwall zurückzubringen. Doch Elizabeth hatte ihnen geschrieben, dass sie sich in ihrer neuen Umgebung wohlfühlte, jedoch Top und Carol vermisste. Später hatte er dann aus den Zeitungen erfahren, dass sie ihren Doktor gemacht hatte, wissenschaftlich arbeitete, und dass ihre Mutter inzwischen gestorben war. Ungefähr vor zehn Monaten hatte Elizabeth Top geschrieben, dass sie in Darwynt arbeiten würde, und vorgeschlagen, dass sich Top ebenfalls um eine Stelle bei der Stiftung bewerben solle. Carol war nie eifersüchtig gewesen. Sie und Top verband ein gutes, fast geschwisterliches Verhältnis, so sah es wenigstens Top, der in seiner romantischen Art nur immer für die für ihn unerreichbare Elizabeth geschwärmt hatte.
Es war ein seltsames Gefühl gewesen, sie nach so vielen Jahren wiederzusehen. Sie hatte sich nicht verändert. Vielleicht war er nicht mehr derselbe? Er hatte beobachtet, wie sie sich in David Knight verliebt hatte, und war merkwürdigerweise nicht eifersüchtig gewesen. Top hoffte, die beiden würden heiraten, denn ihm war klar geworden, dass er Elizabeth gegenüber nur die Bewunderung eines Kindes empfand. Und trotz aller Schwierigkeiten hatte er sich gefreut, dass Carol dieselben freundschaftlichen Gefühle für Elizabeth hatte, und er war sogar noch glücklicher darüber gewesen, dass sie sich ausgerechnet an ihn um Hilfe gewandt hatte. Allerdings hatte er zu dem Zeitpunkt, als er durch Truro fuhr, keine Ahnung, dass George gerade mit dem Abschleppwagen in der Werkstatt verschwunden war. Je länger Top jedoch unterwegs war, desto deutlicher erkannte er die Sinnlosigkeit seines Unternehmens. Die Insassen des roten T.V.R. waren inzwischen sicher bereits gekidnappt oder getötet worden. Der Gedanke jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Tops einziger Anhaltspunkt war, dass Elizabeth ursprünglich um neun Uhr morgens im Ministerium hatte sein wollen. Möglicherweise waren sie zu David Knights Wohnung gefahren, doch die Adresse kannte er nicht. Endlich kam er zu dem Entschluss, nach Darwynt zurückzufahren. Vielleicht konnte ihm Carol weiterhelfen, oder es gelang ihm, aus den beiden Männern im Red Lion herauszuprügeln, was mit Elizabeth iert war. Er kehrte um. Außerhalb von Staines hielt er vor einem Fernfahrercafé an, um zu frühstücken, und während er an einem Fenstertisch Spiegeleier mit Schinken verzehrte, beobachtete er die vorbeifahrenden Autos und überlegte, ob eines dieser Fahrzeuge vielleicht zwei Gefangene transportierte. Vielleicht lagen David und Elizabeth gefesselt unter einer Decke auf der Ladefläche eines Lastwagens oder in dem Möbeltransporter mit der Aufschrift Wondermove, der gerade vorbeikam. Falls David Knight und Elizabeth London nicht erreicht hatten, wurde sicher Dr. Winter verständigt. Und da letzterer bestimmt alles tun würde, um zu vermeiden, dass sein Produkt in die falschen Hände geriet, musste er etwas unternehmen.
Und Knights Zeitung würde sicher eine Suchaktion einleiten. Während Top seine zweite Tasse Kaffee trank, beschloss er, doch nach London zu fahren und bei der Daily Post nachzufragen, ob Knight in London war und wo er wohnte. Später konnte er dann Elizabeth anrufen und sie bitten, Dr. Winter Bescheid zu sagen. Top bezahlte seine Zeche und fuhr weiter. Als er an einem Zeitungsstand vorbeikam, hielt er an und besorgte sich eine Ausgabe der Daily Post und einen Stadtplan von London. Aus der Zeitung erfuhr er dann die Adresse der Redaktion: Bouvarie Street, eine Seitenstraße der Fleet Street. Auf dem Strand, einer Hauptverkehrsader Londons, entdeckte er dann plötzlich wieder den Wondermove-Möbelwagen. Der Transporter trug das Kennzeichen GCV 133 E. Er war aus Cornwall. Sollte das vielleicht die Spur sein, nach der er gesucht hatte? Die Ampel schaltete auf Grün, und der Möbelwagen bog nach rechts ab. Top folgte ihm, denn er wollte ja zur Fleet Street und in die Bouvarie Street. Als der Möbeltransporter dann ebenfalls die Fleet Street hinunterfuhr, war Tops Neugier geweckt. Er blieb hinter dem Wagen. Es war eine schwache Hoffnung, doch die einzige, die Top noch hatte. Falls der Lastwagen vor einem Haus anhalten und Möbel ausladen würde, wollte er zur Redaktion der Daily Post zurückfahren. An der ersten Ampel in der Fleet Street bog der Möbeltransporter nach links in die Chancery Lane und kurz darauf nach rechts in die Einfahrt einer Tiefgarage. Top betätigte ebenfalls den Blinker, doch in diesem Augenblick überholte ihn ein kleiner Fiat, gefolgt von mehreren anderen Wagen, und Top verlor wertvolle Augenblicke. Schließlich lenkte auch Top seinen Zodiac die Einfahrt des Parkhauses hinunter, hielt kurz am Kartenautomaten und fuhr in das Tiefparterre weiter. Die Garage schien voll besetzt, doch Top konnte keinen einzigen Möbelwagen entdecken. Er stellte schließlich sein Auto in einer Parklücke ab und sah sich das Tiefparterre genauer an. In der einen Seitenwand waren eine kleine, verschlossene Tür und ein Lift. Top fuhr mit dem Lift in die obere Etage, suchte nach möglichen Ausgängen, fand jedoch keine. Eines stand für Top fest: Harmlose Möbeltransporter fuhren nicht in Tiefgaragen, um sich dort in Luft aufzulösen. Und plötzlich war Top sicher, dass
sich die beiden Menschen, nach denen er suchte, in diesem Möbelwagen befanden. Eigentlich hätte er sofort die Polizei verständigen müssen, aber Top war ein unverbesserlicher Romantiker.
Siebtes Kapitel
Die Zeit verging David langsam. Walter Leicester hatte sie schon vor einiger Zeit mit Michael Brade allein gelassen, der sofort eine Pistole aus der Tasche zog, sie entsicherte und auf Elizabeth und David richtete. »Ich bin ein guter Schütze«, erklärte Brade warnend. »Wir werden doch sowieso umgebracht, oder?«, entgegnete Elizabeth. »Nein, Mr. Leicester hat nicht die Absicht, Sie beide umzubringen... vorausgesetzt natürlich, Sie machen keine Dummheiten.« »Ich glaube, er sagt die Wahrheit, Liz...«, begann David, als plötzlich ein schrilles Warnsignal ertönte. Michael Brade sah sofort unentschlossen zu dem Fernsehschirm in der Ecke hinüber. Nur Sekunden später kam bereits Leicester mit langen Schritten herein. »Lass die beiden nicht aus den Augen!«, befahl er Brade und schaltete den Monitor ein. Zuerst sahen sie nur eine glatte Betonwand. Dann, als Leicester offensichtlich eine tiefer angebrachte Kamera einschaltete, kamen eine Hand, ein Kopf und breite Schultern ins Bild. Elizabeth hielt den Atem an. David hatte das Gesicht ebenfalls sofort erkannt. Es war Top. Das hochempfindliche Mikrophon übertrug die Geräusche, die entstanden, als Tops Hand vorsichtig über die Betonwand tastete, und dann hörten sie seine Stimme: »Elizabeth?« »Tja, das scheint ein Freund von Ihnen zu sein, Dr. Masefield«, seufzte
Leicester. »Wir sollten ihn lieber hereinbitten.« Leicester bediente einen Hebel und die Betonwand drehte sich um ihre Achse. Dann schaltete Leicester auf die innere Kamera um und wandte sich an Elizabeth: »Ich habe nicht die Absicht, einen meiner Leute auf diesen Riesen anzusetzen, und schlage deshalb vor, dass Sie Ihr interessantes Produkt an ihm ausprobieren, Dr. Masefield.« »Das werde ich nicht tun«, lehnte Elizabeth ab. »Natürlich werden Sie das! Oder möchten Sie, dass ich ihn erschießen lasse? Oder soll ich ihm von einem meiner Männer das Gas verabreichen lassen? Das Risiko, dass er auf diese Weise eine tödliche Dosis bekommt, wäre groß.« »Also gut«, murmelte Elizabeth niedergeschlagen. »Na prima. Aber ich möchte nicht, dass der kostbare Stoff unnötig verschwendet wird. Wieviel brauchen Sie, um ihn für zwölf Stunden auszuschalten?« »Drei Ampullen mit der Aufschrift A.« »Gut. Michael, halte die Pistole an Mr. Knights Schläfe. Ich werde jetzt die Ampullen holen und im Flur warten. Sie kommen dann zu mir, Dr. Masefield. Und falls Sie irgendwelche Dummheiten machen, ist Ihr Freund David ein toter Mann. Und vergessen Sie nicht, dass wir Sie über Monitor genau beobachten und hören können. Alles klar?« »Ja«, antwortete Elizabeth, und Leicester verließ das Zimmer. Über den Monitor sahen sie, wie Top den leeren Möbelwagen untersuchte. Dann kam Leicester zurück und hielt Elizabeth die Tür auf. »Kommen Sie, Dr. Masefield.« Elizabeth lächelte David kurz zu und ging hinaus. Es kam David wie eine Ewigkeit vor, bis er sie aus dem Lift kommen sah und hörte, wie Top erstaunt ausrief: »Miss Elizabeth, was...« »Ich muss das tun, bitte setzen Sie sich«, entgegnete Elizabeth ruhig. Sie murmelte noch etwas, das die anderen nicht verstehen konnten, doch Top begriff
sofort, was der Satz Pan dhyfunes, fekyl dha vos ow cusca... bedeutete. Sie beobachteten, wie sich Top verwirrt auf den Boden setzte und sich gegen das Vorderrad des Möbelwagens lehnte. Dann presste Elizabeth sich ein Taschentuch vors Gesicht, streckte die rechte Hand aus, und im nächsten Augenblick fiel Top vornüber. Elizabeth fing ihn im letzten Moment auf und legte ihn sanft auf den Boden. Sekunden später tauchte Leicester mit Bert und Tubby auf und beugte sich über den bewusstlosen Top. »Sperrt ihn in eine der Zellen«, forderte er Bert und Tubby auf. »Und Sie, Dr. Masefield, kommen mit mir.« Kurz darauf betraten Leicester und Elizabeth wieder das Zimmer. »Schon gut, Michael. Du kannst die Pistole wieder wegnehmen«, sagte Leicester. »Wir vier werden uns jetzt ein wenig unterhalten.« Leicester und Elizabeth setzten sich. »Ich glaube kaum, dass uns dieser unerwartete Besucher einen Strich durch die Rechnung machen kann«, begann Leicester. »Wie hat er die Tiefgarage gefunden?«, wollte Brade wissen. »Er muss dem Möbelwagen gefolgt sein. Allerdings ist mir nicht ganz klar, was er in den vergangenen eineinhalb Stunden gemacht hat. Vermutlich hat er die Garage durchsucht.« »Er könnte die Polizei verständigt haben«, gab Brade zu bedenken. »Nein, sonst hätte es in der Garage schon von Polizisten gewimmelt«, widersprach Leicester und wandte sich dann an Elizabeth: »Dr. Masefield, ich brauche Ihre Hilfe.« Elizabeth schwieg. »Ich habe Ihren Bericht über GMH gelesen und weiß deshalb, dass die AAmpullen einen langen Schlaf und die B-Ampullen eine Art Muskelstarre bewirken. Im Übrigen ist die Abhandlung auch für Laien wie mich durchaus
verständlich geschrieben, und ich habe fast den Eindruck, dass es reine Zeitverschwendung gewesen ist, Sie hierher zu bringen. Allerdings könnten Sie mir vielleicht einige Ratschläge bezüglich der praktischen Anwendung des Gases geben.« »Soll das heißen, dass Sie es erneut anwenden wollen?« »Aber selbstverständlich.« »Warum sollte Elizabeth Ihnen helfen?«, warf David ein. »Sie bringen uns doch sowieso um.« »Sie scheinen sich in die fixe Idee verrannt zu haben, dass ich Sie unbedingt umbringen will.« »Dann sagen Sie uns doch endlich, was Sie mit uns Vorhaben«, regte sich David auf. »Gern. In Cookham liegt meine schnelle Hochseemotorjacht, die ein Angestellter von mir im Augenblick themseabwärts nach London fährt. Heute Nacht werden Sie, Dr. Masefield, und Ihr großer Freund zusammen mit David Knight an Bord gehen. Die Jacht wird Sie in ein anderes Land bringen, in dem sie solange unter strenger Bewachung leben werden, bis es für Sie wieder ungefährlich ist, nach England zurückzukehren. Michael und ich verschwinden ebenfalls und lassen uns in einem schönen Land nieder, das kein Auslieferungsabkommen mit England hat. Allerdings werde ich ganz offiziell emigrieren, damit ich all die Dinge, die mir ans Herz gewachsen sind - wie zum Beispiel meine Bibliothek - mitnehmen kann. Sobald ich in Sicherheit bin, werden Sie wieder frei sein.« »Und was machen Sie mit diesem brutalen Mörder Dickie?« »Tja, ein bedauerlicher Zwischenfall. Er hat den Tod verdient. Ich bin von jeher für die Todesstrafe gewesen. Also, sind Sie bereit, mir zu helfen?« »Das kommt ganz darauf an, was Sie von uns verlangen.« »Ich brauche, wie gesagt, Dr. Masefields Rat, was die praktische Anwendung des Gases betrifft. Natürlich kenne ich die Mengen, die unter Testbedingungen
gebraucht werden, aber ich möchte wissen, wie hoch die Dosis zum Beispiel an der frischen Luft sein muss und aus welcher Entfernung sie wirkt. Es ist vielleicht das Beste, ich lege Ihnen meinen Plan dar, und Sie sagen mir dann, was Sie meinen. Während der eigentlichen Ausführung meines Planes bleiben Sie hier unter Bewachung. Und falls meine Leute nicht mehr zurückkommen oder mir einen Misserfolg melden, werde ich Sie nicht sofort umbringen, sondern Sie hier mit Dickie allein lassen. Dickie hat dann ein Messer, und da er schon einmal Blut geleckt hat, wird er sich sicher gut amüsieren.« Leicester hatte das alles im Plauderton gesagt, doch David und Elizabeth war klar, dass er es ernst meinte. »Denken Sie über meinen Vorschlag nach«, fuhr Leicester fort. »Ich sehe inzwischen mal nach, ob das Mittagessen schon fertig ist. Wir essen ziemlich früh, weil wir heute noch viel Vorhaben.«
George Strong verzehrte allein und nachdenklich sein Mittagessen in der Küche. Walter Leicester hatte ihm noch am Morgen gesagt, dass er auf jeden Fall vermeiden sollte, von Dr. Masefield oder David Knight gesehen zu werden. Leicester behauptet, dass die beiden auf diese Weise glaubten, George sei lediglich der Fahrer des Möbeltransporters gewesen, ihm sei damit der weitere Aufenthalt in England gesichert. Inzwischen hatte George jedoch den Verdacht, dass Walter für diese Vorsichtsmaßnahme noch andere Gründe hatte. »Hallo, George«, begrüßte Leicester ihn, als er in die Küche kam. »Ah, das Mittagessen ist also schon fertig.« »Ja. Die Jungs essen im Zimmer nebenan, und die Portionen für dich und für die Gefangenen stehen noch im Backrohr.« »Ausgezeichnet. Michael soll sie austeilen. Er ist bewaffnet.« »Wer ist eigentlich dieser Bursche namens Smith?«, erkundigte sich George. »Hör zu, George. Wenn du in England bleiben willst, dann solltest du so wenig wie möglich wissen. Es ist sicherer... falls was schief geht.« »Vermutlich hast du recht«, erwiderte George zögernd. »Ich verstehe nur noch
immer nicht, warum du unsere einträgliche Organisation plötzlich aufgeben willst.« »Weil so was nicht ewig gutgehen kann, George. Und ich möchte mein Leben noch in irgendeinem sonnigen Land genießen und es nicht in einem englischen Gefängnis verbringen.« »Ich find’s trotzdem schade«, bedauerte George. »Du hast doch sicher nicht all das viele Geld, das du verdient hast, ausgegeben, oder?« »Nein, natürlich habe ich was auf die hohe Kante gelegt... und meine Jungs auch.« »Gut. Wir werden heute Nachmittag noch zwei Jobs durchführen«, erklärte Leicester. »Durch den ersten beschaffen wir für dich, Michael und die Jungs ’ne Menge Bargeld, und danach holt ihr noch was für mich. Dann machen wir Schluss für heute.« »Und was wird aus Knight und dem Mädchen? Du willst sie doch sicher nicht umbringen, oder?« »Nein, niemand wird sterben, George, außer möglicherweise Dickie...« »Ich bin ein Idiot gewesen, ihn anzuheuern.« »Dich trifft keine Schuld«, wehrte Leicester ab. »Haben deine Männer Kleider zum Wechseln dabei?« »Ja, wir haben jeder eine Reisetasche mit unseren Sachen gepackt. Wir wollten nicht, dass unsere Sonntagsanzüge in Flammen auf gehen.« »Gut. Wenn Michael das Essen an die Gefangenen ausgeteilt hat, macht ihr euch fertig. Wascht euch und zieht saubere Sachen an. Und t vor allem auf, dass ihr keine Ölflecke mehr an den Händen habt. Außerdem macht ihr euch aus den Mullbinden im Erste-Hilfe-Kasten zehn Masken.« Leicester holte einige Teller und Schüsseln aus dem Ofenrohr und stellte sie auf ein Tablett. »Sieht nicht schlecht aus«, murmelte er.
»Ich bin um zwei Uhr zurück.« Damit verschwand Leicester mit dem Tablett aus der Küche.
Als Walter Leicester aus dem Zimmer gegangen war, nahm Michael Brade den Revolver aus der Tasche und zog sich in die hinterste Ecke des Raumes zurück, damit sich Elizabeth und David ungestört unterhalten konnten. Die beiden diskutierten erregt. »Du musst ihm helfen«, drängte David. »Er ist ein Verbrecher. Außerdem kann ich ihm nicht mehr viel sagen. Er hat die Ampullen und die Formeln.« »Aber er kennt sich mit der Dosierung nicht aus«, entgegnete David. »Nimm mal an, er verwendet eine zu hohe...« »Das Gas schadet niemandem.« »Möglich... Aber das ist dann kein Labortest mehr, Elizabeth. Vielleicht nimmt er eine zu geringe Dosis. Glaubst du, er lässt die Opfer am Leben? Du hast gehört, womit er gedroht hat, wenn Top zu früh aufwacht.« »Aber David...« In diesem Moment kam Walter Leicester mit dem Tablett mit dem Mittagessen herein und stellte es auf den Tisch. »Es ist reine Konservenkost«, entschuldigte er sich. »Hoffentlich schmeckt’s Ihnen trotzdem. Michael, bitte bring Dickie und Mr. Smith auch was zu essen. Und nimm deinen Revolver mit.« David und Elizabeth waren erstaunlicherweise hungrig und aßen mit Appetit. Leicester beobachtete sie eine Weile aufmerksam. »Ein Testfall in Ihrem Bericht, Dr. Masefield, den Sie als Zufall bezeichnen - offen gestanden gibt es bei einem Mann wie Philip Winter keinen Zufall - interessiert mich besonders«, begann er schließlich.
»Es war ein Zufall«, versicherte ihm Elizabeth, die sofort wusste, dass Leicester die Sache mit Carol und ihren beiden Tanten meinte. »Niemand konnte voraussehen, dass der Wind drehen würde...« »Sind Sie dabei gewesen?« »N... nein«, musste Elizabeth zugeben. »Aber Dr. Winter hat es Ihnen so erzählt, und Sie haben ihm geglaubt. Ich nehme an, dass Sie sehr erstaunt gewesen sind, als Sie entdeckt haben, dass Sie und Mr. Knight die Formeln und Proben transportiert haben, was?« »Ich hatte davon keine Ahnung, bis Ihre Leute die Sachen bei uns gefunden haben.« »Winter ist ein Fanatiker. Aber kommen wir zur Sache. Aus Ihrem Bericht geht hervor, dass das Gas im Fall von Carol, Annie und Emily Tregarth ungefähr fünfzig Meter hinter Darwynt Castle zerstäubt wurde und noch auf diese Entfernung eine solche Wirkung in dem Haus der alten Damen hatte. Ich habe mir hier die Menge notiert, die vom Gas A dafür verwendet worden ist. Außerdem habe ich einige Testergebnisse vom Typ B und die Situationen aufgeschrieben, für die ich die genaue Dosis des Typs B brauche. Werden Sie mir helfen, Dr. Masefield?« Es entstand gespanntes Schweigen. Davids Hände wurden feucht. »Gut, ich tu’s«, sagte Elizabeth schließlich. »Aber nicht weil ich Angst vor Dickie habe, sondern weil ich unschuldige Menschen schonen möchte.« »Ausgezeichnet«, bemerkte Leicester gelassen. »Aber essen Sie zuerst fertig, Dr. Masefield.« »Ich nehme an, dass Sie mit Hilfe des Gases einige großangelegte Raubüberfälle unternehmen werden«, warf David ein. »Raub würde ich das nicht nennen, denn ich wende keine Gewalt an. Wir begehen nur einfachen Diebstahl, Mr. Knight. Der erste findet in einem Zimmer statt, das kaum größer ist als dieses hier, und in dem sich eine junge Frau aufhält. Ich habe mir die Gasmenge notiert, die dafür vermutlich notwendig ist. Unsere
zweite Aktion zielt auf einen Raum ab, der gut zweimal so groß ist wie der hier und in dem sich wahrscheinlich sieben oder acht Leute aufhalten. Das dritte Zimmer ist dreizehn Meter lang, zehn Meter breit und drei Meter hoch. Aus verschiedenen Gründen dürfte das das schwierigste Unternehmen sein, aber es ist für mich das wichtigste, denn die Beute, wie es so schön heißt, gehört mir allein.« »Es fällt schwer, zu glauben, dass das das erste Verbrechen ist, das Sie planen, Mr. Leicester. Sie scheinen in diesen Dingen sehr viel Erfahrung zu haben.« Walter Leicester lächelte. »So, wirklich? Dr. Masefield, noch etwas Nachtisch? Nein? Gut, dann trinken wir eine Tasse Kaffee, bevor wir an die Beantwortung meiner Fragen gehen.«
In der Redaktion der Daily Post wurde Mac immer nervöser und ungehaltener. Dabei hatte der Tag ganz gut angefangen. David Knight hatte die gute Story in groben Zügen bereits telefonisch durchgegeben, und man nahm an, dass er am späten Vormittag persönlich eintreffen würde. Mac war jedoch nicht sicher, dass er solange mit der Veröffentlichung warten konnte, denn die Konkurrenz würde vielleicht ebenfalls an die Story herankommen. Natürlich konnte er die Kurzfassung drucken lassen, die David dem Nachtredakteur durchs Telefon diktiert hatte, aber sie war an manchen Stellen so dürftig, dass es Mac bei dem Gedanken daran angst und bang wurde. Außerdem enthielt die Geschichte so viel Sprengstoff, dass er brennend gern mit David gesprochen hätte. Gegen halb zehn Uhr rief er im Gasthof Red Lion an und erfuhr, dass David Darwynt bereits um halb zwölf Uhr nachts verlassen hatte. Und nach menschlichem Ermessen hätte er in diesem Fall längst in der Redaktion sein müssen. Macs Stimmungsbarometer sank weiter, als er später mit Dr. Winters Assistenten in Darwynt Castle telefonierte und dieser ihm auf seine diesbezügliche Frage antwortete: »Mr. Knight ist ungefähr um elf Uhr gestern Abend hier weggefahren, um Miss Masefield nach London zu bringen.« Ein Anruf bei Martin Bristow brachte auch nichts Neues. Mac rief erneut bei der
Fairfax-Stiftung an, versuchte diesmal Dr. Winter persönlich zu erreichen, doch dieser war angeblich in einer Konferenz. Es war Macs Pech, dass er ausgerechnet zu dem Zeitpunkt noch einmal im Red Lion anrief, als Carol gerade fasziniert beobachtete, wie die beiden seltsamen Typen von Peters, dem Kollegen Tops, mit vorgehaltener Pistole abgeführt wurden.
Um zwei Uhr ließ Walter Leicester David und Elizabeth mit Michael Brade allein und ging in den Mannschaftsraum hinüber, wo sich George und seine Leute bereits versammelt hatten. Sie trugen alle elegante Anzüge, weiße Hemden und Seidenkrawatten. Leicester musterte jeden einzelnen aufmerksam. Sie waren kaum wiederzuerkennen. »Gut«, lobte er sie schließlich zufrieden. »Hast du die Masken und die Armschlinge, George?« »Hier.« George hob ein Paket hoch. »Ausgezeichnet. Setzt euch. Wenn Tubby zurückkommt, werde ich euch sagen, was ihr zu tun habt.«
Um halb drei rief Martin Bristow bei Mac an. »Ist David schon aufgetaucht?« »Nein, noch nicht.« »Die Sache gefällt mir nicht, Mac. Nachdem die Leute von der Fairfax-Stiftung ihm erlaubt haben, seine Story an die Redaktion weiterzugeben, können sie doch kein Interesse mehr an ihm haben. Aber vielleicht hat ihn jemand anderer gekidnappt. Sie sollten die Polizei verständigen. »Unsinn, die Polizei kümmert sich nicht um vermisste Erwachsene, solange kein Anhaltspunkt für ein Verbrechen besteht... Na, Sie wissen schon. Wenn ich nur endlich diesen Winter ans Telefon bekäme. Er weiß vermutlich, wo das Mädchen ist, und durch sie erreichen wir vielleicht auch David.«
»Ich glaube, David hat sie trotz allem, was sie ihm gestern angetan hat, sehr gern. Seine Pflichten gegenüber seiner Zeitung hätte er freilich auf keinen Fall vergessen. In einem solchen Augenblick würde David nie irgendwo mit ihr Händchenhalten...«
Aber das war genau das, was David unter Michael Brades aufmerksamem Blick tat. Im Mannschaftsraum des Atombunkers war Walter Leicester am Ende seines Vortrags angelangt. »Ihr habt hoffentlich begriffen, dass dieser letzte Job verdammt gefährlich ist.« Leicester räusperte sich. »Das Museum ist Teil eines größeren Gebäudekomplexes, und selbst nach dem Ende der Besuchszeiten besteht die Möglichkeit, dass Leute, die dort arbeiten, plötzlich in den Korridoren auftauchen. Noch Fragen?« »Ja«, meldete sich George. »Ted macht also den ersten Job solo. Dann übernehmen Ted, Bert, Tubby und ich die zweite Aktion. Anschließend kehrt Tubby hierher zurück, so dass für den dritten und letzten Job nur noch wir drei übrigbleiben.« Er deutete auf die Karte, die Leicester auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Wenn zwei von uns die Vitrinen öffnen sollen, während einer am Haupteingang Wache hält, dann frage ich mich, wer diesen Korridor überwachen soll, der hier am Museum vorbeiführt?« »Ursprünglich hatte ich vor, euch Dickie als vierten Mann mitzugeben. Michael könnte euch natürlich helfen, aber er hat in solchen Dingen keine Erfahrung. Was meinst du, George?« »Ich finde, wir sollten’s mit Michael versuchen.« »Also gut.« Walter Leicester sah auf die Uhr. »Jetzt ist es fünf nach halb drei. Zeit zum Aufbruch, Ted. Hast du dein Taschentuch? Ausgezeichnet.« Er öffnete eine Kiste und nahm zwei kleine Ampullen heraus. »Hier! Die mit der Aufschrift B ist für die junge Frau, und die mit dem C zerbrichst du auf deinem Taschentuch, bevor du die Tür aufmachst. Viel Glück.«
Um zwei Uhr fünfundfünfzig sah eine kleine, zierliche Blondine in der
Reinigung an der Fleet Street auf, als ein Kunde hereinkam, der sich gerade die Nase putzte. »Guten Tag«, begann sie und merkte plötzlich, dass sie mit sich selbst sprach... In der folgenden Woche beschuldigte ein Kunde sie, seinen Tweedmantel verwechselt zu haben, und sie kam nie auf die Idee, die beiden Vorfälle miteinander in Verbindung zu bringen. Um drei Uhr fünfundzwanzig schloss der Sicherheitsbeamte der Fleet StreetFiliale der Southern Bank die Tür. Er war erleichtert, denn an Montagnachmittagen befand sich immer besonders viel Bargeld in den Tresoren. Nur vier Kunden standen noch an den Schaltern. Der Mann im Tweedmantel und mit der Armschlinge...
George Strong sah auf die Uhr... drei Uhr siebenunddreißig. Er zog den Tweedmantel straffer über seinen rechten Arm, den er in der Schlinge trug. Hinter ihm würde Tubby die Fleet Street überqueren und allein zu Walter Leicester in den Bunker zurückkehren. Walter war wirklich ein schlauer Fuchs. An den Tweedmantel und die Armschlinge würden sich die Bankangestellten sicher erinnern, und außerdem hätte er das Gas an keinem besseren Platz verstecken können. Sie bogen nach links in die Chancery Lane. Vor dem staatlichen Archiv wartete bereits Michael Brade mit Schirm und Melone. Jetzt sah George auf die Uhr und ging dann nach rechts durch das schmiedeeiserne Tor und den Korridor zum Museum entlang. Eine Viertelstunde später war England um einen Nationalschatz ärmer.
Um Viertel vor vier steckte Walter Leicester die Hand in die Tasche. »Tut mir leid, aber ich muss Sie beide vorerst fesseln, denn ich bin zur Zeit allein.« David und Elizabeth beobachteten, wie er sich eine Maske vors Gesicht hielt, hörten, wie die C-Ampulle zerbrach, und sahen, wie er ihnen die zweite Ampulle hinhielt...
Als auf dem Monitor das Bild eines Mannes vor der beweglichen Betonwand erschien, waren David und Elizabeth bei vollem Bewusstsein, jedoch so kunstvoll an ihre Stühle gefesselt, dass sie sich nicht rühren konnten.
Gegen drei Uhr fünfzig hatte Mac bereits viermal erfolglos mit Darwynt Castle telefoniert, jedoch inzwischen einen Anruf von Martin erhalten, der ihm mitteilte, was er von Carol über die beiden Typen erfahren hatte. Anschließend hatte Mac sämtliche Regierungsstellen angerufen und dort nach David Knight gefragt. Als letztes hatte er mit einem einflussreichen Verbindungsmann im Innenministerium gesprochen und diesem unverblümt gesagt: »Wenn ich bis vier Uhr keine detaillierte Meldung auf dem Tisch habe, bringe ich die Story so, wie sie ist, und als Einleitung werde ich schreiben, dass ein Forschungsinstitut der Regierung in Darwynt einen ahnungslosen Journalisten als Kurier für geheimes Forschungsmaterial missbraucht hat, und dass dieser Mann im Augenblick vermisst wird und vermutlich bereits tot ist.« Seit diesem Gespräch wartete Mac mit Blick auf die Uhr hinter seinem Schreibtisch. Um fünf vor vier läutete das Haustelefon, und er erfuhr von dem Bankraub in der Fleet Street, bei dem eine halbe Million Pfund erbeutet worden war und die Bankangestellten unter Gedächtnisschwäche litten. Gleich darauf rief ein aufgeregter Leser der Daily Post an, der ein riesiges Polizeiaufgebot vor dem Staatsarchiv beobachtet und dabei gehört hatte, die Magna Charta sei gestohlen worden. Auch in diesem Fall schienen sämtliche Museumswärter ausgeschaltet worden zu sein. Einer von Macs Reportern fuhr sofort zum Tatort, um mehr herauszufinden, und Mac stellte zwischen Davids telefonischem Bericht und den Informationen, der Museumswärter sei plötzlich wie zu Stein erstarrt und die Bankkassierer hätten zwanzig Minuten im Stehen geschlafen sofort eine logische Verbindung her. Ganz offensichtlich war ein bestimmtes Produkt in die falschen Hände geraten.
Um drei Uhr achtundfünfzig klingelte dann das Telefon erneut. »Hier ist Sampson-Jones vom Innenministerium«, meldete sich eine Stimme, und Mac war beeindruckt. Sein Ultimatum schien seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. »Mein Kollege hat mir erzählt, was Sie zu drucken beabsichtigen. Ich
lasse mich nicht gern erpressen, aber ich kann Ihre Sorge um Ihren Kollegen Knight verstehen. Nach allem, was ich bisher herausfinden konnte, hat Dr. Winter seine Kompetenzen in mehrfacher Hinsicht überschritten. Wir wären zum Beispiel niemals damit einverstanden gewesen, Mr. Knight irgendwelche Informationen zu geben. Ich nehme an, dass Sie inzwischen mit Mr. Bristow gesprochen haben und deshalb wahrscheinlich genauso viel wissen wie wir.« »Ich habe erfahren, dass Mr. Winter zwei Gäste des Red Lion nach Darwynt Castle hat bringen lassen. Ich möchte natürlich wissen, was die Herren ihm erzählt haben, außerdem, was Sie unternehmen wollen, um David Knight wiederzufinden.« »Dr. Winter verhört die Männer noch. Bis jetzt haben sie ihm nichts Wichtiges gesagt. Und falls sie auspacken sollten, können Sie kaum erwarten, dass ich Ihnen das Wort für Wort mitteile, Mr. Leonhard. Ich bin jedoch gern bereit, Sie wissen zu lassen, wenn etwas davon Mr. Knight betrifft.« »Warum verhört Dr. Winter die beiden Männer? Warum werden sie nicht verhaftet...?« »Wir haben keine Beweise gegen diese Leute in der Hand.« »Hat die Polizei wenigstens eine Suchaktion nach Dr. Masefield und Mr. Knight eingeleitet?« »Nun, wir wissen eigentlich nicht recht, wo wir suchen sollen«, erwiderte der Mann vom Ministerium. »Wir hatten zuerst den Verdacht, dass eine feindliche Macht die Hände mit im Spiel hat, und unser Geheimdienst hat dementsprechende Nachforschungen angestellt. Allerdings hat sich seit heute Morgen einiges geändert.« »Sie spielen vermutlich darauf an, dass feindliche Mächte normalerweise keine englischen Banken ausrauben, stimmt’s?« »Ja, richtig. Ursprünglich hätte Ihr Artikel über dieses Produkt keinen Schaden anrichten können, aber eine Meldung über den Diebstahl dieses Gases würde jetzt eine Panik unter der Bevölkerung auslösen. Falls es bei diesem Banküberfall tatsächlich angewendet wurde, werden keine Banken und Geschäfte mehr öffnen. Damit wäre das Geschäftsleben dieses Landes lahmgelegt. Und das hilft Ihrem Mr. Knight, falls er noch lebt, auch nicht
weiter.« »Ja, Sie haben recht«, musste Mac zögernd zugeben. »Danke für den Anruf, Mr. Sampson-Jones. Ich hoffe, Sie können mir bald was über Dr. Winters Verhör erzählen.«
Im großen Speisezimmer von Walter Leicesters Bunker stapelten sich die Geldscheinbündel auf dem langen Esstisch. Tubby hatte bereits mit dem Zählen begonnen, und die anderen warteten auf ihre letzte Auszahlung. Die dicke Reisetasche, in der sich die Beute aus dem Museumscoup befand, war sicher in einer der Zellen untergebracht, zu der nur Leicester den Schlüssel besaß. »Wir haben einen erfolgreichen Tag hinter uns«, sagte Leicester. »Und an dem Tag, an dem ich offiziell England verlasse, bekommt jeder von euch noch einmal zehntausend Pfund... sozusagen als Schweigegeld. Falls ihr euren Aufenthaltsort ändert, gebt George Bescheid. Ich brauche euch kaum davor zu warnen, plötzlich teure Hä zu kaufen.« Alle lachten. »Wahrscheinlich wird die Polizei diesen Stadtteil gegen sechs Uhr abends geräumt haben. George steht mit einem Kontaktmann in Verbindung, der uns Genaueres wissen lässt. Danach fahrt ihr mit dem Möbelwagen ab, und George setzt euch auf dem Weg nach Chiswick an verschiedenen Stellen ab. Ich glaube kaum, dass ihr in eine Straßensperre geraten werdet, denn die Polizei konzentriert sich sicher auf die Häfen und Flugplätze. Noch irgendwelche Fragen?« Im Nebenzimmer wurden Elizabeth und David wieder von Michael Brade bewacht. Doch Brade war nicht mehr so ruhig und gelassen wie zuvor. Er hatte ihre Fesseln nicht gelöst, und als er sich einen Drink einschenkte, zitterten seine Hände. Während Leicester seine Leute wieder hereingelassen hatte, hatten sich Elizabeth und David kurz unterhalten können: »Wenn er uns Kaffee anbietet«, hatte David geflüstert, »dann trink, soviel du kannst.« Er erinnerte sich zu gut an seine eigenen Erfahrungen mit dem Gas in
Cornwall. Elizabeth hob leicht die Augenbrauen und nickte dann. »Ich habe...«, begann sie, doch dann kam Michael Brade herein. Gegen fünf Uhr abends packte der größere der beiden Männer aus dem Red Lion nach sechsstündigem Verhör in Philip Winters Büro aus. Er berichtete alles, was er und sein Kollege vom ersten Tag in Cornwall bis zur vergangenen Nacht gesehen, gehört und erlebt hatten, verriet den Namen ihres Kontaktmannes und seine Adresse. Winter spielte das Tonband während seines Telefongesprächs mit dem Innenministerium ab und nannte den Leuten dort den Kontaktmann: John G. Smith, Elvaston Place, Kensington, London. »Augenblick, warten Sie«, bat ihn der Beamte am anderen Ende. »Ja, das habe ich mir fast gedacht. John G. Smith ist bei uns kein unbekannter Mann. Unsere Leute haben heute Morgen schon seine Wohnung durchsucht. Er ist gestern Nacht ausgegangen, wollte jedoch in einer Stunde wieder zurück sein. Leider ist er bis heute noch nicht wieder aufgetaucht. Wir haben keinen Grund, seinen Angestellten zu misstrauen. Wir müssen ihn finden. Versuchen Sie noch mehr aus den beiden Herren rauszubekommen. Ich halte die Leitung für Sie frei.« »Ist gut, ich tue mein Bestes. Vielleicht können Sie den Mann später hier abholen. Er hat möglicherweise noch mehr Informationen für Sie... und braucht möglicherweise einen Arzt. Und zwar in London!« »Haben Sie was Neues ausprobiert?« »Ja«, erwiderte Winter knapp, legte auf und fuhr mit dem Verhör fort. Der große, hagere Gast aus dem Red Lion war auch weiterhin sehr redselig, aber sein einziger Kontaktmann war Smith gewesen. Er hatte zwar von Stephen Crampton gewusst und geahnt, dass dieser jemand anderem Bericht erstattete, doch er hatte keine Ahnung, wer das war.
Um Viertel nach fünf erhielt Mac einen Anruf von Mr. Sampson- Jones, der ihm mitteilte, dass Winter den Namen des Kontaktmannes der Männer erfahren hatte.
»Der Mann ist bei uns bekannt. Er wird allerdings seit gestern Abend vermisst. Ich fürchte, wir sind genau wieder dort, wo wir angefangen haben.«
Für David vergingen die Minuten wie Stunden. Leicester hatte sich nur einmal kurz blicken lassen, und als Elizabeth und David über Durst geklagt hatten, hatte Brade ihnen lediglich ein Glas Wasser gebracht. Brade hatte sich inzwischen einen Whisky nach dem anderen eingeschenkt und ständig auf die Uhr gesehen. Schließlich kam Leicester um zwanzig nach fünf zurück. Sein Blick schweifte vom Glas in Brades Hand zu der halbleeren Whiskyflasche. »Ich glaube, wir können jetzt alle einen Kaffee vertragen«, verkündete er schließlich.
Martin Bristow beobachtete seit dem Vormittag Darwynt Castle von dem Zimmer im ersten Stock des Red Lion aus, das vorher der großgewachsene sogenannte Historiker bewohnt hatte. Gelegentlich brachte ihm Carol einen Drink aus der Bar, und im Verlauf eines Gesprächs, das er dabei mit Carol führte, erzählte ihm diese die Sache mit Top. Martin rannte sofort zum Telefon und rief Mac an. »Ich kenne den Mann«, erklärte er. »Er ist ein Riese... mindestens einsfünfundneunzig groß. Jeder, der ihn mal gesehen hat, wird sich an ihn erinnern... ich habe das Kennzeichen seines Wagens...«
Um Viertel vor fünf rief George Strong seinen Kontaktmann an und erfuhr, dass die Polizeiaktionen im Stadtbereich eingestellt worden waren, da die Polizei glaube, die Diebe seien im abendlichen Berufsverkehr entkommen. »Wir sollen jetzt nur noch nach einem einsfünfundneunzig großen Mann und seinem Wagen Ausschau halten. Der Bursche wird angeblich vermisst.« »Daran hätte ich denken müssen«, sagte Leicester. »Vielleicht ist es ganz gut,
dass ich mich aus dem Geschäft zurückziehe. Ich werde sofort nachsehen, ob der Wagen in der Garage steht.« David und Elizabeth beobachteten auf dem Monitor in ihrem Gefängnis, wie Leicester durch die Wandtür hinausging und mit dem Zodiac zurückkam. Leicester hatte ihnen inzwischen die Fesseln abgenommen. »Das ist, glaube ich, Tops Auto«, flüsterte Elizabeth, und David nickte. David ließ den Monitor nicht aus den Augen. Leicester war verschwunden, aber dafür tauchten die Männer auf, die im Möbelwagen gewesen waren. Sie trugen wieder ihre Overalls wie am Anfang und hatten Reisetaschen dabei. Im nächsten Moment öffnete sich die Betonwand und der Wondermove Möbeltransporter fuhr hinaus. Danach wurde es auf dem Monitor schwarz, und Walter Leicester kam ins Zimmer. Er setzte sich und nippte an seiner Tasse Kaffee. »Leider kalt geworden«, murmelte er. »Ich mach’ frischen.« Das bedeutete, dass David und Elizabeth je zwei Tassen, Michael Brade eine und Walter Leicester höchstens eine halbe Tasse getrunken hatten. Bei ihrer nächsten Tasse fragte David: »Wie lange bleiben wir noch hier?« »Hier? Ungefähr eine Stunde«, antwortete Leicester. David überlegte, wie groß ihre Fluchtchancen waren. Brade wurde durch den Kaffee schnell wieder nüchtern und damit gefährlich. Auf der anderen Seite waren Leicesters Leute bereits abgefahren, so dass David und Elizabeth es nur noch mit Leicester selbst, Brade und Dickie aufnehmen mussten, der allerdings genau wie ein gewisser Mr. Smith und Top irgendwo in eine Zelle eingesperrt worden war. »Sie machen einen sehr nachdenklichen Eindruck, Mr. Knight«, sagte Leicester. »Wirklich? Ich habe mir gerade den Kopf über diesen Mr. Smith zerbrochen.«
Leicester hob erstaunt die Augenbrauen. »Ah ja, Mr. Smith. Gut, dass Sie mich daran erinnern.« Er schenkte eine Tasse Kaffee ein, nahm sie und verschwand damit aus dem Zimmer. David wartete und schätzte in Gedanken die Zeit ab, die Leicester brauchen würde, um den Korridor entlangzugehen und Smiths Zellentür zu öffnen. Elizabeth sah ihn an, und er nickte leicht. Michael Brade saß ihm jetzt, mit dem Revolver in der Hand, gegenüber. »Kann ich mir noch eine Tasse Kaffee holen?«, fragte Elizabeth Brade. »Ja«, antwortete Brade und schob seinen Stuhl zurück, so dass er David und Elizabeth gleichzeitig im Auge behalten konnte. Elizabeth ging zur Kaffeemaschine hinüber, schenkte sich eine Tasse ein und drehte sich dann um. Als sie an Brade vorbeikam, schien sie zu stolpern und schüttete Brade den heißen Kaffee ins Gesicht. David ergriff blitzschnell den schweren Aschenbecher auf dem Tisch und schlug Brade damit nieder. »Mach die Tür auf, Liz, vielleicht kann ich den Lift öffnen.« »Die Tür ist zugeschlossen!«, rief Liz und rüttelte verzweifelt an der Klinke. Im nächsten Augenblick wurde die Tür jedoch aufgerissen, und Walter Leicester stand auf der Schwelle und hielt die Pistole genau auf Elizabeth gerichtet. Zu spät dachte David an Brades Revolver. »Keine falsche Bewegung, Mr. Knight, sonst muss ich Ihre hübsche Freundin erschießen.« Ohne die Pistole abzulegen, fesselte Leicester Elizabeth die Hände auf den Rücken. »Setzen Sie sich!«, befahl er ihr. »Und Sie bleiben, wo Sie sind, Mr. Knight!« »Ja, das ist wirklich sehr dumm von Ihnen gewesen«, seufzte Leicester, nachdem er sie beide wieder gefesselt hatte, und beugte sich dann über den stöhnenden Brade. »Wie fühlst du dich?«
Brade kam schwankend auf die Beine. Erwischte sich den Kaffee vom Gesicht und hob seinen Revolver auf. »Gut genug, um das Ding beim geringsten Anlass abzudrücken«, murmelte er.
»Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, begann Leicester, als er dann zum zweiten Mal Smiths Zelle betrat. »Wir sollten uns jetzt in Ruhe unterhalten.« »Was mich besonders ärgert«, erklärte Smith, »ist die Tatsache, dass ich gespürt habe, dass Sie der schwache Punkt in meinem Plan sind, und ich trotzdem nicht die entsprechenden Vorsichtsmaßregeln getroffen habe.« »Kommen wir zur Sache, Smith«, entgegnete Leicester ungerührt. »Ich habe die Proben bereits für einige Unternehmungen benutzt, aber ich besitze natürlich auch die Formeln, und an denen sind Sie doch hauptsächlich interessiert, oder?« »Mit Unternehmungen meinen Sie vermutlich großangelegte Verbrechen.« »Richtig. Und das Zeug hat sich als verdammt wirksam erwiesen. Vielleicht sollte ich einen höheren Preis verlangen.« »Morgen machen Ihre sogenannten Unternehmungen Schlagzeilen, mein Lieber. Es wird zu einem Skandal kommen. Und das wird unseren Freunden nicht gefallen.« »Sie haben doch sicher noch andere Käufer an der Hand.« »Unglücklicherweise nicht«, entgegnete Smith. »Sie sind meine einzigen Freunde.« »Soll das heißen, dass Sie gar kein unabhängiger Agent sind?« Leicester war ehrlich überrascht. »Leider bin ich das wirklich nicht.« »Das ist tatsächlich sehr bedauerlich. Wären Sie ein normaler Geschäftsmann wie ich, der mit Informationen handelt, hätte ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen können, aber da Sie sich ideologisch gebunden haben, ist Ihnen alles
zuzutrauen. Warum haben Sie sich überhaupt verraten?« Smith seufzte. »Das ist jetzt sowieso nicht mehr wichtig«, erklärte er. »Ich fürchte, dass ich in jedem Falle nicht mehr lange zu leben habe...«
Um sieben Uhr abends ertönte aus dem Monitor ein warnender Summton, und im nächsten Moment erschien das Bild von drei Polizisten auf dem Bildschirm. David und Elizabeth atmeten auf, »Keine Spur von dem Zodiac«, sagte der eine. »Der Bursche ist vermutlich längst über alle Berge... falls er überhaupt je hier war.« »Diese Fiat-Fahrerin hat uns aber ’ne ganz gute Beschreibung geben können. Sie hat ihn schließlich vor der Tiefgarage überholt und gleich nach den Sechsuhrnachrichten angerufen. Tja, hier ist jedenfalls nichts los... Machen wir Meldung.« Brade hatte instinktiv nach Leicester Ausschau gehalten, als der Warnton ertönte, denn Leicester konnte ihn überall im Bunker hören. Doch Leicester kam nicht. Brade fiel plötzlich auf, dass sie ihn nicht mehr gesehen hatten, seitdem er in Smiths Zelle gegangen war.
Seit dem Telefongespräch mit Mac hatte Martin Bristow nur die Ankunft eines großen Polizeiwagens im Schloss Darwynt beobachten können, der kurz darauf mit einem Mann in Handschellen auf dem Rücksitz wieder abgefahren war. Martin hatte vor dem Gasthof gestanden und den kleineren der beiden Stammgäste des Red Lion deutlich erkannt. Um sieben Uhr zehn war dann ein Krankenwagen ohne Licht und Sirene durch das Schlosstor gefahren. Als der Krankenwagen wieder aus dem Schlosspark auf die Straße bog, stand Martin vor dem Red Lion. Die Ambulanz fuhr in Richtung Falmouth davon, doch den Patienten konnte Martin nicht erkennen. Im Krankenwagen lag der große, hagere Historiker und sprach unaufhörlich von
seiner Arbeit und seinem Leben. Neben ihm saß ein Wärter in Uniform. Das Tonband lief, doch der Wärter dachte an eine ähnliche Fahrt zur Radcliffe-Klinik in Oxford. Der Patient war ein junger Labortechniker gewesen, der sich freiwillig dazu bereit erklärt hatte, Dr. Winters Wahrheitsdroge zu testen. »Schwein«, murmelte der Wärter. Der Historiker redete unaufhörlich weiter, schrie dann plötzlich gellend auf und war im nächsten Augenblick tot. »Armer Kerl«, murmelte der Pfleger und zog eine Decke über das schrecklich verzerrte Gesicht des toten Spions.
Achtes Kapitel
Um sieben Uhr fünfzehn kam zu Mac ein völlig unerwarteter Besucher in die Redaktion. Er hatte seinen Ohren nicht getraut, als ihm der Portier telefonisch mitgeteilt hatte, dass der Duke of Darwynt ihn sprechen wolle. »Schicken Sie ihn rauf«, hatte Mac den Portier erregt aufgefordert. Der Herzog konnte ihm vielleicht wertvolle Informationen liefern, denn schließlich war sein ehemaliges Schloss der Schauplatz des ganzen Geschehens gewesen; und der unglückliche Stephen Crampton war sein Stiefsohn. »Mr. Maherson, Sie wundern sich sicher, warum ich zu Ihnen komme«, begann der Herzog und schüttelte Mac die Hand. »Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, und deshalb möchte ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich suche meine Tochter.« »Ihre Tochter?« Der Herzog setzte sich in den Sessel vor Macs Schreibtisch. »Ja, und zwar meine Tochter Elizabeth. Sie hat mir von diesem David Knight erzählt, und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Aus den Leuten im Schloss ist ja nichts rauszukriegen.« »Dr. Masefield ist Ihre Tochter? Ich hatte ja keine Ahnung. Na, so ein Zufall...« »Nein, nein, Liz kannte das Schloss und hat gedacht, dass die Stiftung dort am besten untergebracht ist«, entgegnete der Herzog. »Liz ist ein kluges Mädchen. Ich dachte immer, sie sei ihrer Mutter ähnlich, aber Gott sei Dank habe ich mich getäuscht. Ihre Mutter war meine erste Frau. Jetzt bringe ich sie allerdings schon mit den anderen durcheinander. Das ist vermutlich das Alter... Wo war ich stehengeblieben?« »Bei Ihrer Tochter.« »Ja. Ich hatte sie seit der Scheidung von ihrer Mutter nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihr gehört, bis Liz mir im Dezember wegen Darwynt
Castle geschrieben hat. Als sie dann heute Morgen nicht anrief... tja, ich möchte sie eben nicht wieder verlieren. Natürlich habe ich versucht, diesen Knight zu erreichen, aber als Ihre Leute so merkwürdige Ausflüchte am Telefon gemacht haben, habe ich mich gleich in den nächsten Zug nach London gesetzt.« Der Herzog lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Mac erklärte ihm in großen Zügen, was iert war. »Diese verdammten Kommunisten«, schimpfte der Herzog, als Mac geendet hatte. Da jede Diskussion mit dem alten Herzog zwecklos schien, ging Mac nicht weiter darauf ein. »Bleiben Sie heute Nacht in London?«, fragte er stattdessen. »Ja, in meinem Stammhotel, wie üblich.« »Wenn Sie mir die Adresse sagen, rufe ich Sie an, sobald ich was Neues weiß.« »Nein«, wehrte der Herzog ab. »Habe jetzt keine Lust, in den alten Kasten zurückzugehen. Kann ich nicht hier irgendwo warten?«
Um halb acht Uhr beobachteten David und Elizabeth auf dem Monitor, wie Leicester das Versteck verließ und kurz darauf mit einem kleinen blauen Lieferwagen durch die Öffnung in der Betonwand zurückfuhr. Auf dem Lieferwagen standen in großen Buchstaben Name und Adresse einer Fernsehreparaturwerkstatt. Nur wenige Minuten später betrat Leicester wieder das Zimmer. »Hast du die Beamten gesehen, die die Garage durchsucht haben?«, erkundigte sich Brade. »Ja... und ich habe sie auch gehört. Wie fühlst du dich, Michael?« »Nicht schlecht. Allerdings könnte ich einen Drink gebrauchen.« »Gute Idee. Ich mache uns noch ’ne Kanne Kaffee. Dann solltest du dich
reisefertig machen. Wir fahren kurz nach acht. Im Eisschrank liegen noch ein paar Sandwiches. Hol sie bitte.« Brade kam kurz darauf mit vier in Zellophan verpackten Päckchen wieder und legte sie auf den Tisch. »Ich binde euch jetzt beide los... aber bitte keine Dummheiten mehr. Vergesst nicht, dass wir noch euren Freund gefangen halten. Wenn es euch also gelingen sollte, einen von uns zu überwältigen, kann der andere ihn noch umbringen.« David und Elizabeth nickten. David hoffte auf eine günstige Gelegenheit im Lieferwagen, denn er vermutete, dass das ihr nächstes Transportmittel sein würde. Und obwohl David gern guten Kaffee trank, und bei Leicester gab es nur guten Kaffee, wurde ihm bei seiner fünften Tasse beinahe übel. Michael Brade trank nur wenige Schlucke und ging dann hinaus, um sich fertig zu machen. »Etwas möchte ich Sie noch fragen«, begann Elizabeth plötzlich. Als Leicester nickte, fuhr sie fort: »Stephen Crampton ist doch Ihr Mann gewesen, oder? Ist es Zufall gewesen, dass Stephen so hohe Spielschulden hatte?« »Nicht ganz. Wir haben ihn jahrelang dazu ermuntert, hohe Einsätze zu wagen.« »Jahrelang?« wiederholte David verdutzt. »Dann muss jemand hellseherische Kräfte gehabt haben, denn vor Jahren ist Darwynt Castle noch ein völlig uninteressantes Schloss gewesen.« »Es waren weniger hellseherische Kräfte als Umsicht, mein Lieber. Der Stiefsohn eines Herzogs kann immer mal nützlich werden, besonders wenn die einzige legale Tochter des Herzogs in der Forschung tätig ist.« »Die Tochter des Herzogs...«, begann David. Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. Die Vertrautheit zwischen Carol und Elizabeth und das Haus in Porthieven, das ihr Vater ihr geschenkt hatte, fielen ihm wieder ein. Er wandte sich mit vorwurfsvoller Miene an Elizabeth: »Du?«
»Ja, ich. Ich hätte dir natürlich alles erzählt...« »Reizend«, bemerkte Leicester. »Das klingt fast wie einer dieser Küchenromane, die in meiner Jugend so beliebt gewesen sind.« »Sie haben also Crampton umgebracht?«, sagte Elizabeth zu ihm. »Nein, mit Mord mache ich mir die Finger nicht schmutzig. Ich habe die Wahrheit in diesem Fall auch erst vor kurzem erfahren. Aber es ist eine Ironie des Schicksals, dass, falls Sie mir entkommen und ich gefasst werde, man mir für meine kleinen Unternehmungen von heute dreißig Jahre aufbrummen würde, während ich für Ihre Ermordung nur fünfzehn bis zwanzig Jahre kriegen würde. Das ermutigt einen kaum, menschliches Leben zu schonen, was?«
»Fünf nach acht«, sagte Walter Leicester. »Zeit zum Aufbruch.« David sah Elizabeth an. Sie hatte sich im Badezimmer die Haare gekämmt und Lippenstift aufgelegt und wirkte jetzt so ruhig und gelassen, als sei sie zum Abendessen eingeladen. »Ihr großer Freund, Dr. Masefield, ist leider sehr schwer«, fuhr Leicester fort. »Mr. Knight, ich muss Sie bitten, Michael zu helfen. Ich bewache Dr. Masefield... und vergessen Sie nicht, dass ich bewaffnet bin.« Als sie auf den Gang traten, entdeckte David vor dem Lift einen schwarzen Aktenkoffer und einen großen braunen Lederkoffer. Es handelte sich offensichtlich um Michael Brades Gepäck, denn Leicester hatte ja behauptet, er wolle vorerst noch in London bleiben. Brade öffnete die Tür zu Tops Zelle. Top lag lang ausgestreckt auf seiner Pritsche und schien friedlich zu schlafen. Er war nicht gefesselt. Sie hoben ihn hoch und trugen ihn zu zweit zum Lift, wo Leicester bereits mit Elizabeth und Brades Gepäck wartete. Kurz darauf hielt der Lift ein Stockwerk tiefer, und Brade und David schleppten Top keuchend zu dem blauen Lieferwagen und legten ihn auf die Ladefläche. »Dein Aktenkoffer, Michael«, sagte Leicester.
»Danke«, erwiderte Brade. »Was ist das für ein Koffer? Du hast doch nicht...« »Doch, ich habe. Ich konnte es unmöglich zurücklassen. Es könnte ja sein, dass ein Feuer ausbricht...« »Oh, Gott! Wenn man uns anhält...« »Wenn wir angehalten und durchsucht werden, wandern wir sowieso für mindestens zehn Jahre ins Kittchen«, unterbrach Leicester ihn. »Was ist in dem Koffer?«, fragte David. Leicester lächelte geheimnisvoll. »Ich werd’s Ihnen zeigen«, antwortete er dann kurzentschlossen. »Vielleicht ist es Ihre letzte Chance, noch mal einen Blick darauf zu werfen.« Leicester legte den Koffer vorsichtig auf den Betonboden, öffnete ihn und zog ein weißes Tuch zurück. Der Koffer enthielt zwei dicke, schwere, in weißes Leder gebundene alte Bücher. »Mein Gott«, murmelte David. »Das Domesday-Book.« Leicester nickte und machte den Koffer hastig wieder zu. Brade hatte die ganze Zeit über seinen Revolver auf David und Elizabeth gerichtet gehabt. »Ich hätte noch gern die Tudor-Ausgabe gehabt, denn sie ist noch schöner als diese hier, aber dazu fehlte uns die Zeit. Falls sie mal wieder das Museum des Staatsarchivs besuchen sollten, wird Ihnen auffallen, dass diese nämlich in einer anderen Vitrine liegt.« »Aber Sie können doch nicht das Domesday-Book, das englische Reichsgrundbuch, das die Nation seit tausend Jahren besitzt, einfach außer Landes schaffen. Was wollen Sie denn damit anfangen?« »Ich werde gut darauf aufen, und nach meinem Tod geht es wieder nach England zurück.« Leicester schob den Koffer in den Lieferwagen. »Michael wird fahren, während ich mit euch auf der Ladefläche Platz nehme... aber zuerst...«
Er zog eine Maske aus der Tasche, zerbrach eine Kapsel darauf und zog die Maske dann über seine untere Gesichtshälfte. »Michael, auf die beiden auf, bis ich im Laderaum bin. Gut. Ich setze mich auf den Bretterboden genau hinter der Trennwand. Dr. Masefield, Sie nehmen rechts neben mir Platz, und Mr. Knight, Sie kommen auf meine linke Seite. Schieben Sie Ihren großen Freund etwas weiter nach rechts. Ausgezeichnet. Michael, mach jetzt bitte die Tür zu. Ich halte eine A-Ampulle in der Hand... das ist, falls Sie es inzwischen vergessen haben sollten, Mr. Knight, der Wirkstoff ohne Muskelstarre.« »Das dachte ich mir«, bemerkte Elizabeth. »Die anderen Ampullen haben Sie vermutlich bereits aufgebraucht. Was haben Sie mit der Formel vor?« Durch das Fenster in der Trennwand konnten sie beobachten, wie Michael in das Führerhaus des Lieferwagens stieg und sich hinter das Steuer setzte. Als er den Motor anließ, schwang die Betonwand zurück. Offensichtlich funktionierte die Vorrichtung auch mit einer Zeitautomatik. Der Lieferwagen rollte durch die Öffnung in die Tiefgarage hinüber, und die Wand schloss sich wieder. »Tja, die Formel, die Formel ist an einem sicheren Ort«, nahm Leicester das Gespräch wieder auf. »Und wenn ich mich ins Ausland zurückziehe, werde ich sie mitnehmen. Sie könnte mir noch nützlich werden.« »Sie wollen sie natürlich an einen ausländischen Geheimdienst verkaufen, oder?« »Vielleicht. Warum nicht?« David hörte jedoch nur mit halbem Ohr auf das, was Leicester sagte. »Ich halte dieses Gas trotz aller gegenteiligen Behauptungen für eine verheerende Erfindung«, sagte er laut. »David, wie kannst du so etwas behaupten«, entgegnete Elizabeth. »Du weißt, wie schrecklich die Wirkung von Tränengas sein kann. Unser Produkt ist dagegen völlig harmlos.« »Aber die Leute merken, dass Tränengas gegen sie eingesetzt wird, und verlieren nicht einfach ihr Bewusstsein.«
»In der Narkose ist man auch ohne Bewusstsein«, konterte Elizabeth. »Für einen Chirurgen ist der Mensch in Narkose nur ein interessanter medizinischer Fall.« »Ist das ein Vorwurf gegen die Mediziner?«, erkundigte sich Leicester, dem das Gespräch Spaß zu machen schien. »Nein...«, begann David und verlagerte sein Gewicht, weil sein rechter Fuß eingeschlafen war. »Mr. Knight, geben Sie schon so schnell auf?« »Nein, ich habe nur nachgedacht.« David dachte tatsächlich angestrengt nach, denn als er zuvor seinen eingeschlafenen Fuß massiert hatte, hatte er automatisch einen Blick auf Top geworfen, dessen Kopf auf der Höhe von Elizabeth und Leicester lag, und der mit den Füßen beinahe an der Laderampe anstieß. Und dabei hatte David gemerkt, dass sich Tops Hände mehrmals deutlich zu Fäusten geballt hatten. Er musste also hellwach sein.
George Strong fuhr den Wondermove-Möbelwagen in die Garage in Chiswick, machte das Tor sorgfältig zu und ging dann in seine Wohnung. Dort zog er die Vorhänge in seinem Schlafzimmer vor, machte das Licht an, legte das Geld aus dem Koffer in den Safe, zog sich aus und räumte seine Kleider sorgfältig weg. Das Bett lockte ihn, denn er hatte seit sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen, und am folgenden Tag musste er einige Stunden harte Arbeit auf den Möbelwagen verwenden. Mit einem Seufzer wandte sich George jedoch ab und zog sich an. Er musste noch einige Lokalbesuche machen, mit alten Kumpeln reden und Puppen aufreißen, denn Leicester hatte sie eindringlich gebeten, sich absolut normal zu verhalten. George würde Walter Leicester und die anderen vermissen. Die Zusammenarbeit war immer erfreulich und sehr einträglich gewesen. Vielleicht konnte er sich ab und zu mit Bert, Ted und Tubby treffen, wenn Walter Leicester erst einmal außer Landes war, und möglicherweise wartete der eine oder andere Job auf sie...
Top kannte die Wirkung von GMH, und als er Elizabeth mit ausgestreckter Hand auf sich zukommen gesehen hatte, hatte er sofort gewusst, was sie mit ihm vorhatte und dass sie es nicht freiwillig tat. Er hatte ihren geflüsterten Satz verstanden und inständig gehofft, dass niemand außer ihnen den Dialekt Cornwalls beherrschte. Ins Englische übersetzt hatte sie gesagt: Wenn du aufwachst, dann tu bitte so; als würdest du noch schlafen. Schließlich war er wieder zu sich gekommen, als man ihn in den Lieferwagen gelegt hatte, und während der wenigen Minuten, die er dort allein verbracht hatte, hatte er sich gründlich umgesehen. Als die anderen dann zugestiegen waren, hatte er sich schlafend gestellt und gewartet. Es war leicht gewesen, David Knight darauf aufmerksam zu machen, dass er wach war, doch dicht neben Elizabeth saß der Mann, den sie Leicester nannten, und es schien wesentlich schwieriger zu sein, Elizabeth ein Zeichen zu geben. Kurz darauf half ihm unfreiwilligerweise der Lahrer des Lastwagens, indem er scharf auf die Bremse trat. Top ließ seinen Kopf zur Seite rollen und presste ihn für den Bruchteil einer Sekunde fest gegen ihr Bein. »Was wollten Sie eigentlich gerade sagen, Mr. Knight?«, fragte Leicester. »Ah, ja... Natürlich habe ich nichts gegen die Mediziner. Ich meine nur, dass ihr Interesse am bewusstlosen Menschen ein rein medizinisches ist.« »Das stimmt nicht, David«, widersprach Elizabeth ihm. »Du kennst doch das alte Sprichwort: Hyrwas, sett warnodho pan lavarof an ger Kernewek.« »Ist das Walisisch?« »Nein, diesen Dialekt spricht man in Cornwall.« Der Angriff kam plötzlich und war bereits nach wenigen Sekunden vorbei, denn Elizabeth hatte Top praktisch aufgefordert, Leicester auf das Stichwort Cornwall
hin zu attackieren. Tops große Hände schlossen sich augenblicklich um Leicesters Kehle. David sah, wie sich Leicesters Hand fester um die Ampulle schloss, und holte tief Luft. Elizabeth tat dasselbe, riss Leicester die Maske vom Gesicht und presste sie über Tops Nase und Mund, als das Glas der Ampulle brach. Leicester fiel vornüber, dann sank auch Elizabeth in sich zusammen, die erschöpft nach Luft geschnappt hatte. David beobachtete noch, wie sich Top Leicesters Maske umband, dann musste auch er Luft holen und wurde bewusstlos.
David wusste nicht, ob er nur Sekunden oder mehrere Stunden geschlafen hatte, als er wieder aufwachte, doch er hoffte, dass sich das Kaffeetrinken gelohnt hatte. Er richtete sich vorsichtig auf. Leicester lag noch bewegungslos auf der Ladefläche des Lastwagens, und Top hielt Leicesters Pistole in der Hand. Elizabeth bewegte sich bereits ebenfalls. »Ihr seid nur ungefähr drei Minuten bewusstlos gewesen«, erklärte Top. »Elizabeth, könntest du die Waffe halten, während ich mich um den Fahrer kümmere.« Top klopfte gegen die Fensterscheibe in der Trennwand zum Führerhaus, und Michael fuhr langsam rechts ’ran, bevor er das Fenster zurückschob. Top steckte sofort seine langen Arme durch die Öffnung, und kurz darauf hatte Michael Brade das Bewusstsein verloren. Sie beschlossen, dass Elizabeth zum nächsten Telefon laufen und die Polizei benachrichtigen sollte, während Top Brade aus dem Führerhaus holte, um ihn zu Leicester in den Laderaum zu bringen, der inzwischen von David bewacht wurde. David hielt die Pistole auf Leicester gerichtet. Er hatte kaum Erfahrung mit Schusswaffen, und deshalb reagierte er zu langsam, als Leicester, der offensichtlich früher als erwartet aufgewacht war, ihm mit einem Fußtritt die Pistole aus der Hand schlug. Als nächstes traf ein Fausthieb David genau unter das Kinn. Als David nach Top schrie, war Leicester mit dem Koffer verschwunden. »Leicester ist weg!«, brüllte David und hörte noch im selben Augenblick, dass
Top dem Flüchtigen nachrannte. David griff nach der Pistole, ging um den Lieferwagen herum zum Führerhaus, wo Michael Brades lebloser Oberkörper aus der offenen Tür hing. Der Lieferwagen hatte vor einer langgestreckten, verlassen wirkenden Chemiefabrik angehalten, und es hatte einige Zeit gedauert, bis Elizabeth in einer Wohnung über einem kleinen Laden Licht entdeckt hatte. Der Ladenbesitzer hatte Telefon, und Elizabeth konnte die Polizei verständigen. Anschließend bestand der ältere Mann jedoch darauf, sie zum Lieferwagen zurückzubegleiten, was sie erneut kostbare Minuten kostete. »Leicester ist mit dem Koffer auf und davon«, begrüßte David sie. »Top ist hinterher.« Der Ladenbesitzer betrachtete die Szene fasziniert. Kurz darauf rasten dann mehrere Streifenwagen mit Sirenengeheul die Straße entlang und hielten mit quietschenden Reifen an. Michael Brade wurde sofort in einen Krankenwagen geladen, und nachdem dieser abgefahren war, tauchte plötzlich ein riesengroßer Mann, mit einem schweren Koffer in der Hand, aus einer Seitenstraße auf und gesellte sich zu der Gruppe, die um den Lieferwagen herumstand. Was für eine Nacht, dachte der alte Ladenbesitzer. Sie würde ihm auf Jahre hinaus Gesprächsstoff liefern...
»...so, und Sie wissen also wirklich nicht, wo Leicesters Boot auf Sie warten sollte?« »Nein, keine Ahnung. Aber Michael Brade weiß vielleicht Bescheid.« »Der ist noch nicht vernehmungsfähig. Ihr Freund hat hart zugepackt.« Das Funkgerät im Streifenwagen knackte. »...Flüchtig ist Walter, Leicester, der zuletzt in der Nähe einer Chemiefabrik im Südwesten Londons gesehen wurde. Er versucht vermutlich, zur Themse zu kommen und an Bord seiner Motorjacht zu gehen. Seine Beschreibung ist wie folgt...« »Sergeant«, wandte sich Elizabeth an den Polizisten. »Könnte einer Ihrer Leute Mr. Sampson-Jones vom Innenministerium anrufen? Er sollte dringend über alles unterrichtet werden.«
In diesem Augenblick tauchte dann Top mit dem Koffer, aber ohne Leicester, wieder auf. »Ich hätte ihn fast erwischt, aber dann hat er mir blitzschnell den Koffer zwischen die Beine geschleudert, und ich bin gefallen. Bis ich mich wieder aufgerappelt hatte, war er verschwunden.« »Wir kriegen ihn schon noch«, versicherte ihm einer der Polizisten zuversichtlich.
Eine halbe Stunde später saßen Elizabeth und David im Büro eines Superintendenten im Polizeipräsidium. Auf dem Schreibtisch des Superintendenten lagen die beiden Bände des Domesday-Books und der Umschlag mit der Formel des GMH, den man in Michael Brades Brieftasche gefunden hatte. Inzwischen war Mr. Sampson-Jones vom Innenministerium verständigt worden. Man hatte herausbekommen, dass Leicesters Motorjacht Elysium hieß, und hatte eine genaue Beschreibung an die Küstenwache durchgegeben. Außerdem hatte man Walter Leicesters sogenannten Bunker mit Tops Hilfe gefunden und versuchte nun den geheimen Zugang freizulegen. Gegen neun Uhr vierzig klingelte dann bei Mac in der Redaktion das Telefon. »David!«, rief Mac, als sich der Teilnehmer am anderen Ende gemeldet hatte, und der Duke of Darwynt sprang sofort wie elektrisiert aus seinem Sessel. »David? Ist Elizabeth Masefield bei dir? Hol Sie bitte schnell ans Telefon.« Mac reichte dem Herzog den Hörer, während er alle nötigen Vorbereitungen für das Erscheinen des Exklusivberichts traf, den David in wenigen Minuten telefonisch durchgeben wollte.
Nach dem anstrengenden Gespräch legte David erschöpft den Hörer auf. Um Viertel nach zehn erschien Mr. Sampson-Jones’ Sekretär und holte die versiegelte Aktentasche mit sämtlichen Unterlagen über das Gas GMH ab.
Gegen halb elf verabschiedete sich Top, der noch mit dem Nachtzug nach Cornwall zurückfahren wollte. »Vielleicht macht sich Carol sonst Sorgen«, behauptete er. David, der Mac versprochen hatte, in ungefähr einer halben Stunde mit Elizabeth in die Redaktion zu kommen, erhob sich daraufhin ebenfalls. Er hätte zwar gern noch die Verhaftung Leicesters abgewartet, aber das konnte noch lange dauern. »Ich glaube, wir gehen jetzt lieber«, sagte er zu dem Superintendenten. Der hohe Polizeibeamte bedankte sich überschwenglich für Davids und Elizabeths Hilfe. Die beiden waren schon an der Tür, als das Telefon klingelte. Der Superintendent hob den Hörer ab, hörte einen Moment zu, legte dann auf und sagte: »Sie haben gerade die Stahlplatte vor dem Eingang zum Liftschacht aufgeschweißt, aber von einem Bunker haben unsere Leute nichts finden können.« »Was soll das heißen?« »Sie haben nur Schuttberge entdeckt. Unsere Leute graben jetzt noch nach etwaigen Überlebenden...«
Der Fluss wurde breiter und die Wasseroberfläche plötzlich bewegter. Aus Osten wehte ein scharfer Wind, doch für Walter Leicester bedeutete das alles die Freiheit. Es war alles nicht mehr nach Plan gegangen, denn er musste England ohne seine geliebten Bücher verlassen. Doch er hatte vorsorglich auch in verschiedenen anderen Ländern stattliche Bankkonten eingerichtet und sah einem durchaus angenehmen Leben entgegen. Viele Jahre hindurch hatte Walter Leicester Pläne geschmiedet, auch für den Fall eines Misserfolgs, und während dieser ganzen Zeit hatte er einen kleinen Mikrosender bei sich getragen, mit dem er jederzeit einige in seinem Bunker angebrachte Sprengsätze zur Explosion bringen konnte. Die Entscheidung, den Sender zu bedienen, war ihm sehr schwer gefallen, aber jetzt, da David und
Elizabeth entkommen waren, konnte ihm das Versteck nichts mehr nützen. Leicester hatte mit dieser Tat auch zwei Menschen getötet, doch er hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Mr. Smith wäre, noch bevor er vor Gericht hätte aussagen können, von seinen Freunden umgebracht worden, und Dickie war ein psychisch Kranker, der bis an sein Lebensende in einer Nervenheilanstalt untergebracht worden wäre. Nein, Leicester war sicher, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und Leicester hatte seinen letzten Trumpf ausgespielt, als er für seine Flucht nicht die unter seinem Namen registrierte Motorjacht Elysium benutzte, nach der inzwischen die Küstenwachen Englands und der angrenzenden europäischen Länder fahndeten. Leicester lenkte die schlanke, farbenfrohe Jacht Pandora gutgelaunt aufs offene Meer hinaus. Zwei Tage später fand man einen Teil des ausgebrannten Rumpfes der Elysium in einem alten Dock hinter der Tower Bridge, und Froschmänner suchten eifrig, jedoch erfolglos nach den Leichen des agiers und der Mannschaft.
Nach einer kurzen Begrüßung in Macs Büro in der Redaktion der Daily Post, bei der der Duke of Darwynt David überschwenglich für die Rettung seiner Tochter gedankt hatte, waren sie zu dritt in das Hotel des Herzogs gefahren, wo dieser für Elizabeth bereits ein Zimmer gemietet hatte. Obwohl David todmüde war, ließ er sich dazu überreden, mit Elizabeth und ihrem Vater einen Whisky zu trinken. Elizabeth berichtete dabei ihrem Vater, was in den vergangenen vierundzwanzig Stunden geschehen war. David beobachtete sie schläfrig, und sein einziger Gedanke war, wie wunderschön sie trotz der anstrengenden Stunden, die sie hinter sich hatten, doch war. »So ein seltsamer Zufall«, murmelte der Herzog, als Elizabeth geendet hatte. »Michael Brade... so heißt doch glatt mein Börsenmakler...« David stand auf, um sich zu verabschieden. Er wusste, dass er, wenn er jetzt
nicht ging, augenblicklich in seinem Sessel einschlafen würde.
Es war Mittwochabend, als sie sich alle wiedersahen. Sie saßen in der Halle des Park Lane Hotels, und diesmal war auch Mac anwesend. Elizabeth trug einen Verlobungsring mit einem glitzernden Diamanten, der ihr allerdings viel zu groß war, da David in seinem Eifer vergessen hatte, sie nach ihrer Ringgröße zu fragen. Elizabeth hatte sich erstaunlicherweise für eine Hochzeit in Weiß entschlossen und notierte sich von Zeit zu Zeit Namen von Hochzeitsgästen in ein kleines Büchlein. Die Gästeliste begann mit Carol, Top, Mac und Karl Weissman. »Was habt ihr mit dem Gas eigentlich jetzt noch vor?«, erkundigte sich Mac bei Elizabeth. »Die Forschungsreihe wird vermutlich fortgesetzt. Wir haben die Formel wieder... und außerdem ist es wirklich ein ausgezeichnetes Produkt.« »Ich hab’ was gegen dieses Zeug«, warf David ein. »Damit kann die Privatsphäre eines Menschen in einem unerträglichen Maß beeinträchtigt werden.« »Dann hast du im Lieferwagen also nicht nur mit Leicester Konversation gemacht? Du glaubst das wirklich?« »Natürlich. Es gefällt mir nicht, dass einer einfach mein Gedächtnis für einen bestimmten Zeitraum ausschalten kann, ohne dass ich das selbst will. Es wäre was anderes, wenn man die Wirkung des Gases dahingehend verändern könnte, dass der Betroffene weiß, dass er gleich das Bewusstsein verlieren wird.« »Das könnte man ja versuchen.« Elizabeth nahm ihr Notizbuch und den Bleistift zur Hand. »Aber bitte nicht jetzt!«, rief David lachend. »Warum sind denn die Kommunisten so scharf auf das Gas gewesen, wenn es so harmlos ist?«, erkundigte sich der Herzog.
»Vermutlich nur aus Prestigegründen«, antwortete Mac. »Ihre Wissenschaftler hätten sich dann mit fremden Federn schmücken können.« »Möglich, aber davon abgesehen, hätten sie eine ausgezeichnete politische Waffe in der Hand gehabt«, gab David zu bedenken. »Sie hätten mit Hilfe des Gases problemlos jeden verdächtigen Ausländer durchsuchen oder den Bewusstlosen in kompromittierenden Situationen zu erpresserischen Zwecken fotografieren können.« »Hm«, murmelte der Duke nachdenklich. »Und was ist mit diesem Leicester? Glaubt ihr, dass er entkommen konnte?« »Ja«, erwiderte David prompt. »Und es tut mir nicht mal leid. Leicester ist ein verdammt sympathischer Mann.« »David, wie kannst du nur so was sagen!« entrüstete sich Elizabeth. »Nur weil er einen oberflächlichen Charme hatte!« »Na, na, immer mit der Ruhe, Liz«, unterbrach der Herzog sie beschwichtigend. »Streitet euch doch nicht jetzt schon. Die Ehe... die Ehe ist eine heilige Institution. Offen gestanden überlege ich gerade, ob ich mich noch mal auf dieses Abenteuer einlassen soll.« »Vater!« »Nun, ein Mann sollte aus seinen Fehlern lernen, und da ist dieses reizende Mädchen in Worthing...«
ENDE
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Implerstraße 24 80331 München Deutschland
Texte: Penelope Wallace/Apex-Verlag. Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx. Lektorat: Dr. Birgit Rehberg. Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg. Satz: Apex-Verlag. Übersetzung: Christine Frauendorf (OT: The Sleep-Walking Monkey).
Alle Rechte vorbehalten.
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2021
https://www.bookrix.de/-ko2a6c8e0e72865
ISBN: 978-3-7487-8981-9
BookRix-Edition, Impressumanmerkung Wir freuen uns, dass Du Dich für den Kauf dieses Buches entschieden hast. Komme doch wieder zu BookRix.de um das Buch zu bewerten, Dich mit anderen Lesern auszutauschen oder selbst Autor zu werden.
Wir danken Dir für Deine Unterstützung unserer BookRix-Community.